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REZENSION/077: Monsieur Ibrahim et les fleurs du Coran (Französisch) (SB)


Éric-Emmanuel Schmitt


Monsieur Ibrahim et les fleurs du Coran



Moïse, zu Beginn der Erzählung elf Jahre alt, ist ein durch seine Lebensumstände früh gereifter Junge. Allein mit seinem Vater, dessen Eltern im KZ umgekommen sind, lebt er im jüdischen Viertel in Paris. Der Vater, ein Anwalt, ist nie über den Tod der Eltern hinweggekommen, beziehungsweise darüber, daß er - nicht wie sie verschleppt - überlebte. Sein Gemüt ist düster, die Wohnung düster, er umgibt sich mit seinen Büchern und verschließt sich mit demonstrierter und grausamer Gefühlskälte. Wie er es überhaupt geschafft hat, den Jungen vom Säuglingsalter an allein aufzuziehen, ist ein Rätsel; er dreht seine eigenen Kreise. Popol, der angeblich perfekte ältere Bruder Moïses, den es nicht gibt, ist wohl eher ein Wahn seiner eigenen traurigen Kindheit. Der Sohn ist schon lange auf sich gestellt und versorgt den Haushalt. In der Wohnung stoßen zwei fremde Welten aufeinander. Wir erleben die Geschichte und Konstellationen aus der Sicht des Jungen, die - bedingt durch seine Lebensumstände verständlich - recht altklug und psychologisierend daherkommt, aber natürlich auch etwas über die Lebenssicht des Autoren verrät.

Als sein Vater ihn verdächtigt, Geld zu entwenden, rächt er sich, indem er es wirklich tut, und schlachtet schließlich sein Sparschwein, um das Geld für den Besuch bei einer Prostituierten anzulegen. Er entwickelt eigene Initiative, ist nicht so hoffnungslos gelähmt wie es sein Vater scheint, der ihn, im eigenen Ego gefangen, schon vor langer Zeit im Stich gelassen hat.

Éric-Emmanuel Schmitt spricht einen ganzen Komplex von Problemen an und legt dar, wie man ihnen ausweicht, ohne jedoch dies als solches aufzuzeigen. Der Vater flüchtet in die Arbeit, in die Bücher, in eine andere Stadt, in den Tod. Der Junge flüchtet in seiner Einsamkeit und Orientierungslosigkeit, die selbstverständlich von der Schule nicht aufgefangen wird, zu den Prostituierten der Rue de Paradis und zu Monsieur Ibrahim, dem Händler von der Ecke.

Das, was Momo, wie dieser ihn nennt, an Monsieur Ibrahim über die Tatsache hinaus, daß dieser sich wirklich um ihn kümmert, anzieht, ist, daß er seinen Frieden mit der Welt geschlossen hat, die dem Vater fremd bleibt und diesen zur Verzweiflung treibt. Der alte Mann lehrt den Jungen - unter anderem - lächeln, jedoch nicht, den Zugang zum anderen zu suchen. Momo lächelt, was das Zeug hält und setzt es sogleich gerissen im Dienste seiner sozialen und leiblichen Interessen zur Täuschung ein.

- Non, madame, je m'excuse, je n'ai pas compris mon exercice de maths. Vlan: sourire! - J'ai pas pu le faire! - Eh bien, Moïse, je vais te le réexpliquer. Du jamais-vu. Pas d'engueulade, pas d'avertissement. Rien. A la cantine ... - J'pourrais en avoir encore un peu, d'la crème de marron? Vlan: sourire! - Oui, avec du fromage blanc ... Et je l'obtiens. (Seite 23)

Während die Person des Vaters für den steht, der sein eigenes Leid über andere stellt, steht Ibrahim in seiner eigenen Person zurück und läßt Momo frei atmen - bis er seinerseits den Jungen, wenngleich gut versorgt, im Stich läßt. Was dieser, der seine Überlebenslektion gelernt hat und sich in die Gegebenheiten fügt, verzeiht.

- Momo, le yoyage s'arrête là. - Mais non, on n'y est pas arrivés, à votre mer de naissance. - Si, moi, j'y arrive. Toutes les branches du fleuve se jettent dans la même mer. La mer unique. (S. 69)
- Momo, tu pleures sur toi-même, pas sur moi. Moi, j'ai bien vécu. J'ai vécu vieux. J'ai eu une femme, qui est morte il y a bien longtemps, mais que j'aime toujours autant. J'ai eu mon ami Abdullah, que tu salueras pour moi. Ma petite épicerie marchait bien. La rue Bleue, c'est une jolie rue, même si elle n'est pas bleue. Et puis il y a eu toi.
Pour lui faire plaisir, j'ai avalé toutes mes larmes, j'ai fait un effort et vlan: sourire! Il était content. C'est comme s'il avait eu moins mal. Vlan: sourire! Il ferma doucement les yeux. - Monsieur Ibrahim! - Chut ... ne t'inquiète pas. Je ne meurs pas, Momo, je vais rejoindre l'immense. Voilà. (S. 70)

Der Rezensent hat es leicht mit diesem Buch, denn es spaltet die Szene der Kritiker. Dies gibt weder Anlaß, sich auf eine Seite zu stellen, noch diese zu vermeiden. Was die einen als Kitsch, rührselig, oberflächlich und unter Niveau beschreiben, betrachten die anderen als anrührende, feinsinnige, gar kluge Geschichte. Der Publikumserfolg gilt in den Augen der ersteren als bedenkliche Verirrung oder Katastrophe und ist für letztere natürlich verständlich und verdient. Die Meinungen spalten sich hier erneut an der Schnittstelle zwischen einer Literaturkritik, die noch an einem heute überholt erscheinenden Bildungsanspruch an Literatur festhält, dem Überlebensinteresse der Verleger und dem heutigen Publikumsgeschmack, der als Begleiterscheinung sich deutlich zuspitzender gesellschaftlicher Verhältnisse und Interessengegensätze reinem Unterhaltungs- und Fluchtinteresse entspringt. Einem Interesse, das jede Anstrengung und Tiefe scheut und das Versprechen einer heilen Welt bevorzugt, das in diesem Werk bedient wird.

Die Erzählung, ursprünglich Theaterstück, enthält nichts Neues, nichts, was man nicht schon gehört und selbst gedacht oder sich ausgemalt hätte. Auch dieser Wiedererkennungswert macht den Erfolg des Buches aus, und das ist gleichzeitig das Traurige. Der Autor erzählt die eigene, immer gleiche Geschichte, und der Leser liest seinerseits die immer wieder gleiche eigene Geschichte heraus, weil es dem, was er immer schon wußte, nicht widerspricht und keine Fragen aufwirft. Weder hinterläßt es das Gefühl: Ja, genau, wieso bin ich nicht darauf gekommen!, noch gibt es Ecken, Kanten und Widersprüche, an denen man stutzen und sich reiben könnte. Es regt nicht zur Auseinandersetzung an, sondern stellt zufrieden und bestätigt. Eine Welt wird präsentiert, in der alles seinen Platz und seine Zeit hat, und paßt damit in das allgemeine Bedürfnis, einen Schleier über brennende Fragen zu werfen, der es ermöglicht, Frieden mit den Verhältnissen zu schließen.

Nun ist dies weniger der ausdrückliche Beweggrund des Autors, der wohl nur dies und jenes, was ihm gerade so im Kopf herumging, auszuspinnen und zu erzählen suchte. Daß man jetzt "Die Blumen des Koran" als einen Beitrag oder gar ein Plädoyer für die friedliche Koexistenz der mosaischen Religionen, für Toleranz und Völkerverständigung hochstilisiert, ist dem Autoren weder im positiven, noch im negativen Sinne anzulasten. Sondern er ist eher instinktiv zur rechten Zeit am rechten Ort.

Über die jeweilige Religion erfährt man nichts außer der Juden und Moslems gemeinsamen Beschneidung und dem gemeinsamen Bezug auf Abraham.

- Les musulmans, comme les juifs, Momo. C'est le sacrifice d'Abraham: il tend son enfant à Dieu en lui disant qu'il peut le prendre. Ce petit bout de peau qui nous manque, c'est la marque d'Abraham. Pour la circoncision, le Père doit tenir son fils, le père offre sa propre douleur en souvenir du sacrifice d'Abraham. Avec monsieur Ibrahim, je me rendais compte que les juifs, les musulman et même les chrétiens, ils avaient eu plein des grands hommes en commun avant de se taper sur la gueule. Ça ne me regardait pas, mais ça me faisait du bien. (S. 43)

Meint man vor der Lektüre, mit den "Blumen" des Koran seien vielleicht islamische Lehren und Spruchweisheiten gemeint, die dem alten Händler in den Mund gelegt werden, wird man enttäuscht. Monsieur Ibrahim ist ein Pflegeleichter, der sich nicht an Gebetsvorschriften hält und die Moschee als einen Ort der sozialen Begegnung unter Gleichen schätzt. Als Anhänger des Sufi-Zweiges ist er nicht gerade typisch für den Islam. Seine Aussage: "Ich weiß, was in meinem Koran steht", klingt eher wie eine Ausrede gegenüber der Gefahr, in den Umkreis von Problemen zu geraten, die seine Ruhe stören könnten.

- Comment vous faites, vous, pour être heureux, monsieur Ibrahim? - Je sais ce qu'il y a dans mon Coran. (S. 35)
- La beauté, Momo, elle est partout. Où que tu tournes les yeux. Ça, c'est dans mon Coran. (S. 41)

Monsieur Ibrahim ist mitnichten ein Weiser, sondern wird als etwas vertrottelter, liebenswerter Mensch fremden Hintergrunds dargestellt, der sich ein wenig mehr um seine Umgebung bemüht als andere, und gegen den man sich nicht wehrt, weil er im Grunde keineswegs schlauer ist als der Leser. Dieser alte Herr hat sich ein festes kleines Weltbild geschaffen, in dem er ungestört die Position des sanftmütig amüsierten Beobachters einnehmen kann. Daß man nicht aus Büchern lernen sollte, sondern vom Leben, ist eine so alte wie dümmlich vage westliche Lebensweisheit. Und auch das bei uns sattsam bemühte Konzept der Langsamkeit, das der Autor dem alten Herrn in den Mund legt, trägt nichts zur Erklärung der Welt und erst recht nichts zu ihrer Veränderung bei.

- Arrête l'auto. Tu sens? Ça sent le bonheur, c'est la Grèce. Les gens sont immobiles, ils prennent le temps de nous regarder passer, ils respirent. Tu vois, Momo, moi, toute ma vie, j'aurai beaucoup travaillé, mais j'aurai travaillé lentement, en prenant bien mon temps, je ne voulais pas faire du chiffre, ou voir défiler les clients, non. La lenteur, c'est ça, le secret du bonheur. (S. 61)

Wer sich also erhofft hat, so nebenbei ein wenig mehr über den Islam zu erfahren, sieht sich enttäuscht, weil man das präsentiert bekommt, was man sich auch so schon immer vorgestellt hat. Der Islam, der hier eigentlich gar nicht vorkommt, ist kompatibel, weil das wenige, das Ibrahim von sich gibt, die Mischung von Laissez faire, Toleranz und Selbstzentriertheit ist, die man heutzutage am besten verfolgt. Tanzende Derwische - ach ja, war das nicht eine Form von Trance, in der man die Beschwernisse der Welt und des Körpers vergißt? Also sich ganz um sich selbst dreht?

Möglicherweise ist das ja die Kernaussage des Autoren:

... Améliore-toi. Ce qui est vivant, fais-le mourir: c'est ton corps. Ce qui est mort, vivifie-le: c'est ton coeur. Ce qui est présent, cache-le: c'est le monde d'ici bas. Ce qui est absent, fais le venir: c'est le monde de la vie future. ... (Aus dem Zitat von Rumi, S. 71)
Je tourne une main vers le ciel, et je tourne. Je tourne une main vers le sol, et je tourne. Le ciel tourne au-dessus de moi. La terre tourne au-dessous de moi. Je ne suis plus moi mais un de ces atomes qui tournent autour du vide qui est tout. (S. 72)

Nun sei noch erwähnt, daß neben den Vokabelhilfen auf jeder Seite das Nachwort Ausführliches zum Autoren und einige sehr positiv gehaltene Überlegungen zur vorliegenden Erzählung bietet.

Im Jahr 2001 produzierte der NDR die deutsche Fassung als Hörspiel und im vergangenen Monat lief in den deutschen Kinos die Verfilmung des Werks mit Omar Sharif aus dem Jahr 2003 an. Eine deutsche Fassung des Textes ist im Amman Verlag erschienen, obwohl die Originalausgabe doch immer vorzuziehen ist.


Éric-Emmanuel Schmitt
Monsieur Ibrahim et les fleurs du Coran
Erzählung
Herausgegeben von Ernst Kemmner
Philipp Reclam jun., Stuttgart 2003
Universal-Bibliothek - Fremdsprachentexte Französisch
101 Seiten, 3,- Euro
UB 9118, ISBN 3-15-009118-7