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REZENSION/101: Kein Gott in Sicht - Altaf Tyrewala (Indienroman) (SB)


Altaf Tyrewala


Kein Gott in Sicht

Aus dem Englischen von Karin Rausch



Altaf Tyrewala, in Bombay geborener Softwarespezialist mit Studium in New York, erweckt in diesem Roman den Anschein, als wolle er sich mittels der Dateifenster seines Computerprogramms Zugang zum Wesen seiner Geburtsstadt verschaffen. Leichthändig wie per Mausklick eröffnet er in "Kein Gott in Sicht" eine Großstädterperspektive nach der anderen und gleitet gleichsam wie mit einem Cursor über das jeweilige Fragment Leben. Allein dadurch vermittelt Tyrewala schon den Eindruck von urbaner Unrast und Unverbindlichkeit.

Die Personen, die Tyrewala jeweils kurz zu Wort kommen läßt, geben ihr Denken und Empfinden im Hinblick auf eine für sie aktuelle Frage oder Situation preis. Tyrewala verkettet diese An- und Einsichten, als handele es sich um Lebensfragmentdateien, locker assoziativ in aufeinander folgenden Kurzkapiteln: Von der frustrierten Ex-Poetin Mrs. Khwaja springt er zu ihrem nicht minder unzufriedenen Ehemann Mr. Khwaja, dann zu deren durch öde virtuelle Landschaften streifenden Sohn Ubaid, seiner ungewollt schwangeren Schwester Minaz, deren mit Selbstverachtung ringendem Abtreibungsarzt, dem Vater des Abtreibungsarztes, dessen sich mit Auswanderungsplänen tragendem Arbeitgeber, um dann mit einem Sprung in die Vergangenheit ein neues Kapitel zu beginnen. Vom Grundbesitzerssohn Babua geht's dort weiter zu Zail Singh, einem Sikh aus einem hinduistisch-moslemischen Dorf, weiter zu einem namenlosen Dorfbewohner, dann zu Suleiman, einem vor der Dorfsäuberungsaktion der Hindus flüchtenden Moslem, zu dessen ehemals vom Hinduismus zum Islam konvertierten Großvater, von dort zu Shazia-dadi, der Großmutter, weiter zu Nilofer, Suleimans Lebensgefährtin, und zu den jeweiligen Bewohnern von Apartment 1401, 1402, 1403 eines Hochhauses, in dem Nilofer Arbeit sucht, und so fort.

Keine eingrenzbare Fragestellung verbindet Tyrewalas Charaktere. Abgesehen von einigen wenigen Themen, mit denen er mehrere Personen in seinem Roman konfrontiert, haben alle recht unterschiedliche Probleme. Als Beispiel für ein häufiger aufgegriffenes Thema sei hier die Unversöhnlichkeit zwischen Hindus und Moslems genannt, wie Tyrewala sie in einer Szene zwischen einem Polizisten und einer hinduistischen Frau beschreibt, die versucht, ihren moslemischen Ehemann auf einer Polizeistation in Bombay als vermißt zu melden:

"Ja, Madam, das hier ist Hindustan, nicht Arabistan. Alles läuft hier so und nicht anders. Sie gehen jetzt, o.k.?"

Sie steht zögernd auf. "Aber ..."

Ich klatsche laut in die Hände. "Arrey-aye, Madam, genug jetzt" Wenn es Ihnen hier nicht paßt, nehmen Sie doch Ihren muslimischen Ehemann und ab nach Pakistan."
(S. 121)

Neben solchen in der Landesgeschichte begründeten Feindseligkeiten rückt Tyrewala auch die innere Leere und Beziehungslosigkeit des Städters häufiger in das Blickfeld seiner Protagonisten:

Ich schlafe unter einer Decke in meinem Bombay. (Vorzugsweise mit jemandem, der weggeht, bevor ich aufstehe; was bleibt, sind Haare auf meinem Kissen und Spuren eines schalen Parfums auf meinen Laken.)

Sobald ich aufwache, stelle ich mein Handy an. Und wenn ich dann mit verschränkten Beinen auf der Bettkante sitze, versuche ich zu meditieren, wie es auf der Managerkonferenz letzte Woche vorgeführt wurde.
(S. 173)

Gerade die wie zufällig miteinander verknüpften Personen- und Themenfragmente sollen Tyrewalas Bombay-Beschreibung Authentizität und objektiven Charakter verleihen. Doch das Collagenhafte seiner Ausführungen bewahrt ihn nicht vor der Einschränkung durch die eigene Subjektivität. Diese äußert sich bei Tyrewala darin, daß sich die verschiedenen Kapitel-Protagonisten trotz unterschiedlichster Schichtzugehörigkeit und Lebenssituation in ihrer distanzierten, vom Leben und sich selbst enttäuschten bis angenervten Grundhaltung kaum unterscheiden. Für diese Übereinstimmung allein das Großstadtambiente verantwortlich zu machen, wäre doch etwas zu simpel. "Und obwohl man unfähig ist, sich wirklich in andere hineinzuversetzen..." (S. 131), läßt Tyrewala einen seiner Charaktere sagen und tut damit kund, daß ihm die Problematik, beim vermeintlichen Sehen mit den Augen anderer doch immer wieder auf die eigenen Grenzen zu stoßen, durchaus vertraut ist.

Die unverwechselbare Atmosphäre einer bestimmten Großstadt einzufangen, wie es Gustav Meyrink in seinem 1916 erstmals veröffentlichten Roman "Das grüne Gesicht" mit dem damaligen Amsterdam beispielhaft gelang, so daß mancher Leser nach der Lektüre des Romans sogar fest überzeugt war, höchstselbst durch die Straßen dieser Stadt gewandert zu sein, gelingt Tyrewala im Hinblick auf Bombay nicht ganz. Grund dafür könnte die allzu weitgehende Reduzierung seiner Charaktere auf ihre Gedanken und sozialen Interaktionen sein. Durch die oft nur rudimentär bearbeitete Verbindung zwischen Personen und Umgebung verlieren erstere mitunter derart an Plastizität, daß sie mit anderen Großstädtern irgendwo auf der Welt austauschbarer erscheinen, als dem Autor lieb sein kann. Zur Veranschaulichung des Gegenteils hier ein kurzer Abschnitt aus Meyrinks oben erwähntem Roman:

Die Stadt lag in tiefer Dämmerung, und das hallende Dröhnen von den zahllosen seltsam geformten Türmen und ihre Glockenspiele zitterten durch den Dunst, als die ersten Häuserreihen ihn aufnahmen. Er entließ den Wagen und ging der Richtung zu, in der seine Wohnung lag, durch winklige Gassen, Grachten entlang, in denen regungslos schwarze plumpe Kähne schwammen, eingetaucht in eine Flut fauler Äpfel und verwesenden Unrats, unter Giebeln mit eisernen Hebearmen hinweg, die aus vornübergeneigten Mauern sich im Wasser spiegelten.

An den Türen saßen gruppenweise auf Stühlen, die sie aus ihren Stuben geholt hatten, Männer in blauen weiten Hosen und roten Kitteln, Weiber flickten schwätzend an Netzen, und Scharen von Kindern spielten auf der Straßen.

Rasch schritt er hindurch an den offenen Hausfluren vorbei, die ihn anhauchten mit ihrem Atem von Fischgeruch, Arbeitsschweiß und ärmlichem Alltag, über Plätze hin, wo an den Enden die Waffelbäcker ihre Stände aufgeschlagen hatten und ein Brodem von brenzlichem Schmalzdampf bis in die schmalen Gassen zog.

Die ganze Trostlosigkeit der holländischen Hafenstadt mit dem sauber gewaschenen Pflaster und den unsagbar schmutzigen Kanälen, den wortkargen Menschen, dem fahlweißen Netzwerk der kleinen Schiebefenster an den engbrüstigen Häuserfassaden, den engen Käse- und Heringsläden mit ihren schwelenden Petroleumlichtern und den giebligen rotschwärzlichen Dächern, legte sich ihm auf die Brust.
(aus: Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur, München, ISBN 3-426-04110-3, Seite 40/41)

Auch wenn Tyrewalas Bombay dazu vergleichsweise kontur- und farblos wirkt, vermittelt er in seinem Roman "Kein Gott in Sicht" doch höchst eindrücklich jene hohle Unrast des Yuppy, der vor der inneren Leere flüchtet und sie nur immer weiter vergrößert, je mehr Menschen und Dinge er dazu mißbraucht, diese innere Leere für kurze Zeit zu vergessen. Die Tatsache, daß es sich bei der Stadt, die dieses Lebensgefühl hervorruft, um Bombay handelt, tritt dabei hinter die Beschreibung urbaner Mißbefindlichkeit zurück. Vergleiche mit den Einwohnern von New York drängen sich auf, einer Stadt, deren Atmosphäre sicherlich in das vorliegende Werk eingeflossen ist.

Bemerkenswert sind unter Tyrewalas Charakteren besonders jene, die mittels einiger weniger sozialer Interaktionen Grundmenschliches zum Ausdruck bringen, das schriftstellerisch selten so greifbar und verstehbar herausgearbeitet wird. Um dieser Charaktere willen ist Tyrewalas Roman unbedingt lesenswert. So beschreibt er beispielsweise im folgenden das Zusammentreffen einer Nachtbar-Tänzerin, die sich abends von einem Taxi nach Hause fahren läßt, mit einem Bettler an einer Straßenkreuzung:

Am selben Abend, viel später

Ein schmutziger, abstoßender Bettler wollte nach einem erfolglosen Tag sein Glück noch ein letztes Mal versuchen, stand vom Fußweg auf und näherte sich dem Taxi. Er flehte die einsame Frau auf dem Rücksitz um etwas Kleingeld an.

Die Frau, deren Wangen mehr schmerzten als ihre Beine (denn mehr als das Tanzen war es die Vorspiegelung von Entzücken, die sie jeden Abend erschöpfte), unterdrückte ihre menschenfreundlichen Instinkte. Heute abend ließ sie die Hände schlaff auf ihrer Handtasche liegen, in der vierhundertundsechzig Rupien in Zehnerscheinen lagen, die sie als Trinkgeld von Gästen bekommen hatte.

Der Bettler legte seine Hände auf die Fensterkante des Taxis. Die Frau würde kein Almosen geben. Auch würde sie nicht ihre Stirn berühren und den Bettler um Vergebung bitten. Heute abend würde sie seinesgleichen nicht einmal anschauen.

"Aye, Memsaab, in Gottes Namen, etwas Geld für Essen" und andere uralte Bittformeln wirkten nicht.

Die Frau hob die Hand. Der Bettler schöpfte Hoffnung. Die Frau tastete nach der Kurbel auf der Innenseite der Taxitür. Sie drehte sie im Uhrzeigersinn, und mit jeder Drehung der Kurbel hob sich das durchsichtige Fenster Stück für Stück wie eine Fahne.

Der Bettler zog seine Hände zurück.

Die Frau hatte sich im Innern des Taxis verbarrikadiert, den Blick starr nach vorn auf die Straße gerichtet.

Der Bettler drehte sich um und ging zum Gehweg zurück. Er legte sich unter das Dach einer Bushaltestelle. Hinter ihm fuhr das Taxi schnell davon.

Er bedauerte, es überhaupt versucht zu haben. Was für eine Verschwendung kostbarer Energie. Der Bettler glaubte, er habe nichts von der Frau im Taxi bekommen.

Er hatte unrecht.

Er hatte etwas bekommen. Das Virus war übergesprungen. Die Rechnung war beglichen.

Die Frau im Taxi hatte den Bettler - einen Mann, einen Stellvertreter dieser verabscheuenswerten Art - den Schmerz seiner eigenen Bedeutungslosigkeit erleiden lassen.

[Nicht, daß das besonders viel gebracht hätte.]

(S. 168/169)

Das Erleidenlassen von Bedeutungslosigkeit als Weiterverbreiten eines Virus zu beschreiben, konkretisiert diesen oft nur metakommunikativ stattfindenden Vorgang zu einer absichtlich herbeigeführten Schädigung mit unabsehbaren Folgen. Die Infizierung der Umgebung mit diesem Virus, tagtäglich, im nebenherein, oft ohne darüber nachzudenken, läßt die Eskalation von Ignoranz und Brutalität in den Großstädten nicht mehr ganz so verwunderlich und unvermeidlich erscheinen. Dennoch enthält Tyrewala sich jeder sozialkritischen Belehrung und läßt seine Szenarien für sich selbst sprechen, was dem Leser dankenswerterweise den moralischen Zeigefinger erspart.

"Kein Gott in Sicht" ist als Debütroman zweifellos interessant und wirft sogleich die Frage auf, ob Tyrewalas "Windows"-Schreibstil hier nur Mittel zu Zweck ist, um die Großstadtatmosphäre zu betonen, oder aber auf eine grundlegend fragmentarische Weltsicht schließen läßt. Sollte letzteres der Fall sein, bliebe der Trost, daß zumindest einige der Fragmente, die Tyrewala auf seine besondere Art präsentiert, über zwischenmenschliche Verhältnisse mehr aussagen als bei anderen Autoren ein ganzer Roman.

26. April 2007


Kein Gott in Sicht
Altaf Tyrewala
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2006
184 Seiten
ISBN 3-518-41846-7
ISBN 978-3-518-41846-8