Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → ROMANE

REZENSION/082: Xinran - Himmelsbegräbnis (Erzählung, Tibet) (SB)


Xinran


Himmelsbegräbnis

Ein Buch für Shu Wen



Die Erzählung "Himmelsbegräbnis" von Xinran Xue ist nicht nur eine "einzigartige Liebeserklärung", sondern zugleich eine "Reise in die Seele Tibets". Diese beiden Informationen stehen auf dem Buchrücken und machen neugierig, zumal, wenn man Xinrans eindringliche und einfühlsame Art zu erzählen schon aus ihrer ersten Buchveröffentlichung "Verborgene Stimmen" (siehe im Schattenblick unter BUCH\SACHBUCH/REZENSION/217: Xinran - Verborgene Stimmen (Chinas Frauen heute)) kennt. Die geweckten Erwartungen bestätigen sich durch Xinrans eigenen Kommentar zu dieser Geschichte:

Dieses Buch ist das Ergebnis vieler Jahre, die ich damit verbracht habe, Shu Wens Liebe und das geistige Leben der Tibeter verstehen und f ü h l e n zu lernen und zu begreifen, wie unterschiedlich Kultur, Zeit, Leben und Tod für unterschiedliche Menschen sein können. (S. 173)

Und tatsächlich ist mir nach der Lektüre ein Ausschnitt der Geschichte des bisher unbekannten Landes Tibet vertrauter. Denn Xinran arbeitet die jüngere Geschichte Tibets und viele Informationen über Kultur und geistiges Leben des Landes so selbstverständlich in ihren Roman mit ein, daß sich ganz nebenbei Kenntnisse einstellen, die über das lexikalische Wissen hinausgehen:

Tibet, ist das nicht ein kleiner Staat irgendwo hinter den mächtigen Gebirgsketten des Himalaya? In Deutschland weiß man sehr wenig über das Land, das vor fünf Jahrzehnten zum Opfer einer Besetzung wurde. Tibet ist mit seinen etwa 2,5 Millionen Quadratkilometern das zwölftgrößte Land und das größte Hochland der Erde. Es wird auch das "Dach der Welt" genannt, eingegrenzt vom Himalaya im Westen und Süden. Es liegt durchschnittlich 4.500 Meter über dem Meeresspiegel und hat trockenes Höhenklima (Wüstensteppen im Hochland) mit starken jährlichen und täglichen Temperaturschwankungen. Weit verstreut lebende Hochlandnomaden halten Schafe, Yaks, Ziegen und Pferde. "Xizang", auf deutsch "Schatzhaus des Westens", wird Tibet in China genannt. Bis zur chinesischen Besetzung hatte Tibet eine hohe Artenvielfalt an Flora und Fauna. Inzwischen ist es wirtschaftlich ausgebeutet. Vier Überlandstraßen verbinden Tibet mit chinesischen Provinzen. Daneben gibt es sechs Flughäfen, von denen aber nur einer für den zivilen Verkehr genutzt wird.

Tibet war bis 1950 ein unabhängiges Land mit der Hauptstadt Lhasa. Es hatte eine Regierung, die in der Lage war, internationale Beziehungen zu unterhalten, ein eigenes Staatsoberhaupt und ein eigenes Regierungs- und Rechtssystem, ein eigenes Steuerrecht, eine eigene Währung, ein eigenes Postwesen (und eigene Briefmarken), ein Außenministerium und eine eigene Armee. Nur im 13. und im 18. Jahrhundert gelangte es unter Fremdeinfluß. 1950 wurde Tibet von rotchinesischen Truppen besetzt, deren Einmarsch 1949 begann. Nach der Niederschlagung der kleinen tibetischen Armee und der Besetzung des halben Landes zwang die chinesische Regierung der tibetischen Regierung im Mai 1951 den sogenannten "17-Punkte-Vertrag für die friedliche Befreiung Tibets" auf. Weil dieser Vertrag unter Druck unterzeichnet wurde - die chinesische Regierung drohte damit, bis Lhasa vorzurücken, wenn die Bedingungen nicht akzeptiert würden -, war er nach internationalem Recht von Anfang an ungültig. Die Präsenz der 40.000 Soldaten umfassenden chinesischen Armee in Tibet und die Aussicht einer völligen Vernichtung ließ den Tibetern keine Wahl.

1951 wurde das Land unter Zusicherung der inneren Autonomie der der VR China angegliedert. 1959 kam es zu Aufständen. Am 10. März erhob sich die Bevölkerung in der Hauptstadt Lhasa gegen die chinesische Besetzung. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, und in seiner Folge flohen der Dalai Lama sowie etwa 100.000 weitere Menschen ins Exil nach Indien. In Tibet gab es etwa 1,2 Millionen Opfer, 6000 Tempel und Klöster wurden zerstört. Bei der ersten Gelegenheit, sich in Indien frei zu äußern, wies der Dalai Lama das Abkommen zurück.

Nach der Invasion war Tibet dramatischen Änderungen unterworfen. Es wurde 1965 in sechs Verwaltungseinheiten zerstückelt, Zentral- und Westtibet wurden mit 1,2 Millionen qkm zur "Autonomen Region Tibet". Heute leben hier knapp zwei Millionen Tibeter. Der größte Teil Nordost-Tibets, Amdo, wurde zur eigenständigen Provinz Qinghai, Ngapa (Südost-Amdo) den chinesischen Provinzen Sichuan und Gansu zugeschlagen, und der größte Teil Ost-Tibets, Kham, den Provinzen Sichuan und Yunnan einverleibt. In diesen Gebieten leben heute 4 Millionen Tibeter. Wenn die VR China von Tibet spricht, dann meint sie nur die sogenannte "Autonome Region Tibet". Die Tibeter sind inzwischen eine Minderheit im eigenen Land: rund sechs Millionen Tibetern stehen etwa 7,5 Millionen chinesische Siedler gegenüber, die bei der Zuteilung von Wohnungen, Kindergarten- und Arbeitsplätzen sowie bei der übrigen sozialen Versorgung bevorzugt behandelt werden.

Trotz aller gegenteiligen Bekundungen aus Peking hält die Unterdrückung des tibetischen Volkes durch die chinesische Regierung an. Über eine Million Tibeter sind seit der Besetzung durch Hunger, Haft, Folter und Hinrichtung umgekommen. Tausende von Klöstern und Tempeln wurden zerstört und 50 Prozent der Waldfläche abgeholzt. Die Chinesen lagern heute atomaren Müll in Tibet und haben dort Basen zum Abschuß von Atomraketen installiert. Eine der ältesten Hochkulturen der Welt ist in Gefahr, denn die tiefreichenden Verfälschungen tibetischer Kultur und Geographie lassen die tibetische Nation bald untergehen. Selbst eine anerkannte tibetische Regierung wird dann nicht in der Lage sein, das zivilisatorische Mandat ihrer Nation zu erfüllen.

Rechtlich gesehen hat Tibet bis heute nicht seine Staatlichkeit verloren. Es ist ein unabhängiger Staat unter illegaler Besetzung. Weder der militärische Einmarsch noch die fortdauernde Besetzung durch die Volksbefreiungsarmee haben China die Oberhoheit über Tibet gegeben. Die Volksrepublik beharrt darauf, daß ihre Beziehung zu Tibet eine rein interne Angelegenheit sei, da Tibet seit Jahrhunderten zu China gehöre. Seine Forderung gründet sich allein auf die angebliche Unterwerfung Tibets unter ein paar von Chinas mächtigsten Fremdherrschern im 13. und im 18. Jahrhundert; seine Behauptungen beruhen auf Verdrehungen früherer imperialistischer und kolonialistischer Ansprüche.

1959, 1960 und 1961 verabschiedete die UNO-Generalversammlung Resolutionen (1353 (XIV), 1723 (XVI) und 2079 (XX)), in denen die Menschenrechtsverletzungen Chinas in Tibet verurteilt wurden und das Land dazu aufgerufen wurde, die Menschenrechte und Grundfreiheiten des tibetischen Volkes zu respektieren und einzusetzen, einschließlich seines Rechts auf Selbstbestimmung.


Ohne moralisch zu werden und ohne Anklage beschreibt Xinran durch die Dramaturgie des Romans diese politische Situation Tibets mit. Ihre Stellungnahme für Tibet ist eindeutig, das Wort "Befreiung" der Tibeter durch die Chinesen setzt sie in Anführungszeichen. Ein engagierter Artikel im politischen Feuilleton einer Tageszeitung könnte die Zuwendung, die Xinran diesem Land gegenüber zeigt, nur unvollständig und distanzierter zum Ausdruck bringen. Das Dilemma der tibetischen Bevölkerung einschließlich der heutigen Problematik ist durch die Lebensgeschichte der Hauptperson der Erzählung sozusagen stellvertretend auf den Punkt gebracht:

1958. Die Chinesin Shu Wen und ihr Mann Kejun sind junge idealistische Ärzte. Sie sind erst 100 Tage verheiratet, als Kejun in den Krieg nach Tibet einberufen wird. Nur wenige Wochen später erhält Shu Wen die sehr unvollständige Nachricht vom Tod ihres Mannes. Sie kann daran nicht glauben und verzweifelt folgt sie ebenfalls als Ärztin in der Armee seinen Spuren nach Tibet. Ihr Konvoi erlebt mehrere grausame Überfälle und nimmt Zhuoma, eine junge Tibeterin, die sterbend am Wegesrand liegt, auf. Wen rettet Zhuoma und sie freunden sich an, denn die Tibeterin aus reichem Haus spricht auch chinesisch. Ihren jeweiligen Vermittlungen ist es zu verdanken, daß sie nach einem Überfall weiterreiten dürfen, aber schließlich entkommen nur noch Wen und Zhuoma knapp einem Unfall und werden von einer tibetischen Nomadenfamilie aufgenommen. Dreißig Jahre lang zieht Wen mit dieser Familie durch das Hochland Tibets, freut sich und leidet mit ihnen, wird unterschiedslos als eine von ihnen behandelt und lernt mit Zhuomas Hilfe Sprache, Religion und Gewohnheiten kennen. In all der Zeit hört Wen nicht auf, nach Kejun zu suchen, unterstützt und begleitet von den Menschen, mit denen sie lebt - und schließlich erfährt sie die Wahrheit über den Tod ihres geliebten Mannes, der ein sogenanntes "Himmelsbegräbnis" bekam, eine tibetische Luft- oder Vogelbestattung.

Zwei unwahrscheinliche Zufälle geben dem Inhalt des Romans noch einen zusätzlichen Reiz, denn sie sind nicht konstruiert, sondern authentisch: Zum einen hört Xinran als kleines Mädchen, wie sich die Leute auf der Straße in Peking die Geschichte über einen chinesischen Soldaten erzählen, der in Tibet den Tod eines Geiers mit seinem Leben bezahlt. Die Erinnerung daran läßt sie nicht mehr los. Dreißig Jahre später trifft Xinran Shu Wen, die Ehefrau jenes Soldaten und hört die Geschichte ihrer einzigartigen Liebe. Zum anderen erfährt Shu Wen durch Erzählungen auf einem Reiterfest von dem Eremiten Qiangba, der die Geschichte eines chinesischen Arztes kennen soll, durch dessen Vogelbestattung vor dreißig Jahren die Kämpfe zwischen den Tibetern und den Chinesen beendet wurden. Der Eremit ist der Mann, für den Kejun in den Tod gegangen ist.


Xinran ist eigentlich Radio-Journalistin. Im Jahr 1989 beginnt sie im chinesischen Rundfunk mit der Moderation der Abendsendung "Words on the Night Breeze". Acht Jahre lang leitet sie diese Sendung, die in ganz China bekannt und berühmt wird, ursprünglich konzipiert, um den Hörern Ratschläge zu geben, wie man die Schwierigkeiten des täglichen Lebens meistern kann. Durch ihre Reisen und Recherchen für "Words on the Night Breeze" hat Xinran einen tiefen Einblick in das Leben der Chinesinnen über mehrere Generationen hinweg bekommen. Auf einer der bei ihr eingegangenen Geschichten beruht auch die etwas längere Erzählung von Shu Wen.

1997 verließ Xinran China und lebt seither mit ihrem Sohn und ihrem Mann Toby Eady in England und arbeitet an der School of Oriental and African Studies an der Londoner Universität. Dort hat sie "Verborgene Stimmen" verfaßt, ihr erstes Buch und international ein großer Erfolg (in 50 Ländern und 22 Sprachen erschienen). Erst von London aus konnte sie mit Abstand über die Erfahrungen in China schreiben. "Himmelsbegräbnis" enthält keine Forderungen zur Befreiung Tibets. Die Probleme zwischen Chinesen und Tibetern werden im Roman recht unpolitisch durch Gespräche, Zuhören und gegenseitigen Respekt gelöst.


Xinran
Himmelsbegräbnis
Ein Buch für Shu Wen
Aus dem Englischen von Sigrid Langhaeuser
2004 by Xinran
Droemer Verlag, München 2005
175 Seiten, 18,- Euro
ISBN 3-426-27360-8