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REZENSION/009: James Hilton - Der verlorene Horizont (Fantasy) (SB)


James Hilton


Der verlorene Horizont



Mit seinem 1933 erstmalig erschienenen Roman "Der verlorene Horizont" hat der Brite James Hilton zumindest erreicht, das Synonym für ein abgeschiedenes Paradies auf Erden in der englischen Sprache fest zu verankern - Shangri-La. Das millionenfach verkaufte Buch und die entsprechend erfolgreiche Verfilmung mit Peter Finch, Liv Ullman und Charles Boyer trafen mit der Schilderung eines beinahe idealen Refugiums aus dem Chaos des Weltengetriebes nicht nur den Geist der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, dieser Traum ist heute begründeter und unmöglicher als je zuvor. Die Konjunktur der nach dem Niedergang konkreter sozialer Utopien entstandenen Rückzugsorte der phantastischen Literatur und das im Zuge der Buddhismuswelle erwachte Interesse an Tibet mögen den Fischer-Verlag bewogen haben, diesen Klassiker in einer Taschenbuchausgabe neu auf den Markt zu bringen.

Vier in Asien reisende Westler, zwei britische Kolonialbeamte, eine Missionarin und ein amerikanischer Börsenspekulant auf der Flucht vor der Polizei, finden sich nach einer abenteuerlichen Reise in einem entführten Flugzeug - mit dieser literarischen Vorwegnahme eines später so verbreiteten Phänomens hat der Autor wahrhaftig Weitsicht bewiesen - mitten im unwegsamsten Gebiet Tibets in einem Lama-Kloster wieder. Sie werden in der am Rande eines paradiesischen Tals gelegenen Einsiedelei äußerst gastfreundschaftlich aufgenommen und genießen jeden erdenklichen Komfort, der erstaunlicherweise in Form europäischer Badezimmer und einer riesigen Bibliothek westlicher Schriften vorhanden ist. Eine Reise in das am nächsten gelegene chinesische Gebiet können sie allerdings noch nicht unternehmen, da die Trägerkarawane erst in drei Monaten eintreffen soll und die Reise über gefährliche Gebirgspässe und das unwirtliche Gebiet der tibetischen Hochebene ohne erfahrene Führer für Ortsunkundige kaum zu überleben ist.

Die vier gestrandeten Passagiere richten es sich also so gut wie möglich ein, und einer nach dem andern verfällt dem Zauber des paradiesischen Tals und des mystischen Klosters. Shangri-La verfügt über eine autonome Lebensmittelversorgung, ist von außen schwer zugänglich und wird durch ein System überwachter Versorgungslinien mit westlichem Komfort und Kulturgut versorgt. Die einfachen Bauern des Tals wirken zufrieden und können sich ein Leben außerhalb des Tals überhaupt nicht vorstellen, während die verschiedenen dort lebenden Westler ihr Leben der Kontemplation und Forschung gewidmet haben. Nur der junge Kolonialbeamte Mallison findet in dem unfreiwilligen Urlaub keine Entspannung, er verliebt sich jedoch in eine schöne Chinesin, die zur Unterhaltung der Westler klassische Musik auf dem Klavier vorträgt.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht der ältere Kolonialbeamte Conway, der seit seiner Zeit als Soldat des Ersten Weltkriegs als etwas verschroben gilt. Bei der Geschichte von Shangri-La handelt es sich um seine Erinnerungen, die er einem anderen Engländer, der ihn bei einer Reise durch China in einem Krankenhaus entdeckt und gesundgepflegt hat, in aller Ausführlichkeit erzählt. Dieser versucht daraufhin vergeblich, Shangri-La zu finden, und die Geschichte bleibt so mysteriös wie Conways letztliches Verschwinden. In seinem Bericht von Shangri-La enthüllt Conway das Geheimnis der Lamaserei und die einzigartige Chance, die sich ihm geboten und die er ausgeschlagen hat, ein Leben zu führen, das er sich zuvor nicht einmal in seinen Träumen hat vorstellen können.

Der mysteriöse Ort hatte Conway von Anfang an in seinen Bann gezogen. Nachdem alle Versuche fruchtlos blieben, von ihrem Ansprechpartner in Shangri-La mehr über das geheimnisvolle Kloster zu erfahren und dieser immer wieder an einer bestimmten Stelle strikt jede Auskunft verweigerte, wird er unversehens vom Hohen Lama empfangen. Zwischen Conway und dem uralten Vorsteher des Klosters finden von nun an intensive Gespräche statt, in deren Verlauf der Brite alles über die unwahrscheinliche Geschichte Shangri-Las erfährt. Dabei stellt sich heraus, daß der Hohe Lama ein ehemaliger Kapuzinermönch ist, der Anfang des 18. Jahrhunderts auf einer Forschungsreise durch China unterwegs war und den es dabei in dieses Tal verschlagen hat. Beim intensiven Studium tibetischer Geheimlehren stellte er über die Jahre fest, daß er nicht mehr zu altern schien, und so ging es auch anderen Menschen, die in das Tal gerieten und zu Mitgliedern des Klosters wurden. So bildete sich eine Gemeinschaft von zwar immer noch sterblichen, in der Regel aber sehr alten Methusalems, als dessen Oberhaupt der weit über 200 Jahre alte Hohe Lama fungierte.

Den vier Neuankömmlingen ist vom Hohen Lama zugedacht, das Schicksal der anderen Bewohner des Klosters zu teilen und dafür zu sorgen, daß die Lamaserei fortbesteht, da dort keine Kinder geboren werden. Die Technik der Lebensverlängerung funktioniert jedoch nur in dem Tal, und sollte sich der Adept zum Verlassen des Klosters entschließen, dann holt der Körper in kurzer Zeit den reduzierten Verfall nach. Der Hohe Lama stellt Shangri-La als Insel in einer Welt des Chaos vor, die kurz davor stehe, in einem ungeheuren Brand zu vergehen. Das Kloster und seine Bewohner sollen dann als Keimzelle einer neuen, friedlicheren Menschheit dienen, da hier die wichtigsten Kulturschätze bewahrt sind und die Mönche zudem ihre Zeit der menschlichen Vervollkommnung widmen.

Conway, der seinerseits durch seine Kriegserlebnisse zu einer Art Kulturpessimist geworden ist, gelangt zu der Einsicht, daß sich hier ein unvorstellbarer Traum erfüllt. Er ist vollkommen glücklich und hat keinen Zweifel an seinem künftigen Lebensweg, der in Shangri-La verlaufen soll. Zudem hat ihn der Hohe Lama zu seinem Nachfolger auserkoren, und unmittelbar nach dieser Verkündigung stirbt er vor Conways Augen. Kurz darauf treffen die angekündigten Träger in Shangri-La ein, und Mallison will unbedingt aufbrechen. Ihm schließt sich die Chinesin an, die nach Conways Bekunden schon weit über hundert Jahre alt ist und außerhalb des Tals keine Überlebenschance hat. Mallison will das jedoch nicht glauben, als weltverbundener Rationalist lehnt er ohnehin die ganze Konzeption des Klosters ab. Er kehrt jedoch kurz nach seinem Aufbruch zurück, weil er sich nicht über eine Schlucht gewagt hat, und schafft es, Conway zu überreden, mit ihnen zu kommen.

Die Geschichte kehrt zur Rahmenhandlung des Briten zurück, der Conways Geschichte gehört hat und nun nach Shangri-La und Beweisen für seine Existenz sucht. Alles scheint jedoch in einem undurchdringlichen Nebel zu verschwinden, und der deutlichste Hinweis auf den Wahrheitsgehalt der Geschichte besteht darin, daß Conway von einer ungewöhnlich alten Chinesin ins Krankenhaus gebracht wurde, die kurz darauf gestorben ist. Shangri-La bleibt ein Mysterium, dem keiner der vollständig Eingeweihten mehr entrinnen kann, ohne mit seinem Leben dafür zu bezahlen. Für Conway hat es die Chance dargestellt, ein Leben außerhalb der britischen Kolonialgesellschaft mit ihren Ritualen, die ihn schon vor Shangri-La anödeten, zu führen, die er allerdings aus einem kurzfristigen Impuls heraus, in die vertraute Welt zurückzukehren, vertan hat.

Diese Entscheidung, mit der er dem um alles in der Welt entschlossenen Mallison, diesen zwar schönen, aber für seinen Geschmack zu abgeschiedenen und introvertierten Ort zu verlassen, einen Freundschaftsdienst erwies, stellt denn auch eine abrupte Zäsur im Handlungsverlauf des Romans dar. Bis dahin ist die persönliche Entwicklung Conways auf eine durchweg positive Bereicherung an Wissen und Empfindsamkeit angelegt, alles wird in eine philosophische Perspektive versetzt, die jedoch nicht von rein theoretischer Gelehrsamkeit geprägt ist, sondern durch die angedeuteten Körpertechniken eine physische Dimension gewinnt.

Und nicht nur der durch harte Erfahrungen abgeklärte Conway, auch der Amerikaner und die strenge britische Missionarin fühlen sich so angezogen, daß sie diesen Ort nicht mehr verlassen wollen. Diese Entwicklung beruht offensichtlich nicht auf einer Manipulation außer derjenigen, daß sie nicht ganz zufällig an diesen Ort gelangt sind, sie entspringt der Vision eines Lebens fernab der Zwänge und der Zerstörungskraft der modernen Gesellschaft.

Der runde und befriedigende Abschluß des Romans erlaubt jedoch kein Ende eines von normalen Wünschen und Hoffnungen losgelösten Mönchslebens in einer Nische, die der Schnitter nur selten besucht, sondern muß zu den Erwartungen des Lesers und dessen Normalität zurückkehren. Ein anderer Schluß hätte aus diesem besseren Abenteuerroman nicht nur ein möglicherweise schlecht verkäufliches Buch gemacht, es hätte das Vermögen des Autors offensichtlich bei weitem überfordert. Die Rückkehr zu der Moral, derzufolge man das Schicksal und die Schöpfung nicht versuchen und sich mit dem Leben, das einem die Eltern vorgelebt haben und das der gesellschaftliche Konsens gebietet, bescheiden sollte, leuchtet ein und ist unverfänglich, mithin kalkulierbar. Jeder Mensch kennt das Sicherheitsgefühl, das ihm nach einer Begegnung mit dem Unbekannten im vertrauten Rahmen des heimischen Lehnstuhls suggeriert, der Spatz in der Hand sei immer noch besser als die Taube auf dem Dach. Ein Leben, das in einem unbestimmbaren Ausmaß über die Grenzen des Bekannten hinausgeht, macht in erster Linie Angst. Und so tief der Wunsch nach an einem längeren Leben auch sein mag, es sollte sich auch weiterhin im Rahmen der vertrauten Gewohnheiten und Orientierungen abspielen.

Die Idee einer abgelegenen Überlebensmöglichkeit stellt angesichts weltweiter unheilvoller Aussichten gleichfalls eine Bedrohung für die gewohnte Orientierung dar, da sie das Eingeständnis eines verderblichen Laufs des Weltschicksals mit sich brächte. So lange die Hoffnung dominiert, alle apokalyptischen Visionen seien doch etwas übertrieben, und man es sich einfach nicht vorstellen kann, daß der Supermarkt um die Ecke einmal leer und das eigene Haus von einer plündernden und mordenden Soldateska bedroht wäre, solange die Sicherheit, auf die man so fest baut, im Großen und Ganzen bestätigt wird, scheint eine Vision wie die vor 50 Jahren in dem Roman geäußerte von einem Weltenbrand absurd. Daß mitten in Europa seit zwei Jahren ein mörderischer Krieg tobt, der tausend Kilometer weiter nördlich wie ein Phänomen auf einem anderen Himmelskörper behandelt wird, stellt ein gutes Beispiel für die kaum zu brechende Dominanz dieses Sicherheitsempfindens dar.

Als bedrohliches Bild einer Welt, auf der sich nicht mehr zu schließende Risse und Fugen abzeichnen und deren neue Weltordnung in vielerlei Hinsicht ein kümmerlicher Ersatz für früher genossene Freiheiten darstellt, reicht das Geschehen zwischen den Weltkriegen kaum hin. Bei aller Zerstörungsintensität war der Zweite Weltkrieg ein überschaubares Fiasko angesichts globaler Ressourcenverknappung und terminaler ökologischer Prozesse. Insofern hat die im Roman als übersteigerte Wahnvorstellung eines Einsiedlers behandelte Vision vom Weltenbrand nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, während sich der Traum des jungen Kolonialbeamten von einer glorreiche Karriere im British Empire, in dem die Sonne nie untergeht, schon bald als überlebt erweisen sollte. Ein knappes Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen des Romans waren fast alle fernöstlichen Kolonien des Empire verloren, und die Bevölkerung Großbritanniens war beinahe so verarmt wie die der Kriegsverlierer.

So wirkt die Vision eines Shangri-La heute utopischer als je zuvor, da geographische Abgeschiedenheit im Zeitalter lückenloser Satellitenüberwachung und globaler Umweltveränderungen keine Überlebensgarantie mehr darstellen kann. Das Leben auf einer paradiesischen Insel oder in der Unzugänglichkeit des Dachs der Welt stellt heutzutage ein Relikt romantischer Träumereien über Lebensformen dar, die endgültig dem menschlichen Zugriff entfallen zu sein scheinen. Und wenn sich hinter dem Zuckerguß der Hollywoodinszenierung von einem perfekten und idyllischen Zufluchtsort auch das konkrete Anliegen verbirgt, den absehbaren Lebensverläufen ein weitgreifendes und grenzensprengendes Abenteuer gegenüberzustellen, so zeigt der Roman doch auch, daß mehr zur Realisierung eines solchen Traums gehört als körperliche Annehmlichkeiten und vielversprechende Perspektiven.

Das Thema der Lebensverlängerung entspringt zwar ausschließlich Mythen und Legenden, niemand hat jedoch bisher ausschließen können, daß sich dahinter nicht der Kern einer fernen Erinnerung an Möglichkeiten verbirgt, die über normalmenschliche Lebensbewältigung hinausgehen. Doch selbst wenn es so wäre, läßt der Roman in seiner Interpretation der Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen eine solche Technologie zur Anwendung gebracht würde, keinen Zweifel am Ausmaß der Verbindlichkeit, die der Nutznießer eines derartigen Wissens aufbringen müßte. Der Eingang zu diesem Mysterium ist also gewissermaßen mehrfach versiegelt und wird von furchterregenden Wächtern bewacht, die alle Ängste symbolisieren, die mit einer Abkehr von der vermeintlichen Sicherheit des vertrauten Lebensumfelds verbunden sind.

Auf einen deutlicheren Nenner gebracht bildet der Roman eine Metapher für das Grundverlangen, die Grenzen der Natur zu überschreiten und das Unmögliche in Angriff zu nehmen, womit eine Qualität menschlicher Entwicklung angesprochen wird, die angesichts der alltäglichen Überlebenserfordernisse zunehmend in Vergessenheit gerät. Alle großen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte beruhen zu einem gewissen Teil auf einer Art Unbescheidenheit, die sich nicht der Genügsamkeit des das metabolische Programm vollziehenden menschlichen Bioorganismus' beugen will. Indem der Verfasser seinen anfänglichen Ansatz nicht weitergeführt hat, reichte es nicht zu dem auf dem Buchdeckel angepriesenen klassischen utopischen Roman, sondern nur zu einer Vorlage für ein Hollywoodabenteuer. In diesem steht Hilton eher in der Tradition moderner Versuche, die Unmöglichkeit utopischer Lebensentwürfe zu beweisen und zur Tagesordnung die Verhältnisse bestätigender Bescheidenheit zurückzukehren. Wer seinen Kopf einfrieren läßt, mag ein Exzentriker sein, handelt jedoch im Glauben an das wissenschaftliche Entwicklungspotential. Wer dagegen das Paradies auf Erden sucht, vergeht sich am Ethos einer Schöpfung, deren Lohn für die Entbehrungen, die der Mensch demütig akzeptiert, immer etwas entfernter erstrahlt, als der Griff reicht.


James Hilton
Der verlorene Horizont