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BUCHBESPRECHUNG/054: M. t' Haart - Das Wüten der ganzen Welt (Krimi) (SB)


Maarten 't Haart


Das Wüten der ganzen Welt



Ein einziger Mord auf 420 Seiten, und dann ihm wird das Geheimnis noch nicht mal entrissen - den vorliegenden Roman lediglich als Krimi zu bezeichnen, würde ihm wirklich nicht gerecht. Die Geschichte beginnt am 14. Mai 1940, als drei jüdische Ehepaare und eine Engländerin mit einem Fischkutter von den Niederlanden nach England fliehen, aber von den Deutschen aufgebracht werden. Ihre "Majuba" wird von dem U-Boot versenkt, und die Flüchtlinge sowie die Besatzung müssen wieder nach Hoek zurückrudern.

Zwölf Jahre danach. Der Ich-Erzähler, Alex Goudveyl, Sohn eines aus Rotterdam zugereisten Lumpenhändlers, ist bei seinen Klassenkameraden im Leidener Stadtteil Hoofd nicht ein bißchen wohlgelitten. Der Schulweg ist stets eine Tortur, und als sie den zugereisten "gassie" eines Tages ertränken wollen, muß im letzten Augenblick der Polizist Juut Vroombout einschreiten. Jener Vroombout, der ebenfalls zu den gescheiterten Flüchtlingen zählte. Er sei im Krieg ein Verräter gewesen, wird ihm nachgesagt, und außerdem munkeln zumindest die Kinder, daß er gerne mit kleinen Jungens spielt. Nach der Rettung teilt Goudveyl eine Phase seines Lebenswegs mit dem Polizisten, und zwar bis zu dem Tag, als Vroombout in seinem Beisein erschossen wird.

Der Ich-Erzähler spielt gerade auf einem alten Blüchner in der Lagerhalle seines Vater, während draußen eine Evangelisationskampagne veranstaltet wird. Es ging um nicht weniger als die Rettung von 458 Seelen, die weder den Reformierten, den Evangelischen noch den Papisten und auch nicht den Christlich-Reformierten, Apostolischen oder irgendeiner anderen des bunten Religionsgemischs angehören. Während also draußen Bruder Everaats im Regen auf einer Obstkiste steht und lauthals die frohe Botschaft verkündet und gleichzeitig einige freche Jungs den anstehenden Jahreswechsel vorzeitig mit Knallfröschen einleiten, begleitet drinnen, bei offenstehendem Tor - damit die Versammelten die Musik hören - der junge Alex die Lieder auf dem Klavier.

Von hinten nähert sich Vroombout, es fällt ein lauter Schuß, aber der Junge unterbricht sein Spiel nicht. Er dreht sich nur um und sieht einen großen Mann mit Schlapphut und langem Mantel im Eingang stehen, der sich gerade einen Schal vor das Gesicht hält, um nicht erkannt zu werden. Zugleich hebt er seinen Arm in Alex' Richtung, als ob er auch ihn erschießen wolle.

Dieses erschütternde Erlebnis läßt den Ich-Erzähler zeit seines Lebens nicht mehr los. Er hat Angst, daß der Mörder, der nicht gefunden wird, eines Tages ihm auflauert. Deshalb forscht der Junge auf seine Weise weiter. Vroombout war also einer der sieben auf dem Flüchtlingsschiff - war hier das Motiv für den Mord zu suchen? Nach und nach kommt Alex Goudevyl mit den verschiedenen Flüchtlingen von 1940 in Kontakt oder erfährt über deren Leben. Dabei schildert der Autor manchmal mit einem Anflug von Humor, der jedoch immer eine zynische Not enthält - vor allem wenn die Menschen mit ihren engen Vorstellungen in der Miefigkeit der niederländischen Kleinstadt beschrieben werden -, wie der Heranwachsende seine erste Bekanntschaft mit dem anderen Geschlecht macht, wie er sich zum Pharmazie-Studium entschließt, um dem Wehrdienst zu entgehen, und von zu Hause auszieht, aber all die Jahre niemals seine eigentliche Leidenschaft aufgibt: das Klavierspielen.

Der Roman enthält sehr viele Bezüge zur klassischen Musik - in einem kleinen Brevier am Ende des Buchs werden alle erwähnten Stücke aufgelistet -, und aus der Musik stammt auch der Titel "Das Wüten der ganzen Welt", eine Textzeile aus Gabriel Faurés Premier recueil der "Mélodies". Auch für Leser, die nicht in der Klassik bewandert sind, bereichern die immer wieder eingestreuten Hinweise auf bestimmte Kompositionen von Bach, Bruckner, Brahms und anderen das Lesevergnügen, unterstützen sie doch die jeweils beschriebene Stimmung des Erzählers. Oft ist diese von tiefster Melancholie geprägt, beispielsweise als er Gott auffordert, ihn endlich umzubringen, wie er es ja offensichtlich schon damals in der Lagerhalle vorgehabt habe. Hier ein kurzer Auszug:

Gott, ich bin hier auf dem Weg, und auch wenn es keine Herberge ist, das braucht kein Hindernis für dich zu sein, mich zu beseitigen. Wenn du mich zu töten suchst, dann bin ich bereit. Einst träumte ich davon, ein großer Komponist zu werden, aber als Mozart und Schubert so alt waren wie ich jetzt, hatten sie schon Dutzende von Meisterwerken geschrieben. Und Bach war fünfzehn, als er aus der Melodie von 'O Gott, du frommer Gott' dieses Wunderwerk hervorzauberte. Und er war ebenso alt wie ich jetzt, als er den Chor aus der 'Ratswahlkantate' komponierte. Nie werde ich an einen dieser drei heranreichen, niemals auch nur in ihrem Schatten stehen können. Warum also sollte ich noch weiterleben? (S. 360/361)

Typische Elemente des Kriminalromans setzt Maarten t' Haart nur dann ein, wenn der Ich-Erzähler Menschen aus dem näheren Lebensumfeld wie seine Klavierlehrerin, die ebenfalls auf dem Kutter flüchten wollte und später schwer an einem Geheimnis zu tragen schien, oder den Apotheker Minderhout, der auf seinem Dachboden einen Hut, Schal und Mantel hängen hat, wie ihn auch der Mörder trug, befragt. Wesentlich mehr Einfluß auf die Stimmung des gesamten Romans haben jedoch die treffenden Beobachtungen und Charakterisierungen von Menschen aus der Sicht des Ich-Erzählers. Ganz vorne rangiert sein überaus geiziger Vater. Der pflegte sich nach dem Essen häufig zärtlich den Bauch zu streichen und mit zufriedenem Seufzer "Bäuchlein, Bäuchlein, was hast du es wieder gut gehabt!" auszustoßen. Und wenn sein Blick auf zwei Särge im Lagerhaus fiel, dann erzählte er stolz, daß er sie nach dem Krieg für "einen Pappenstiel" erstanden und sie für sich und seine Frau vorgesehen habe.

An Sparsamkeit ist noch nie jemand arm geworden, war ein Lieblingsspruch seines Vater, woraufhin seine Mutter meist ergänzte, daß man an dem Geld, das man ausgibt, nur einmal seine Freude habe. Mit billiger Blutwurst, Griebenschmalz und Stippgrütze auf dem Teller sowie in umgenähten Lumpen aufgewachsen, blieb der Sohn seinen Eltern gegenüber stets still und verschlossen, ohne deswegen sonderlich aufzufallen. Es waren offensichtlich zwei verschiedene Welten, die der Kriegsgeneration in einer von den "Moffen" besetzten Niederlande, und die der Nachkriegsgeneration, die in Armut aufwuchs, aber die mit den Werten ihrer Eltern nichts mehr anzufangen wußte. Dabei unterschied sich das Leben in einer niederländischen Kleinstadt nur unwesentlich von dem in einem deutschen Pendant.

Maarten 't Hart, ehemaliger Biologe und Dozent für Verhaltensforschung an der Rijksuniversiteit Leiden, 1944 in Maasluis geboren, weiß offensichtlich, wovon er schreibt. Meist sind es Kleinigkeiten in den Gesten, der Kleidung oder im Auftreten von Personen, die einem Leser, dem dieser kleinbürgerliche Muff und die Frömmelei vertraut sind, bekannt vorkommen. Auch der Auszug aus dem Elternhaus mit dem Studium in einer anderen Stadt erinnern an die Lebensläufe vieler Studenten hierzulande, die einst mit dem Anspruch angetreten waren, alles anders machen zu wollen als die Eltern, um sich dann die Hörner abzustoßen und genau das gleiche zu tun, was sie ursprünglich einmal abgelehnt hatten.

Auch der Ich-Erzähler muß erkennen, nachdem seine Eltern gestorben sind, daß er die verabscheute Sparsamkeit seines Vaters selbst angenommen hat. Sein Leben verläuft in Bahnen, die sich nicht wesentlich von denen seiner Eltern unterscheiden. Alex Goudevyl lernt beim Musizieren die Tochter eines Dirigenten kennen, den er für den Mörder Vroombouts hält, und heiratet sie. Als er viele Jahre später seinen Schwiegervater erstmals kennenlernt, kommt es zwischen ihnen zur Aussprache, und dabei erfährt der Leser, wer der Mörder ... nicht gewesen ist.


Maarten 't Haart
Das Wüten der ganzen Welt
Arche Verlag, 3. Aufl., Zürich-Hamburg 1997