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BERICHT/002: Emma Goldman - Gelebtes Leben (SB)


Emma Goldman: "Gelebtes Leben" - Eine szenische Lesung oder Anarchismus für's Kaminzimmer



Es gibt Biografien und Lebensentwürfe, die die Erinnerung an eigenes Aufbegehren gegen existierende Verhältnisse berühren und wachrufen. Die Lebensgeschichte von Emma Goldman hat diesen anregenden und gleichermaßen unbequemen Charakter. Laut J. Edgar Hoover war sie "ohne Zweifel eine der gefährlichsten Anarchisten in diesem Land".(1) Von der Staatsmacht verfolgt, verbüßte sie mehrere Haftstrafen, lebte zeitweilig auf der Straße, weil man ihr kein Zimmer vermietete und sie Freunde nicht gefährden wollte. Ihr Name steht für den Kampf gegen Herrschaft und Unterdrückung, für den Streit gegen soziale Verhältnisse, in denen die Masse der Menschen zum Nutzen weniger in Not und Elend gezwungen wird. Er steht auch für Lebensfreude und die Entwicklung einer Utopie und Gesellschaftsform, die es allen Menschen ermöglichen soll, sich ungehindert zu entfalten.

Das Regionalbüro Schleswig-Holstein der Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Freie Arbeiterinnen- und Arbeiterunion (FAU) Kiel haben mit einer Lesereise, die am 7. Oktober im Kommunikationszentrum Hansa48 in Kiel begann, Gelegenheit geboten, der "roten Emma" zu begegnen. Die Schauspielerin und Übersetzerin Marlen Breitinger las aus der Autobiografie von Emma Goldman, die 1931 erstmals in New York unter dem Titel "Living my Life" erschienen war. Eine Lesung, die voller Frauenpower, politischer Kraft und Auseinandersetzung stecken sollte und Bekanntschaft mit einer bemerkenswerten Frau versprach.

Suzanne Vogel-Vitzthum und Marlen Breitinger blättern in Emma Goldmans Autobiografie - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kurze Verständigung vor der Lesung
Suzanne Vogel-Vitzthum (li.), Marlen Breitinger (re.)
Foto: © 2012 by Schattenblick

Nach einer kurzen Einführung von Seiten der Veranstalter betrat Emma Goldman alias Marlen Breitinger die kleine Bühne in einem blass-blau-grauen Wollkostüm. Der lange Rock fiel über die Schuhspitzen und endete hoch über der Taille in einem breiten Bund, der die Einschränkungen eines Korsetts ahnen ließ und nahelegte, dass die Schauspielerin in diesem Kostüm sprichwörtlich vergangene Zeit atmete. Die 944 Seiten starke Autobiografie - das "Gelebte Leben" der Emma Goldman, bei Edition Nautilus verlegt - lag auf einem kleinen Tisch vor ihr.

Emma Goldman wurde 1869 in Kowno im heutigen Litauen als Tochter jüdischer Eltern geboren. Mit 17 Jahren verlässt sie Elternhaus und Geburtsland und wandert in die USA aus. Dort lernt sie in Rochester das harte, entbehrungsreiche Leben als Fabrikarbeiterin kennen und verdient ihren Lebensunterhalt als Korsettmacherin. Zu dieser Zeit kämpfen die amerikanischen Arbeiter um den 8-Stunden-Tag. Ihr Protest im Mai 1886 auf dem Haymarket in Chicago und seine Folgen prägen Emma Goldman. Die Anarchistin engagiert sich fortan für die Rechte der Arbeiter. Sie ist eine begabte Rednerin und Agitatorin, die imstande ist, die Massen zu begeistern und zu mobilisieren. Die Passage aus ihrer Autobiografie, die von einer Großveranstaltung auf dem Union Square in New York berichtet, gehört zu den eindrücklichsten und schauspielerisch stärksten der Lesung. Marlen Breitinger hält Emma Goldmans Rede wie sie mit unverstärkter, kraftvoller Stimme:

Männer und Frauen, merkt ihr nicht, dass der Staat euer schlimmster Feind ist? Er ist die Unterdrückungsmaschine, der die herrschende Klasse, euern Herrn, aufrechterhält. Wie kleine Kinder vertraut ihr euren Politikern, sie schleichen sich in euer Vertrauen, nur um euch bei der nächstbesten Gelegenheit zu betrügen. Doch auch wenn die Gewerkschaftsführer euch nicht direkt hintergehen, so machen sie doch gemeinsame Sache mit euern Feinden, sie halten euch an der Leine und verhindern, dass ihr handelt. Der Staat ist der Pfeiler des Kapitalismus und es ist lächerlich, irgendeine Hilfe von ihm zu erwarten.
(2)
Marlen Breitinger am Lesepult auf der Bühne - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die 'rote Emma' in Aktion
Foto: © 2012 by Schattenblick

Nach dieser Rede liest Emma Goldman in den Nachmittagszeitungen, sie habe die Menge zur Revolution angestiftet. "Die 'rote Emma' kann alles nach ihrer Pfeife tanzen lassen, meinten sie. Der unwissende Mob braucht gerade ihre ätzende Zunge, um ganz New York niederzureißen."(2) Wegen ihrer Reden und Taten sieht sie sich immer wieder staatlichen Repressionen gegenüber. Sie wird verfolgt, mehrfach ins Gefängnis geworfen. Als Anarchistin stand sie unter Generalverdacht, Mord, Gewalt und Zerstörung voranzutreiben. Bis heute ist diese einfache Verknappung des Anarchismusbegriffs ebenso weit verbreitet wie unzutreffend. Emma Goldman hat schon vor 100 Jahren Widerspruch erhoben und sich bemüht, den Anarchismus als Methode, als politisches Prinzip zu erläutern. 1911 etwa verfasste sie den Text "Der Anarchismus und seine wirkliche Bedeutung".

Jemand hat gesagt, dass Verdammen weniger geistige Anstrengung erfordert als Denken. Die weitverbreitete, in der Gesellschaft vorherrschende geistige Trägheit beweist das nur zu genau. Lieber, als einer gegebenen Idee auf den Grund zu gehen, ihren Ursprung und ihre Bedeutung zu untersuchen, werden die meisten sie entweder verurteilen oder sich auf einige oberflächliche und voreingenommene Begriffsbestimmungen von Unmaßgeblichen stützen. Der Anarchismus spornt den Menschen dazu an, jede Behauptung zu durchdenken, zu untersuchen und zu analysieren.
(3)

Diesem Prinzip folgt Emma Goldman konsequent. So konsequent, dass aus manch einer Freundin und manch einem Genossen feindselige Kritiker wurden. Marlen Breitinger hat einen Abschnitt aus Emma Goldmans Buch ausgewählt, der sie als Frauenrechtlerin in Szene setzt und zeigt, wie wenig sie bereit war, sich irgendeiner vorgegebenen Position unterzuordnen oder ihr fraglos zu entsprechen. Emma Goldman erinnert sich daran, wie sie einmal über die Unmenschlichkeit von Frauen Männern gegenüber gesprochen und in ihrer Rede die Rolle von Müttern, Schwestern, Lehrerinnen und Ehefrauen, sowie deren Beteiligung am beklagten männlichen Verhalten, untersucht hat:

'Die Unberechenbarkeit meines Geschlechts lässt den armen Mann zwischen Abgott und Teufelsbrut, Liebling und Bestie, hilflosem Kind und Eroberer der Welten hin- und herschwanken. Wenn sie gelernt hat, so selbstbewusst und entschlossen zu sein wie er, wenn sie den Mut hat, sich in das Leben zu stürzen wie er und den Preis dafür bezahlt, wird sie ihre Befreiung beenden und auch ihm so ganz nebenbei helfen frei zu werden.' Nach diesen Ausführungen erhoben sich meine weiblichen Zuhörer und riefen: 'Du Verräterin, Du bist keine von uns!'
(2)

Emma Goldman versteht sich als Verteidigerin aller Unterdrückten. Sie läuft Sturm gegen Ungerechtigkeit, ohne ein Mittel des Kampfes auszuschließen. Die Arbeiter in den USA litten Not, standen unter der Knute der Fabrikbesitzer und unter dem Knüppel der Staatsmacht. Ein Beispiel für die Herrschaftsverhältnisse dieser Zeit ist der Homestead-Streik 1892. Der Stahlindustrielle Frick sperrte seine Arbeiter aus, um Lohnverhandlungen zu vermeiden, vertrieb die Arbeiterfamilien aus ihren Häusern und ließ auf sie schießen. Alexander Berkman, der Freund und lebenslange politische Weggefährte Emma Goldmans, fand nur eine Antwort darauf. Er griff zur Waffe und richtete sie gegen den Industriellen Frick. Emma Goldman war Mitwisserin, ihr dachte er als Unterstützerin eine spezielle Rolle zu:

Ich wäre die geborene Rednerin, die Propagandistin, sagte er. Ich könnte viel zu seiner Tat beitragen. Ich könnte den Arbeitern die Bedeutung erklären, ich könnte klar machen, dass er keinen persönlichen Hass gegen Frick hätte, dass Frick ihm als Mensch genauso viel bedeutete wie jeder andere. Frick war das Symbol des Reichtums und der Macht, der Ungerechtigkeit und des Übels der Kapitalistenklasse. Aber er war auch persönlich verantwortlich für das vergossene Blut der Arbeiter.
(2)

Diesen Auftrag nimmt Emma Goldman ernst. In ihrem Text "Was ich denke" äußert sie sich zu Gewalttaten und nimmt auch Bezug auf das Attentat, das Alexander Berkman für 14 Jahre ins Gefängnis brachte:

Er empfand ganz einfach ein tiefes Mitgefühl für die elf Streikenden, die von Pinkertons erschossen wurden, und für die Witwen und Waisen, die von Frick aus ihren erbärmlichen Hütten, die sich im Besitz von Mr. Carnegie befanden, gejagt wurden.
(...)
Wenn ich die wirkliche Natur unserer sozialen Erkrankung diagnostiziere, dann kann ich nicht jene verurteilen, die unschuldig an einer weit verbreiteten Krankheit leiden.
(4)

Der Hinweis von Marlen Breitinger während der Lesung, Emma Goldman habe ihre Position bezogen auf Gewalttaten später geändert und sei Pazifistin geworden, wirkt in diesem Kontext nicht sehr schlüssig. Möglicherweise gab es im Grundverständnis von Emma Goldman keine Notwendigkeit für eine Korrektur:

Ich glaube nicht, dass diese Taten die soziale Umwälzung herbeiführen können, oder dass sie auch nur je in dieser Absicht erfolgten. Dies kann nur durch eine weite und breite Erziehung erzielt werden, in Bezug auf den Platz des Menschen in der Gesellschaft und seine echte Beziehung zu seinen Mitmenschen, und zweitens durch das Beispiel. Unter Beispiel verstehe ich, erkannte Wahrheiten auch wirklich zu leben, und nicht nur über deren lebendigen Inhalt zu theoretisieren.
(4)
Marlen Breitinger auf der Bühne - Foto: © 2012 by Schattenblick

Ein Leben auf die Bühne gebracht
Foto: © 2012 by Schattenblick

1919 hat Emma Goldman sich gegen Krieg und Militarismus ausgesprochen. Als Internationalistin konnte sie nicht zulassen, dass sich Amerika in den Krieg einschaltet und gegen die Genossen in Rußland zu Felde zieht. Einmal mehr hat dieser Widerstand Folgen. Sie wird - mit vielen anderen Anarchisten - aus den USA ausgewiesen. Gemeinsam mit Alexander Berkman erreicht sie Rußland und erlebt das aus der Ferne gelobte Land der Oktoberrevolution als Enttäuschung.

Die Knebelung der Redefreiheit bei der Sitzung des Petro-Sowjet, die wir besucht hatten, die Entdeckung, dass man Parteimitgliedern im Speisesaal des Smolny besseres und reichhaltigeres Essen servierte, und viele andere Ungerechtigkeiten und Übel hatten meine Aufmerksamkeit erregt. Modellschulen, in denen die Kinder mit Süßigkeiten und Bonbons vollgestopft wurden, und gleich nebenan trübe, armselig ausgestattete, unbeheizte und verlauste Schulen, wo die allzeit hungrigen Kleinen wie Vieh zusammengepfercht wurden. Ein besonderes Krankenhaus für Kommunisten mit allem modernen Komfort, während in anderen Institutionen die einfachsten medizinischen und chirurgischen Einrichtungen fehlten. 34 verschiedene Abstufungen in den Rationen, in einer Gesellschaft, die sich kommunistisch nannte. Während einige Märkte und privilegierte Läden ein lebhaftes Geschäft mit Butter, Eiern, Käse und Fleisch trieben. Die Arbeiter und ihre Frauen standen stundenlang in endlosen Schlangen für ihre Rationen an.
(2)

Emma Goldman, das wird durch die Auswahl der gelesenen Passagen deutlich, verabschiedet sich nicht von ihrem Ideal, das sie mit den Begriffen Revolution und Kommunismus verknüpft hat. Sie spricht mit vielen Genossen, trifft selbst Lenin und hört doch immer die gleichen Argumente: Die äußeren Umstände, die Wirtschaftsblockade, die kriegerischen Auseinandersetzungen - all das verhindere, dass sich der Kommunismus vollkommen entfalten könne. Eine Antwort, mit der Emma Goldman nicht leben konnte und wollte. Sie verlässt Rußland gemeinsam mit Alexander Berkman.

Im Zug, 1. Dezember 1921: Meine Träume zerstört. Mein Glaube gebrochen. Mein Herz ein Stein. Matuschka Russia, Mütterchen Rußland, blutend aus tausend Wunden, ihre Erde bedeckt mit Toten. Ich klammerte mich an den Griff der vereisten Fensterscheibe, biss die Zähne zusammen und unterdrückte mein Schluchzen.
(2)

Marlen Breitinger beendet mit dieser Szene ihre Lesung, ergänzt einige biografische Fakten, unter anderem, dass Emma Goldman sich mit fast 60 Jahren auf Bitten der Genossen im Spanischen Bürgerkrieg engagiert hat. Bis an ihr Lebensende ist sie unermüdlich unterwegs, hält Vorträge und Reden. Auf einer Vortragsreise durch Kanada stirbt Emma Goldman 1940 nach einem Schlaganfall.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Am Ende Leere - auf der Bühne und im Zuschauerraum
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Lesung ist gelungen, der Veranstaltungsraum leert sich schnell und ohne weitere Diskussion oder Einwände. Mag sein, die Auseinandersetzung mit Emma Goldman und ihrem politischen Handeln findet an anderer Stelle statt, weil die eigene Unzufriedenheit angesprochen ist. Möglich ist aber auch, dass dieser Nachmittag vor allem das Gefühl zu verbreiten vermochte, sich aus unterhaltsamer Distanz mit spannender Historie beschäftigt zu haben. Fragen bleiben, z. B. die, ob man die Heldin als vergangen ausgemachter Kämpfe gegen erdrückende Verhältnisse - auf's Podest gehoben - damit in noch weitere Ferne rückt, sie Deutungen und Vereinnahmungen aussetzt, die eher dem eigenen als ihrem Selbstverständnis entgegenkommen, damit das eigene Arrangement mit den herrschenden Verhältnissen doch noch einen kleinen Anstrich revolutionärer Absichten ermöglicht.

Emma Goldman ist heute - liest man die begeisterten Kommentare - salonfähig geworden: "... in ihre Autobiografie einzutauchen ist herrlich inspirierend." (Brigitte). "Ihre lebendig erzählte Autobiografie zeigt sie als Pionierin moderner Lebensformen." (Die Presse). Das Buch hat es auf die Bestsellerlisten geschafft, ist mit Empfehlungen von Süddeutscher Zeitung und NDR kurz nach seiner Neuauflage vor zwei Jahren auf den umkämpften Buchmarkt begleitet worden. Goldman löst keine Kontroversen mehr aus, Anarchismus wird auf beliebige Weise interpretiert, fehlgedeutet und missverstanden. Möglicherweise hat sie diesen Effekt sogar mitbegründet, als sie ihr Leben und Kämpfen in leicht verständlicher Sprache und mit offensichtlicher Erzähllust für ihre Mitmenschen und die Nachwelt verdaulich aufbereitet und zum Konsum freigegeben hat.

Marlen Breitinger ist inzwischen wieder sie selbst. Die Schauspielerin hat Kostüm und Rolle abgelegt und ist bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten. Mit Emma Goldman und ihren politischen Ansichten und Überzeugungen ist die 60jährige in doppelter Weise vertraut: als Übersetzerin und als Schauspielerin, die ihr eine Stimme gibt.

Marlen Breitinger im Porträt - Foto: © 2012 by Schattenblick

Theaterfrau Marlen Breitinger
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Frau Breitinger, wie sind Sie in den 70er Jahren zu dieser Übersetzungsarbeit gekommen?

MB: In den 70ern gab es den Verband Linker Buchhändler (VLB), und während des Studiums in Göttingen waren wir alle im Buchladen Rote Straße. Wir haben wie die Verrückten gelesen und kannten auch den Karin Kramer Verlag. Die suchten jemanden für die Übersetzung und haben angefragt. Renate Orywa hat den Auftrag angenommen und mit Sabine Vetter waren wir dann zu dritt.

SB: Hatten Sie eine Vorstellung von dieser Person, wussten Sie, wen Sie übersetzen?

MB: Nein. Wir waren nicht bei den Kommunisten, den Trotzkisten oder den Maoisten - in den 70er Jahren gab es eine Vielfalt solcher Gruppierungen. Nein, man war bei den Spontis. Wir lasen die ersten anarchistischen Bücher überhaupt, so etwas kam ja in der Schule nicht vor.

SB: Wie haben Sie sich angenähert, als Sie anfingen, diese Frau zu übersetzen? War das schnell eine Art Faszination oder erstmal einfach eine Transferleistung von einer Sprache in eine andere?

MB: Ich muss sagen, im Nachhinein hat mich Emma sehr geprägt. Dass wir damals diese Übersetzung gemacht haben, hat Vieles in Gang gebracht. Sie propagiert, selber nachzudenken, sich selber zu vergewissern und nicht immer das zu glauben, was einem alles erzählt wird. Oder auch den eigenen Überzeugungen zu folgen und nicht deswegen ein bürgerliches Leben zu führen, weil man dann versorgt ist, sondern die Geschicke in die eigene Hand zu nehmen. Als wir uns in diese Übersetzung gestürzt haben, hatten wir keine Ahnung. Wir haben nicht alle erstmal die zwei dicken englischen Bände gelesen, sondern gleich die Kapitel verteilt und sind dann nach und nach eingestiegen. Wir mussten uns alles erarbeiten, denn wir wussten nichts von der amerikanischen Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts.

SB: Sie sagen, Emma Goldman hat Sie im Nachhinein betrachtet geprägt, können Sie das mit einem Beispiel aus dem eigenen Leben illustrieren?

MB: Ich habe mein Studium nicht abgeschlossen und bin zum Freien Theater gegangen, in eine große Kommune, ins Kollektiv. Da habe ich auch mein Arbeitsleben verbracht, 33 Jahre sind das jetzt. Ich habe nie bereut, keine bürgerliche Karriere gemacht zu haben. Gut, man hat vielleicht nicht furchtbar viel Geld verdient, aber ich habe sehr vieles gemacht, was ich unter anderen Umständen nicht hätte machen können.

SB: Als die Neuauflage der Autobiografie von Emma Goldman zur Diskussion stand, haben Sie sich erneut engagiert. Warum?

MB: Weil sie aktuell ist. Man sagt 1918, nach dem Ende des 1. Weltkriegs, setzt ein neues Zeitalter an. Die Monarchien sind durch, die Diktaturen kommen, der Sozialismus gruppiert sich. In diesem kurzen Zeitraum wird die ganze Moderne schon vorweggenommen, auch in der Kunst. In den 70ern entdeckten wir die Freie Liebe wieder, bei Emma Goldman liegt sie schon vollkommen auf dem Tisch. Die Frauenemanzipation war für uns durch ein Tal von 30, 40 Jahren gegangen, die Nazis hatten die Frauen von den Unis vertrieben und alles wieder zurückgenommen. Langsam, langsam kamen für uns die Themen wieder, die es alle schon einmal gegeben hatte.

Marlen Breitinger als Emma Goldman vor dem Plakat der Edition Nautilus - Foto: © 2012 by Schattenblick

Lesereise vereint für Marlen Breitinger Interesse und Gelderwerb
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, mit der Emma auf Lesereise zu gehen?

MB: Mein Beruf ist Schauspielerin und ich hatte gerade etwas freie Zeit. Als ich hörte, dass Nautilus Emma nochmal verlegen will, habe ich ihnen angeboten, eine Lesung zu machen und das Buch zu begleiten. Ich lese oft in Buchhandlungen, manchmal in Theatern oder auch im Jugendzentrum. Die FAU in der Schweiz hat mich eingeladen und ich habe daraufhin fünf Lesungen in Zürich und Bern gemacht.

SB: Wie nah sind Sie dieser Person Emma Goldman inzwischen durch Ihre Arbeit gekommen?

MB: Zwischen unserer Übersetzung und heute ist ein Werk von Candace Falk (5) erschienen, einer Amerikanerin, die in den 80er Jahren auf einem Dachboden in Chicago zwei Kartons mit den Liebesbriefen zwischen Emma und Ben - das war die große Liebe ihres Lebens - entdeckt hat. Candace Falk hat eine Biografie über Emma geschrieben, die es zu unserer Zeit noch nicht gab. Dazu muss man wissen, dass Emma in ihrer Autobiografie auch beschönigt und weggelassen hat. Sie schreibt selber in ihrem Vorwort, dass sie 1927 kein Material hatte, weil alles von den Amis beschlagnahmt oder durch Flucht verloren gegangen war. Sie hat sich dann an mehrere Archive gewandt und alle ihre Freunde gebeten, die Briefe zurückzuschicken, die sie ihnen geschrieben hatte, um klar zu bekommen, was in den verschiedenen Jahren passiert war. Es gibt Auslassungen und Löcher, die in der Biografie von Frau Falk sehr gut aufgearbeitet wurden. Darüber hinaus bin ich noch einmal mehr in die amerikanische Arbeitergeschichte eingestiegen.

SB: Wie sehr decken sich die Positionen der Emma inzwischen mit Ihren persönlichen Erfahrungen? Wie gehen Sie als Schauspielerin mit ihr um?

MB: Ich habe durchaus versucht, mich ihr schauspielerisch anzunähern. Sie war keine charmante Person. Ich glaube, dass Emma zwischendurch auch schier unerträglich sein konnte und politisch auf eine Weise durchgezogen hat, wie es mir nicht in den Sinn kommen würde. Wie man auf dem Titelbild der Biografie sieht, hat sie unverstärkt vor riesigen Menschenmengen gesprochen. Im Internet gibt es sogar einen Film, in dem ihre Stimme zu hören ist. Sie hatte eine sehr schöne Stimme und muss wirklich Power gehabt haben. An ihrem geschriebenen Englisch ist mir aufgefallen, dass sie in gewisser Hinsicht noch immer europäisch dachte. Das alles sind Versuche, mich ihr anzunähern. Ich lese auch absichtlich in diesem Kostüm, damit der Zuschauer es so wahrnimmt. Für mich als Schauspielerin bedeutet das zusammengefasst: Ich muss die Figur, die ich darzustellen habe, lieben, um das zu können. Aber ich muss nicht so sein wie sie.

SB: Und die politischen Positionen, sind das Ihre?

MB: Zu Teilen: In die Hufe zu kommen und nicht abzuwarten, und nicht einfach nur wählen zu gehen und zu sagen, jetzt habe ich meine staatsbürgerliche Pflicht erfüllt, das entspricht mir. Ich selber bin seit 15 Jahren in Projekten, die sich mit Solarkochern beschäftigen und bin damit in Afrika gewesen. Inzwischen haben wir eine Firma, weil die Kocher sich so gut verkaufen. Ich versuche, mich zu engagieren und nicht alles so zu lassen, wie es ist.

SB: Was hat von dem, was die "rote Emma" schon vor 100 Jahren vertreten hat, heute noch Relevanz?

MB: Die Frage, die sie mit der Freien Liebe angestoßen hat, dieses ungeklärte Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Emma war in dieser Hinsicht äußerst offen für ihre Zeit. Ihre Grundhaltung ist mir wichtig. Sie hat ihre Meinung im Laufe ihres Lebens durchaus geändert oder ändern müssen. Das hat sie sich immer erlaubt. Am Anfang war sie eine Radikale, deswegen habe ich auch diese Stelle zum Thema 'der Zweck heiligt die Mittel' gebracht: 'Lass uns ihn abknallen!'. Emma dachte, es reicht ein Anstoß und dann kommt die Revolution. 15 Jahre später ist sie als Pazifistin gegen den Krieg. Mit 50 zweifelt sie an der Revolution. Das, wofür sie ihr Leben lang gekämpft hatte, war nicht so, wie sie sich vorgestellt hatte. Es ist tragisch im Nachhinein.

Marlen Breitinger in der Garderobe - Foto: © 2012 by Schattenblick

Nachdenklichkeit über Emma als gegenwärtige Begleiterin
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Emma Goldman kritisiert als Anarchistin jegliche Art von Herrschaft, zum Beispiel hat sie geschrieben, dass "Regierung, organisierte Autorität und Staat nur dazu dienen, Eigentum und Monopol aufrechtzuerhalten und zu schützen". Wenn man das heute hört, kann man - angesichts von Euro-Krise und den entsprechenden Rettungsversuchen - den Eindruck gewinnen: Das ist brandaktuell. Wie reagiert Ihr Publikum? Wird Ihre Lesung auch mal in einer aktuell politischen Diskussion fortgesetzt?

MB: Nicht konkret. Ich glaube schon, dass es etwas anstößt in den Köpfen. Aber es gibt ja nicht so wahnsinnig viele Leute, die das gut formulieren könnten in Bezug auf einen solchen konkreten politischen Kontext und das dann diskutieren. Wenn man anfängt, sich für den Anarchismusbegriff jenseits dieser Haltung 'Anarchismus ist Chaos' zu interessieren, die verschiedenen Fraktionen sieht und die Anarchisten, die sich selber nie als eine hermetische Gruppierung betrachtet haben, dann glaube ich schon, dass es Gedanken darüber gibt. Ich meine den Anarchosyndikalismus oder die sich gerade bildenden Energiegenossenschaften beispielsweise. Die Genossenschaft ist etwas im Sinne des Anarchismus, jedes selbstverwaltete Jugendzentrum trägt Gedanken davon in sich, wie auch die ganzen gemeinnützigen Arbeiten und die vielen Menschen, die für Ideen arbeiten. Es gibt kein Programm für alle. Das wäre aus Sicht der Anarchisten auch nicht wünschenswert.

SB: Nach Ihrer Kenntnis und Erfahrung, was denken Sie, an welcher Front oder in welchem Land würde Emma Goldman heute kämpfen?

MB: Das weiß ich nicht. Aber ich habe einen Vergleich: Vandana Shiva, die indische Physikerin, die einzige, die sich traut, gegen Monsanto vorzugehen und deren Leben bedroht ist. Sie kämpft dagegen, dass unser Saatgut von einer Firma monopolisiert wird und dass wir kein eigenes Saatgut mehr haben. Sie will Wasser als Gemeingut schützen, das uns allen gehört. Wenn ich mir also überlege, wer heute Emma wäre, dann ist das für mich Vandana Shiva, ganz klar. Ich glaube, Emma wäre bei den Ökos. Bei den Grünen wäre sie wahrscheinlich nicht mehr. Nein, sie wäre eine Anarchistin, wobei man heute nicht genau weiß, wo sie sind. Ich kenne jemanden, der sich nicht als Anarchist zu erkennen gibt, weil er nicht will, dass eine Klappe runtergeht. So ähnlich geht es mir auch, man steckt dann in einer Schublade. Auf jeden Fall ist es schön, wenn die Leute sich in verschiedenen Konstellationen zusammentun und gemeinsame Projekte versuchen voranzutreiben. Ob sie nun FAU heißen oder Die Linke oder Die Grünen oder sonstwie. Es ist ja im Grunde egal, wer es macht. Hauptsache, es passiert was.

SB: Vielen Dank für das Gespräch, Frau Breitinger.

Vor dem Eingang zum Hansa48 - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kommunikationszentrum Hansa48
Foto: © 2012 by Schattenblick


Fußnoten:

(1) http://www.edition-nautilus.de/programm/biografien/buch-978-3-89401-731-6.html

(2) Aus der Lesung, 7.10.2012
Emma Goldman: Gelebtes Leben - Autobiografie. Überarbeitete Neuausgabe. Aus dem Englischen übersetzt von Marlen Breitinger, Renate Orywa und Sabine Vetter. Großformat, 944 Seiten, 34,90 Euro. ISBN 978-3-89401-731-6

(3) http://www.marxists.org/deutsch/referenz/goldman/1911/aufsaetze/anarchismus.htm
Amerikanische Erstveröffentlichung: New York 1911. Aus: Emma Goldman, Anarchism and other essays, New York 1969, pp. 47-67. Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von einem Übersetzer(innen)kollektiv. Libertad Verlag Berlin 1983, anarchistische texte 11

(4) http://www.marxists.org/deutsch/referenz/goldman/19xx/xx/denke.htm
Aus: Emma Goldman - Widerstand (Deutsche Erstübersetzungen / Anarchistische Vereinigung Norddeutschland)

(5) Candace Serena Falk: Love, Anarchy, and Emma Goldman - A Biography, 1984, Erstveröffentlichung: Holt, Rinehart and Winston, 1984. Spätere Ausgaben: Rutgers University Press, 1990, 1999


29. Oktober 2012