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REZENSION/021: Philip Kerr - Das Wittgenstein-Programm (Thriller) (SB)


Philip Kerr


Das Wittgenstein-Programm



Man nehme einen Philosophen mit bizarrer Biographie, wende diese auf einen hochintelligenten Serienkiller vom Typ Hannibal Lectors an und verlagere das Geschehen in die schöne neue Welt der Europäischen Union des Jahres 2013. So mag in etwa das Erfolgsrezept des britischen Autors Philip Kerr ausgesehen haben, der laut Umschlagwerbung mit "Das Wittgenstein-Programm" den "finstersten, intelligentesten Thriller seit Jahren" abgeliefert habe, eine "verblüffende Mischung aus 'Das Schweigen der Lämmer' und 'Umberto Eco'". Ein derart vollmundig auf dem Markt der boomenden Serienmörder-Literatur plaziertes Werk sollte eigentlich den Verkaufserfolg garantieren, doch scheint das 1994 erstmalig auf deutsch bei Wunderlich im Rowohlt Verlag erschienene Buch bisher für wenig Furore gesorgt zu haben.

Das liegt sicherlich in erster Linie daran, daß eine interessante Konzeption noch keine schriftstellerisch gereifte Arbeit garantiert, denn der im Originaltitel "A Philosophical Investigation" betitelte Diskurs zwischen einer Kriminalkommissarin und ihrer Jagdbeute, dem Serienmörder mit dem Alter Ego Wittgensteins, verläuft so losgelöst von der eigentlichen Ermittlungsarbeit, daß man ihn bestenfalls als intellektuelles Ambiente zur anspruchsvollen Verbrämung eines Thrillers bezeichnen kann. Mit einem nicht zurückverfolgbaren Satellitentelefon ist der um Publikum bemühte Killer mit seiner Verfolgerin in Kontakt getreten und philosophiert nun mit ihr über den Mord als Kunstform und die Bedeutung des gewaltsamen Todes im Zeitalter staatlich verfügten Massenmords. Die an sich interessanten Fragen bleiben jedoch im synthetischen Rahmen einer vermeintlichen Wahnexistenz so isoliert von praktischer gesellschaftlicher Relevanz, daß sie jede Brisanz verlieren und dem Handlungsverlauf des Thrillers eher als langweilige Exkurse im Wege stehen.

So kann es nicht ausbleiben, daß der Killer seine Überlegungen schlußendlich als intellektuellen Spleen abtut, der lediglich der Larvierung seiner mörderischen Absichten diente:

Motivation ... mein Gott, das klingt nach Lee Strasberg und der New Yorker Schauspielschule. Diese Frage stellen die Leute einem Mörder immer, Jake. 'Sagen Sie, Coady, warum haben Sie das getan? Was hat sie dazu gebracht, diese ganzen Frauen umzubringen?' Man wird es müde, ständig die gleiche Frage gestellt zu kriegen und keine rechte Antwort zu wissen. Peinlich für den Mörder. Man ruiniert sein Leben und hat nicht einmal eine vernünftige Erklärung dafür. Also denkt man sich nach einiger Zeit eine Erklärung aus, nur um die Leute loszuwerden. (...) Wenn wir heute davon ausgehen, daß ein Mörder das, was er sagt, für wahr hält, dann wird diese religiöse Verteidigung zum Beweis für seine Unzurechnungsfähigkeit. Und wenn wir ihn für einen Schwindler halten und glauben, daß seine Stimme eine Lüge ist, dann kommt er an die Nadel. Aber wie wir sie auch beurteilen, eine derartige Erklärung dafür, daß jemand so abscheuliche Verbrechen begeht, ist für uns generell verständlich. (...) Aber wenn Sie nach einer Erklärung suchen, die unserer modernen Zeit angemessener ist, Jake, dann kann ich Ihnen eine liefern. Wenn das Charakteristikum des Glaubens das Fehlen von Logik ist, dann gilt auch das Gegenteil. Wenn man an nichts mehr glaubt, dann ist man nur noch der Logik verantwortlich. Und wenn ein anderer behauptet haben könnte, Gott habe ihn dazu veranlaßt, kaltblütig zwölf Menschen zu töten, dann sage ich, daß ich nicht der Stimme Gottes gehört habe, sondern der Stimme der Logik. Ich vernahm die Stimme der Logik und der Diener der Vernunft und unterlag dem Zwang zu töten.' Er lächelte verkniffen. 'Es ist nur eine andere Art von Wahnsinn, sonst nichts.'

Mit dieser im Habitus Wittgensteinscher Logik abgegebenen Erklärung, mit der nicht einmal das Glaubenskonzept widerlegt wird, da lediglich die Adresse des Gottes ausgetauscht wurde, sind auch die bisherigen Überlegungen des Mörders, die durchaus die Grenzen der Moral und der Bewertung von Verbrechen berührten, Makulatur geworden. Er begibt sich freiwillig in die für vermeintlich irrationale Taten vorgesehene Kategorie einer psychopathologischen Deformation, die vorher bereits als treibendes Moment nahegelegt wurde und mit der die Welt in sauber voneinander getrennte Sphären der ein wenig herzlosen und egoistischen, dafür aber normal funktionierenden Bürger und die der unberechenbaren und von perversen Gelüsten getriebenen Geisteskranken eingeteilt bleibt. Daß der Serienkiller bereits von einem Forschungs- und Ermittlungsprogramm der Regierung erfaßt worden war, das Männer mit einer hirnanatomischen Anomalität, die eine Disposition zu Gewaltverbrechen beinhalten soll, überwacht, stützt diese Sicht der Welt und die Relevanz derartiger Programme, die in Ansätzen bereits heutzutage vorhanden sind.

Der Autor ist bei aller Kritik an einer derartigen kriminologischen Präventivfunktion nicht in der Lage, die Konsequenzen einer in den Organen der Strafverfolgung zur Anwendung gebrachten Theorie einer neurophysiologischen Disposition zum Verbrechen angemessen zu schildern. Bei ihm geht es immer noch um Datenschutz und Bedenken in Bezug auf die Unantastbarkeit der Persönlichkeit, während schon heute etwa in amerikanischen Unternehmen die DNA-Analyse zum Standard bei der Bewerbung um eine Anstellung gehört, da man sichergehen möchte, daß das neue Betriebsmitglied die Krankenversicherungsbeiträge der Firma nicht unnötig belastet und daß er so leistungsfähig ist, wie er vorgibt zu sein. Die Verfügung über den Körper des Menschen bis in die Zellbestandteile hinein schreitet mit Riesenschritten voran, während das "Wittgenstein-Programm", in dem die Überwachten durch Decknamen großer Schriftsteller und Wissenschaftler vor dem Zugriff fremder Interessen vermeintlich geschützt sind, noch den verschämten Status eines weitgehend geheimen Unternehmens an vorderster Front der Strafverfolgung beansprucht.

Kerrs Kritik am ungenügenden Datenschutz beschränkt sich dann auch darauf, daß das vermeintlich einbruchssichere System von der teuflischen Genialität des Killers bezwungen wird, der seinen Eintrag löscht und die wirklichen Namen anderer potentieller Gewaltverbrecher in die Finger bekommt. Während er diese der Reihe nach auf immer gleiche Weise mit einer Gasdruckpistole liquidiert, lernt man den ambitionierten Täter von seiner intimen Seite her kennen und weiß doch nichts über seine Identität. Durch die in kursiv gesetzten Blöcken von der Handlungsebene der Kommissarin getrennte Ich-Perspektive wirkt er wie ein im Dunkel der Anonymität lauerendes Raubtier, während seine Verfolgerin einem in jeder Beziehung öffentlichen Beruf nachgeht. Manchmal sieht es so aus, als ob der Gejagte in der Lage sei, das Verhältnis umzukehren, und diese Elemente konventioneller Kriminalschriftstellerei bilden denn auch die unterhaltsamsten Teile des Buchs. Das auf dem anspruchsvollen Teil der Lektüre lastende Gewicht intellektueller Bedeutsamkeit verdirbt jedoch den Genuß am reinen Spannungsroman.

Auch die zweite technologische Innovation der Verbrechensbekämpfung, die das prägnanteste Element der futuristischen Kulisse des Romans darstellt, stellt eher eine Verharmlosung der Zukunft dar, als daß sie die beabsichtigte Gänsehaut schaudernden Grusels beim Leser hervorzurufen vermag:

Jake kannte alle Gründe, die für das Strafkoma angeführt wurden. Im Vergleich zu den Kosten, die eine zehn- bis fünfzehnjährige Gefängnisstrafe verursachte, war es billig. Seit es 'intelligente Betten', computergesteuerte selbstregulierte Kokons, billige Herz-Lungen-Maschinen und kostengünstige Möglichkeiten der intravenösen Ernährung gab, konnte man einen Strafgefangenen für weniger als ein Zehntel der Kosten, die eine Gefängnisstrafe verursacht hätte, im Koma halten. Die Geräte waren ursprünglich für das öffentliche Gesundheitswesen entwickelt worden, dann aber hatte sie das Justizvollzugssystem annektiert. Das Koma verhinderte auch jede Gelegenheit zu weiterer krimineller Aktivität, wie sie in Gefängnissen üblich war. Über Nacht zerstörte die Einrichtung des Strafkomas eine Gesellschaft von Verbrechern und machte teure Gefängnisrevolten zu einer Angelegenheit der Vergangenheit. Und je nach Wahl der angewandten Chemikalien konnte das Koma ohne größere physische und psychische Schäden wieder rückgängig gemacht werden.

Wenn man die Zukunft des Strafvollzugs vor dem Hintergrund ständig weiter auseinanderklaffender sozialer Gegensätze und wachsender Verelendung betrachtet, so wird man es eher mit Verhältnissen zu tun haben, die sich in den USA abzeichnen und die in Ländern der Dritten Welt alltägliche Realität darstellen. Eine Gefängnisinsel, auf der die Insassen dem Regulativ der eigenen Gewalt überlassen werden, wie es sie in Brasilien bereits gibt, ist noch viel billiger als eine versorgungstechnisch aufwendige Aufbewahrung, und auch die immer populärer werdende Todesstrafe wird nach einer Korrektur verfahrenstechnischer Auflagen ein kostengünstiges Mittel zur finalen Bewältigung des Verbrechens darstellen. Eine zivilisierte Gesellschaft, die sich, wie in den USA, zur Zwangsarbeit verurteilte Kettenhäftlinge und Gefängnisse mit einem absoluten Minimum an Versorgung leisten kann, die Menschen in Hochsicherheitstrakten bei vollem Bewußtsein der Folter des Entzugs sozialer Kontakte und vitaler Reize aussetzt, wird kaum Probleme mit der Einführung noch rigiderer Vollzugsmaßnahmen haben.

Auch wenn die Ahnung von den Schattenseiten des Strafkomas, die sich in Form einer nachweisbaren Traumtätigkeit andeuten, der Kommissarin offensichtlich zu schaffen macht, rettet sie ihre Jagdbeute vor dem Selbstmord und sorgt somit dafür, daß er dem zuvor so kritisch geschilderten Vollzug zugeführt wird. Alle Irritationen, die ihre Arbeit, die Macho-Attitüde ihrer Kollegen und das politische Kalkül ihrer Vorgesetzten auslösen, bleiben ohne Konsequenzen, als gute Beamtin erfüllt die Kommissarin ihre Pflicht und zeichnet damit ihrerseits - und vom Verfasser wohl unbeabsichtigt - das Bild eines neuen Menschen, der mehr als alle technologischen Innovationen den Orwellschen Horror verkörpert. Bei aller Emotionalität bleibt dieser Mensch der Zukunft, der sich vor allem als Mitglied einer Sozialordnung definiert, merkwürdig flach und profillos, er findet sich mit allem und jedem ab und kann auch noch der bizarrsten Situation eine poetische Träne abgewinnen, anstatt sie zum Anlaß für grundlegende Fragen zu machen.

So stellt die letzte Begegnung mit dem Killer unmittelbar vor dessen Übergang ins Strafkoma den sentimentalen Höhepunkt des Thrillers dar, bei dem alle philosophischen Exkurse und soziologischen Betrachtungen in einem finalen Abgesang aussichtsloser Traurigkeit resultieren. Die letzte, in ihrer Betonung des individuellen Charakters der verwahrten Organismen völlig anachronistische Vergünstigung des lebenslänglich zum Kunstschlaf Verurteilten besteht in der Wahl eines Textes, den er im Display seines Lebenserhaltungssystems zur Ansicht präsentieren darf. Inspiriert von der Hyazinthe, die ihm die Kommissarin zum Abschied mitgebracht hat, wählt er eine Zeile aus "Das Wüste Land", die unmittelbar auf das Hyazinthenmädchen folgt.

Voll deine Arme, dein Haar naß, mir versagte Die Stimme, meine Augen trübten sich, ich starb nicht Und konnte auch nicht leben, war fassungslos Und sah in das Lichtherz, die Stille. Öd und leer war das Meer.

Der Abgesang auf die Absurdität eines künstlich erzeugten Komas bis zum Tode beschließt ein Werk, dessen vermeintlicher Tiefgang sich auf die Adaption vorgedachter und ausgetretener Wege beschränkt, die zudem mit dem Prädikat der relativen Wahrheit und intellektuellen Spielerei ausgestattet jede Stellungnahme überflüssig machen. Bei den sozialtechnologischen Innovationen im "Wittgenstein-Programm" handelt es sich um alten Wein in neuen Schläuchen, und auch die von der Perspektive des Verfassers aus 20 Jahre in die Zukunft verlegte Handlung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Autor auf den Pfaden einer Wissenschaft wandelt, die in der Genforschung ein lohnendes Feld zur Durchsetzung berufsständischer Interessen gefunden hat. Weit entfernt von jeder Kritik an der institutionellen Ratio derartiger Verfügungsstrukturen ist das Werk von Philip Kerr lediglich als Dokument einer Extrapolation aktueller Denkweisen in die Zukunft zu nutzen, die Bände über den Vermeidungscharakter derartiger Utopien spricht.


Philip Kerr
Das Wittgenstein-Programm