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REZENSION/068: Jostein Gaarder - Sofies Welt (Philosophie) (SB)


Jostein Gaarder


Sofies Welt

Ein Roman über die Geschichte der Philosophie

Resümee über einen Bestseller



Wer gerne zur Schule gegangen ist und wer mit der betulichen Art mancher Lehrer gut zurechtkam, dem gefällt das Buch bestimmt.

Wer allerdings ein Lexikon schon immer pulvertrocken fand, und wem es schwerfiel, es seitenweise durchzulesen, der wird bei "Sofies Welt" auch seine Schwierigkeiten bekommen. Da hilft auch nicht die Rahmengeschichte weiter, der trotz Teenager-Attitüden sowohl jugendliche Frische als auch ein echter Spannungsbogen fehlt. Die Handlung klingt extrem konstruiert und die Betrachtungen des 14jährigen Mädchens hören sich arg nach einem Erwachsenen an, der die Gedanken von Heranwachsenden nur durch Hörensagen aufschnappte und auch eine Teenager-Freundschaft lediglich von weitem kennenlernte.

Warum, so fragt man sich, wurde das Buch so lange von der Presse gefeiert und besetzte monatelang die obersten Plätze der Erwachsenen- Bestsellerlisten?

Kauft man sich einen Roman über die Geschichte der Philosophie, erwartet der Leser eine - wenn nicht mitreißende, so doch - spannende Aufbereitung des Themas. Der Autor stellt aber, lexikalisch aufgelistet, die jeweiligen Ideen der Philosophen in den Mittelpunkt und baut eine wenig aufregende Geschichte herum.

Zu Beginn werden dicht gedrängt und zusammenhangslos die Fragen nach Sein, Tod, der Entstehung der Welt und des Universums wie nach Gott und der unsterblichen Seele aneinandergereiht.

Bedauerlicherweise wird nicht wirklich eine Philosophiegeschichte entwickelt, sondern der "Lehrstoff" Philosophie ausgebreitet. Die Rahmenhandlung klebt wie ein Fremdkörper an dem philosophischen Block. Das ändert sich auch nicht durch spätere Versuche, die philosophischen Anschauungen in die Geschichte einfließen zu lassen und entsprechende Ereignisse zu konstruieren. Der Schriftsteller macht es sich äußerst einfach, indem er über einen lehrbuchmäßigen Kursus seiner Hauptfigur beziehungsweise dem Leser Philosophie in Kindersprache vorsetzt. Dabei wird jeder Philosoph auf ein Minimum reduziert, und die Anschauungen verkommen zu bloßen Klischees. Der Autor läßt seine zweite Hauptfigur, den Philosophen, derart oberlehrerhaft dozieren, wie man es von der unangenehmsten Sorte kennt. Da er sich nicht sicher ist, ob seine Leser schon eingeschlafen sind oder sich anderweitig unterhalten, fragt er zwischendurch häufiger: "Bist Du noch da, Sofie?"

Es ist wirklich schade, wie der Autor den mythologischen Stoff verschleudert. Abgesehen von langweiliger, kurzgefaßter Nacherzählung zieht er den Vergleich zu "modernen Methoden" und begibt sich damit auf Glatteis. Denn er vergleicht die Vorgehensweise der Götter mit denen von Terroristen, die eine Erpressung durchführen. Vielleicht sollte es eine realistische Weltbetrachtung repräsentieren, vielleicht möchte der Autor in den Augen von Jugendlichen "voll cool" wirken. Vielleicht aber wollte er auch nur seine Integrität beweisen.

Heutzutage gelten Sagen und Mythen als überholt, wenn sie nicht in aufwendiger Fantasy-Manier ausgestaltet wurden. Ob es möglicherweise auch andere Interpretationsmöglichkeiten für die Götterwelt geben könnte, zieht der Autor nicht in Betracht. Er stellt ab auf das "realistische" Verständnis einer modernen Generation, der er ein politisches Verständnis unterstellt, das sich allein in den moralischen Kategorien von "gut und böse" bewegt.

Wenn in dieser Art und Weise Philosophie und Politik verknüpft werden, wundert es kaum, daß die Überheblichkeit mit jeder weiteren Erläuterung anwächst. Über das Weltverständnis der Bauern in der Wikingerzeit und deren Fruchtbarkeitskult läßt der Autor verlauten: "Es war im Grunde unbegreiflich, daß die Pflanzen auf den Feldern wachsen und Frucht tragen konnten. Aber daß es irgendwie mit Regen zusammenhing, wußten die Bauern immerhin."

Auch befördert der Romanschriftsteller ein Wertesystem, das derart unkritisch nicht in einem Jugendbuch eingeflochten werden sollte. Es sei denn, der Autor hat eigentlich eine Zielgruppe im Visier, die fest etabliert die Fäden gesellschaftlichen Gedankenguts in den Händen hält. So ist der Autor der Ansicht, daß dann etwas von Wert ist, wenn man ordentlich dafür bezahlt hat. Es muß etwas "gekostet haben", damit man es wertschätzt. Wahrscheinlich entspricht diese Auffassung mehr denn je dem Zeitgeist: Alles hat seinen Preis. Nichts gibt es umsonst - und so fort. Diese Prinzipien einer kapitalistischen Gesellschaft sind hier reproduziert und für die "jungen Erwachsenen" aufbereitet. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems - das in der vorgelebten Form auch nur eine andere Spielart der Herrschaft und Ausbeutung gewesen ist und von daher weitab von der eigentlichen Grundidee operierte - darf man den Kapitalismus mit seinen menschenverachtenden Kosten-Nutzen-Verhältnissen wieder feiern. Und der Autor wünscht sich, "daß die UNO eine Art Regierungsverantwortung für die ganze Welt übernehmen sollte."

Das Buch wird Jugendliche kaum bei der Stange halten, weil die Rahmenhandlung viel zu langsam aufgebaut wird. Interessant wird es für diejenigen Erwachsenen, die sich nichts aus einem Teenager-Roman machen, aber ihre Wissenslücken durch die überleichte Darstellung problemlos füllen möchten. Darin liegt zum einen auch der Erfolg dieses Bestsellers begründet. Zum anderen schöpft der Autor aus dem Fundus bereits erfolgreicher Einfälle. Da darf dann auch nicht eine Spiegelwelt fehlen, ebensowenig wie Alice im Wunderland oder sprechende Tiere.

Trotz der so gestalteten Rahmenhandlung erweckt der Autor den Eindruck, als ziele er in erster Linie auf die Vollständigkeit von Informationen, ungeachtet dessen, daß diese irgendwann von irgendwem aufgrund vorherrschender Interessen für die jeweiligen Zwecke geformt, durch Schrift festgeschweißt und über die Zeit aus ihrem Zusammenhang gerissen wurden. In zweiter Linie sind dem Autor Eigenschaften wie Rechtschaffenheit und Tugend wichtig. Das läßt er unter anderem da durchblicken, wo er jemanden, der sonntags zwei Stunden länger schläft, als "faul" bezeichnet.

Philosophische Diskussion sind äußerst rar gesät und sind eher als Pseudo-Debatten zu bezeichnen, weil das junge Mädchen mit seinen Anmerkungen nur zuvor Gelerntes beisteuert, aber kaum Fragen oder neue Gedankengänge aufbringt.

Obwohl ganz klar ist, wie es sich mit den Hauptfiguren verhält, bastelt der Autor so lange an der Geschichte, bis sich die (Schein-)Frage erhebt, welches der beiden Mädchen der Phantasie angehört. Es kann auch sein, daß beide Figuren gleichzeitig existieren oder beide nur Romanfiguren sind. Alles stimmt, wenn man es aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet. Die Frage nach der Wahrheit und nach der Wirklichkeit steht im Vordergrund. Das Bemühen herauszufinden, was ist wirklich und was ist wahr, liegt nicht nur in der philosophischen Grundanschauung fundamentiert, sondern auch in der anpassungsfreudigen Grundhaltung des Autors, die sich durch den gesamten Roman zieht.

Die Standpunktlosigkeit des Autors, politisch wie philosophisch, zeigt sich in der absolut gängigen Wiedergabe konventioneller Anschauungen. Damit läßt sich wohl auch der anhaltende Erfolg des Buches sichern, ebenso wie mit dem Überlegenheitsgefühl, das der Autor vermittelt. Obwohl ein Erwachsener durch die Fülle an Informationen genauso überfordert ist wie ein Jugendlicher, gaukelt die einfache Darstellung dem Leser vor, er frische sein Wissen auf.

Der Autor kann sich über seinen Erfolg bei den Erwachsenen freuen. Seine anvisierte Zielgruppe von "Erwachsenen ab 14 Jahre" mühte sich vermutlich mit dem Buch ab, um es schließlich doch wie ein Lexikon zu benutzen. Allerdings sollten sie doch vorzugsweise ein echtes Nachschlagewerk zur Hand nehmen, denn dort lernen sie wenigstens, wie man die Namen richtig ausspricht, und obendrein reizt die lexikalische Kürze zu Fragen, die weiterbringen könnten. Der Roman "Sofies Welt" bietet ein abgeschlossenes Universum, in dem alle Fragen scheinbar geklärt werden, und das "Ach-so-ist-das-Gemeint" vereitelt die neugierige Unruhe, die zu einem aufschlußreichen Gespräch führen könnte.


Jostein Gaarder
Sofies Welt
Roman über die Geschichte der Philosophie
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Carl Hanser Verlag, München Wien 1993
610 Seiten
ISBN 3-446-17347-1