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REZENSION/065: Robert Schneider - Schlafes Bruder (Dorfroman um 1800) (SB)


Robert Schneider


Schlafes Bruder

Österreichischer Dorfroman um 1800



23 Verlage haben das Manuskript von Robert Schneiders Roman "Schlafes Bruder" abgelehnt, ehe der Reclam Verlag Leipzig sich zur Veröffentlichung entschloß. Heute zählt "Schlafes Bruder" zur Weltliteratur - im In- und Ausland von der Kritik teilweise euphorisch gefeiert und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Sogar als Vorlage für einen Kinofilm, ein Ballett und eine Oper diente die Lebensgeschichte von Schneiders Held Elias Alder, der 1803 in einem kleinen österreichischen Bergdorf geboren wurde.

Dem Leser wird bald klar, daß es sich bei Elias um einen außergewöhnlichen Jungen handelt, dem sich die Welt der Töne sehr viel weitreichender erschließt als anderen Menschen. Er kann Dinge hören, die kaum jemand außer ihm hören kann und er versetzt sich sogar in die Lage, diese mit unglaublicher Perfektion nachzuahmen. Elias entwickelt sich zu einem Musikgenie, das jedoch in der bäuerlichen Umgebung seines Dorfes weder Förderung noch Anerkennung erfährt.

Die Tragik des unerkannten Genies, des nie genutzten Talentes ist die Hauptthematik von Robert Schneiders Roman. Der Leser soll erschauern bei dem Gedanken, welch überirdischer Kulturgenuß ihm verlorengegangen ist, weil den Bewohnern von Elias Dorf andere Dinge wichtiger waren als die Musik. Mit den vielfältigen Sorgen und Nöten des Elias Alder selbst hat diese Tragik allerdings nichts zu tun, sie ergibt sich allein aus dem Standpunkt des Musikkonsumenten, der sich um den akustischen Genuß betrogen fühlen soll. Man hätte Elias Alders Fähigkeiten besser nutzen können.

Angesichts der alltäglichen zwischenmenschlichen Greuel, die sich in der ganz normalen Dorfatmosphäre in Elias sozialer Umgebung ereignen (Menschen werden geächtet, verspottet oder gar verbrannt) mutet es mehr als abgehoben an, um verlorengegangenen Kunstgenuß zu trauern. Doch der 1961 geborene Autor ist offenbar ein Kind seiner Zeit, auch wenn er dies durch seine leicht antiquiert wirkende Sprache zu relativieren sucht. Wohl mag Schneiders Sprachstil an frühere Zeiten erinnern, seine Werte tun es nicht. Die Leistungsgesellschaft, die den Menschen ausschließlich als verwertbaren Funktionsträger sieht, dessen persönliche Belange von untergeordnetem Interesse sind, läßt in "Schlafes Bruder" unverhohlen grüßen:

Durch die kleinen, südseitigen Küchenfenster fließt milchweißes Abendlicht. Die Seffin in ihrer blauen Schürze löffelt mit gichtigen Händen Suppe in den verzogenen Mund ihres Mannes. Philipp, der Idiot, rollt die Augen, und Fritz schlägt eben das Kreuz über die Stirn. Ist es faßlich, daß in dieser Szene des Elends der genialste Musiker sitzt, den das Vorarlbergische je hervorgebracht hat? Ist es faßlich, daß hier ein Genius lebt, der vermöge seiner musikalischen Intelligenz Dinge zu sagen hätte, welche die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts um ein Gewaltiges voranbringen könnte? Es ist nicht faßlich. Vielmehr kommt es uns vor wie ein großes, trauriges Märchen. (S. 159f.)

Wahrhaft schmerzlich, daß solch ein edler, weil für potentielle Musikkonsumenten ungemein gewinnbringender Geist sich mit derart nutzlosen Elementen abgeben muß, statt ein erlesenes Publikum auf die Gipfel des Musikgenusses zu führen! An Stellen wie der eben zitierten kontrastiert Robert Schneider den Elitemenschen Alder nach bestbekanntem Schema durch sein "minderwertiges" soziales Umfeld.

Ganz und gar unreflektiert verwendet Schneider Kultur als Wert an sich, er wirft Musik als Sprache zwischen Menschen mit der Perversion des Kunstkonsums in einen Topf. Er macht in aller Selbstverständlichkeit aus einem Hilfsmittel ein Genußmittel, wodurch Elias Alder plötzlich einen geradezu astronomischen Marktwert erhält. Erst das Nicht-Nutzen dieses auf zumindest zweifelhaftem Wertempfinden begründeten Marktwertes verleiht der Geschichte den Anschein der Tragik. Sicherlich, manch einer empfindet es als tragisch, wenn zu wenige Shrimps in seinem Cocktail sind.

Davon abgesehen ist die Mehrheit der Menschen weit davon entfernt, sich der Entwicklung ihrer künstlerischen Talente hingeben zu können. Darin tiefe Tragik zu sehen, ist nur einem geringen Prozentsatz der Menschheit vorbehalten, der sich aufgrund seiner elitären Versorgungslage ein solches Empfinden leisten kann. Was die individuellen Ausdrucksmöglichkeiten angeht, so sind diese nun wirklich nicht auf jenen zivilisationsbegleitenden Bereich beschränkt, den man Kunst nennt: Jeder Mensch sagt auf die eine oder andere Weise, was er zu sagen hat. Mit jeder Tat, mit jeder Geste, mit jeder Lebensäußerung. Was nun jene besonderen Ausdrucksformen angeht, zu denen auch die Musik gehört, so sind sie nicht wirklich geeignetere Wege, sich die Gemüter anderer Menschen zu erschließen. Sicherlich, wer in der Lage ist, einen anderen zu erreichen, kann dies bestimmt auch vermittels der Musik. Aber es liegt an dem Menschen, nicht an der Musik als Medium. Allerdings stellt die Musik eine großartige Projektionsfläche dar, so daß sich viele von ihr berührt oder erreicht fühlen, ohne daß tatsächlich mit dem Musikanten irgendein Kontakt stattgefunden hat. Was die Zuhörer erfahren, sind die eigenen Gedanken und Emotionen. Ohne entsprechende Interpretationsleistung wäre jedes Musikstück nur eine seelenlose Aneinanderreihung akustischer Signale. Erst durch die Interpretation wird eine Melodie lebendig und bekommt ihre Aussagekraft. Tatsächlich jedoch spiegelt sie lediglich den Bewußtseinsinhalt des Zuhörers wider.

Wem dient es wirklich, Menschen durch Musik erhabene Gefühle zu verschaffen? Sicherlich all jenen, die möchten, daß alles beim Alten bleibt, indem der Ersatz beim träge konsumierenden Geist den Eindruck hervorruft, bereits ungeheuer in Bewegung zu sein. Dabei sind es bloß Empfindungen oder Stimmungen, um die sich alles dreht. Nichts gegen Konsum oder den Genuß gewisser Stimmungen, aber man sollte sie nicht mit Vorgängen verwechseln, die niemals konsumiert werden können. Robert Schneider kann dies offenbar nicht unterscheiden:

Er hatte die Menschen unter Hypnose gebracht. Sie saßen reglos in den Bänken, ihre Augenlider bewegten sich nicht mehr. Ihr Atmen hatte sich verlangsamt, und die Frequenz ihrer Herzschläge war die Frequenz seines Herzschlages geworden. Im nachhinein wußte niemand zu sagen, wie lange Elias Alder wirklich gespielt hatte. Sogar Peter wußte es nicht. Auch seine Lider bewegten sich nicht mehr, und hinter der gemeinen Stirn war Frieden.

Das Zustandekommen dieser seltsamen Hypnose läßt sich nur mit dem Wesen von Elias' Musik erklären. Wohl gab es Meister, welche vor ihm die seelischen Gefühlszustände auf genuine Weise musikalisch auszubreiten imstande gewesen waren. Doch blieb es immer beim Anrühren solcher Emotionen, und der Musikliebende selbst steigerte sich dann willentlich in Emphase und tue es heute noch.

Nun gibt es aber in der Sprache der Musik ein Phänomen, das bislang noch wenig erforscht worden ist. In der unerschöpflichen Kombination von Akkorden herrschen nämlich Konstellationen, deren Erklingen im Hörer etwas entfesselt, was im Grunde nichts mehr mit Musik zu schaffen hat. Einige dieser Akkordverbindungen und -sequenzen hatte Elias ja schon in seiner Jugendzeit entdeckt, und er hatte die Wirkung dieser Sequenzen oft an sich und anderen erproben können. [...] Er brauchte nur die gefundenen Harmonien in größere, musikorganische Zusammenhänge zu stellen, und der Zuhörer konnte sich der Wirkung nicht mehr entziehen. Ohne seinen Willen traten ihm dann die Tränen aus den Augen. Ohne seinen Willen durchlitt er Todesangst, Kindesfreuden, ja bisweilen gar erotischen Empfindungen. Solches in der Musik geleistet zu haben, war das Verdienst des Johannes Elias Alder. (S. 178f.)

Wie hilflos Robert Schneider tatsächlich seinem Anspruch gegenübersteht, menschliche "Genialität" zu beschreiben, zeigt sich des weiteren darin, daß er Elias Alder auf fast schon unerträgliche Weise sein persönliches Leid zelebrieren läßt. Da ist zunächst einmal die Musik, deren Genialität sich unter anderem darin zu offenbaren scheint, daß Elias sie buchstäblich aus sich herausquälen muß. Schneider scheint die Meinung zu vertreten, nur was aus Schmerz und Plage geboren wurde, kann wirklich genial sein:

Auch Elias saß reglos auf dem Orgelbock. Dann wischte er sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß vom Gesicht, strich das dünne Haar zurück und blickte auf und hinaus in die Apside, wo über dem Lettner die schwere Beweinungsgruppe trauerte. Jetzt erst konnte man sehen, wie sehr dieses mehr als zweistündige Improvisieren an seiner körperlichen Substanz gezehrt hatte. Sein ohnehin karges Gesicht war grau wie Asche geworden, die Wangen eingefallen, die Backenknochen standen heraus und die Lippen waren ihm vertrocknet. Er hatte an Körpergewicht verloren. (S. 182)

Folgerichtig in der Verherrlichung des Leids stellt Elias Alders endgültige Selbstzerstörung den Höhe- und Endpunkt des Romans dar. Mit der von vornherein unglaubwürdigen Begründung, er würde es aus Liebe zu dem Mädchen Elsbeth tun, tötet Elias sich qualvoll durch mit Tollkirschen und anderen Gewaltmaßnahmen erzwungenen Schlafentzug, was schließlich zum Atemstillstand führt. Das tragische Ende eines tragischen Lebens.

Alles in allem ist "Schlafes Bruder" ein Roman, der trotz des bäuerlichen Szenarios seltsam karikaturhaft-überzogen anmutet, was die Glaubwürdigkeit der Geschichte deutlich schmälert. Statt mit geistreichen oder wenigstens originellen Aussagen wird der Leser lediglich immer wieder mit Grausamkeiten konfrontiert, die der Autor wie Highlights über seinen Roman verteilt. Schon bei etwas genauerem Hinsehen erweisen sich seine Kernaussagen als klischeehaft und wenig durchdacht. Der Roman lebt lediglich von der Bereitschaft des Lesers, die Anspielungen des Autors auf gesellschaftliche bzw. kulturelle Konsensen wohlwollend mitzuvollziehen. Wer weder solchen spießbürgerlichen Konsensen noch menschlichen Grausamkeiten oder exzessiver Selbstzerstörungslust etwas abgewinnen kann, braucht sich "Schlafes Bruder" nicht anzutun.

23 Verlage haben das Manuskript von Robert Schneiders Roman "Schlafes Bruder" abgelehnt. Die Lektoren hatten recht. Daß Robert Schneider allerdings die Auffassung der Massen von Literaturqualität getroffen hat, wird dadurch nicht in Zweifel gezogen.


Robert Schneider
Schlafes Bruder
Österreichischer Dorfroman um 1800
Reclam Verlag Leipzig 1992
204 Seiten
ISBN 3-379-01518-0