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REZENSION/115: R. Kaiser (Übersetzer) - Der abenteuerliche Simplicissimus (SB)


Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen:
Der abenteuerliche Simplicissimus
Deutsch. Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts
und mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser.


Die Übersetzung aus dem Frühneuhochdeutschen in modernes Deutsch - ein Eigentor?



Der "Simplicius Simplicissimus" von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen ist jetzt "übersetzt" in modernes Deutsch - diese Botschaft bietet heute mindestens genauso viel Anstoß zu einem Disput wie er zur Zeit der Erscheinung des Romans 1668 mit seiner desillusionierenden Sicht der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts und des Kriegs schlechthin reiche Aufmerksamkeit erlangte. In der Tat ist die Übertragung bzw. Anpassung eines alten sprachlichen Zeugnisses, in dem sich gerade durch Wörter, Redewendungen und geistesgeschichtliche Anspielungen die vergangenen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen spiegeln, alles andere als eine harmlose Idee; die Problematik ist umfangreicher und dringlicher, als sie auf den ersten Blick erscheint. Im folgenden soll, allen weiteren Gedanken zum vorliegenden Werk vorausgeschickt, kurz angedeutet werden, mit welchen Auswirkungen es die deutsche Sprachgemeinschaft zu tun bekommen kann, wenn sich die neuen sprachlichen Optionen unter Anpassungsbestrebungen (nicht nur durch Übersetzung) auftun.

Die Wissenschaft, die sich mit deutscher Literatur und Sprache befaßt, die Germanistik, ist durch Reformen ein zersplittertes Fach geworden, das obendrein in eine internationale und interdisziplinäre Zukunft transportiert werden soll. Eine ganze wissenschaftliche Disziplin ist verunsichert, ja, wird langsam vernichtet, denn die europäische Vereinnahmung des Fachs und die Sprachangleichung bedeuten nicht nur eine Reduktion der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch eine durch staatliche, finanzielle Entscheidungen geförderte Vernichtung bestimmter inhaltlicher Richtungen. Statt einer Konzentration auf ihre Kernkompetenz geht es heute um Berufsvorbereitung und um europäische Identitätsfindung. Ein "kultureller Kanon" existiert also nicht mehr, Wissenschaft muß zu etwas von Nutzen sein. Hinzu kommt die geradezu anbiedernde Bereitschaft, auf die eigene Sprache zu verzichten, um Internationalität zu demonstrieren. Deutsch erscheint verstaubt und provinziell. In den modernen Modulen der Studiengänge kommt die ursprüngliche Materie der Germanistik nicht mehr vor (Literatur- und Sprachgeschichte). Der Druck, sich in eine hypertext-mulitmedia- fremdsprachenoffene Kulturwissenschaft zu verändern, scheint das Ende der akademischen Wissenschaft Germanistik zu sein. Sie vermeidet es, sich über den Gegenstand "deutsche" Literatur zu definieren, um sich international zu öffnen.

Germanistisches Fachwissen bleibt nur noch einigen wenigen Forschern hinter den verschlossenen Türen des anspruchsvollsten Studiengangs vorenthalten, einer Elite, und wird somit ein Privileg der "Gebildeten" werden. Die Konsequenz könnte die Verstärkung einer Entwicklung sein, welche die Gesellschaft in zwei Klassen trennt, denn das Wissen über die Sprachverwendung ist keine bloße Formfrage, da Sprache ein Instrument ist, mit dem man Menschen beeinflussen bzw. beherrschen und Inhalte gestalten kann.

Entsprechend zeigt sich heute schon, daß die Sprachfähigkeit des deutschen Nachwuchses deutlich abgenommen hat. Die Möglichkeit, komplexe Texte noch lesen und verstehen oder gar schreiben oder sprechen zu können, ist bei vielen Schülern und auch Studenten in den ersten Semestern sehr schwach. Damit schwindet zugleich das Vermögen, Widersprüche überhaupt erkennen und formulieren zu können. Auch einen Standpunkt zu benennen oder zu formulieren, verliert sich, wichtig sind nur noch die Informationen, nicht ihre Auswertung. Heute begnügt man sich mit kurzen, oberflächlichen Statements, die man wechseln kann, und gibt sich beweglich - tauglich für ein erfolgreiches Management seines Lebens in einer Gesellschaft, die auch den letzten Freiraum für die Entwicklung kritischen Denkens, die Sprache, systematisch einschränkt. Was bleibt, ist nicht einmal mehr die Erinnerung an einen Mangel, sondern reine Unkenntnis.

Diese vorab formulierten Tendenzen haben im weitesten Sinne sicher Reinhard Kaiser veranlaßt, den "Simplicius" zu übersetzen. Es besteht im Zeitalter der elektronischen Medien die Gefahr, daß auch das literarische Lesen zugunsten des informativen Lesens zurückgeht und die Klassiker der deutschen Literaturgeschichte endgültig in Vergessenheit geraten könnten. Kaum ein Leser bedient sich noch der literarischen Überlieferung, denn es scheint keine zeitgemäße Begründung mehr zu geben, warum man sich rationaler und zweckmäßiger Weise auf intellektuelle, philosophische und politische Denkweisen vergangener Zeiten - sprich Literatur - konzentrieren sollte. Die Mühe, sich in die Geschichte des deutschen Sprachsystems einzudenken, wird als ineffektiv abgetan. Nicht nur das Vokabular hat sich verändert, auch die Vorstellungen - besser, die ganz andere Weltanschauung -, die man mit den einzelnen Worten verbunden hat, sind uns nicht mehr geläufig. "Die Unverständlichkeiten häufen sich", schreibt Reinhard Kaiser in einem fiktiven "Werkstattgespräch" mit Grimmelshausen selbst, in dem er die Gründe nennt, die ihn zur Übersetzung veranlaßt haben (S. 716). Eine Übersetzung sei immer auch ein Interpretieren bzw. "eine ziemlich brutale Operation. Aber gekürzt, gesäubert und zensiert wird dabei nicht." (S. 715).

Auch wenn Kaiser bestrebt ist und die Notwendigkeit formuliert, den Inhalt möglichst genau wiederzugeben, legt er doch auf die Leserfreundlichkeit den Schwerpunkt. Der "Lesefluß" will sich sonst nicht "einstellen". Das Ergebnis sollte eine "verständliche Ausgabe" sein. Der heutige Leser stehe vor der schwierigen Wahl:

Entweder er liest langsam, hält bei jedem Stutzpunkt inne und räumt ihn mit eigenem Nachdenken aus dem Weg. Dann wird das Lesen ausgebremst und verwandelt sich in ein Entziffern, in ein Übersetzen im Kopf. Für manche Leser, für die Übersetzer unter ihnen, kann das einen großen Reiz haben. Es ist aber nicht jedermanns Sache. Oder der Leser liest, wie er es gewohnt ist: zügig - und merkt bald, wie er nicht mehr alles mitbekommt. Eine Dunstschicht scheint sich über den Text zu legen [...].
(S. 718)

Die Veränderungen der deutschen Sprache, die vor allem die Bedeutung der Wörter und die Syntax betreffen, berücksichtigt Kaiser zwar einfühlsam, sie sind aber auch problematisch für die Wirkung des Textes, der damit an Lebendigkeit erheblich verliert. Grimmelshausen bildet zum Beispiel einen für heutige Gewohnheiten anstrengend zu lesenden komplexen Satzbau, den Kaiser vereinfacht. Die schroffen Gegensätze der Zeit (Armut, Hunger, Pest und Dreißigjähriger Krieg einerseits, Reichtum und Prunk absolutistischer Höfe und des aufstrebenden Bürgertums andererseits) und Grimmelshausens gesellschaftskritische Bissigkeiten kommen in der Übersetzung nur gedämpft zum Vorschein. Kaiser weiß das selbst:

Es wäre allerdings vermessen, zu behaupten, dass bei dieser Operation, wenn der Übersetzer nur genügend Treue walten lässt, nichts verlorenginge. Manches, auch manches Reizvolle, geht beim Übersetzen unter. Das ist unvermeidlich. Aber anderes kommt, wenn die Sache gelingt, wieder zum Vorschein oder lässt sich auf diese Weise sichtbar machen. Ich hoffe jedenfalls, dass diese Übersetzung denen, die sie nun lesen werden, zu Entdeckungen verhilft, mit denen sie nicht gerechnet haben.
(S. 718)

Bei aller Sorge, daß der Roman Grimmelshausens in die Bedeutungslosigkeit versinken könnte, stellt sich die Frage, ob die Entscheidung, seine Sprache zu verändern, nicht ein großer Vorschub in die Richtung ist, die gerade von seinem Bewunderer, dem Übersetzer selbst, nicht gewünscht wird. Die Probleme, die beim Lesen des Originals entstehen, zu glätten, bedeutet, sich an einem zweifelhaften Sprachentwicklungsprozeß zu beteiligen, der die Reste des Wissens um die deutsche Sprache versiegen läßt und den Roman zu nicht mehr als einem spannenden, exotischen "Schmöker" macht. Es fehlt beim Lesen der Hintergrund, eine Auseinandersetzung mit der deutschen Sprachgeschichte, deren aktuelle Dringlichkeit aufgrund der oben genannten Sachlage mehr als selbstverständlich sein dürfte. Statt dessen wird gerade dort der Sprachanpassung der Vorrang gegeben, wo es naheliegen würde, die reichen Möglichkeiten, die das Frühneuhochdeutsche bietet, eventuell neu zu erschließen und sogar fortzuentwickeln. Was hier nur angedeutet werden soll, ist, daß die Kenntnisse dazu in der deutschen Sprache selbst enthalten sind, denn sie ist eine sogenannte "flektierende" Sprache, (die grammatischen Beziehungen zwischen den Wörtern werden mit Hilfe von Affixen und teilweise durch Wurzelflexion gebildet). Dadurch entsteht zum einen ein sehr variabler Satzbau, zum anderen eine besonders flexible Wortbildungsfähigkeit. Der Sprecher kann spontan neue Wörter bilden, die sofort verstanden werden, was eine Voraussetzung sein kann, sich auf sprachgeschichtliche Prozesse des Deutschen einzulassen.

Das Frühneuhochdeutsche wird auf den Zeitraum von etwa 1350 bis 1650 festgelegt, dem ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit. Die Sprache veränderte sich zu dieser Zeit erheblich, eine Reihe von Lautwandlungsprozessen lösten das Mittelhochdeutsche ab und der Wortschatz wurde durch Luthers Bibelübersetzung, seine Lieddichtungen und durch das umfangreiche Reformationsschrifttum enorm erweitert. Der Aufstieg der Universitäten, die Erfindung des Buchdrucks, neue, gebietsgebundene Kanzleien und das Entstehen eines gebildeten Stadtbürgertums förderten die Verbreitung neuer Sprach- und Schriftformen. Als langsam übergreifende Schriftsprache verdrängte das Frühneuhochdeutsche allmählich das Latein der staatlichen Administration und wurde identitätsgreifend; es wollte sich von Fremdeinflüssen lösen und Standesunterschiede ausschalten (siehe das Anliegen der sogenannten "Sprachgesellschaften", zu denen auch Grimmelshausen gehörte.)

Die alte Sprache ist für uns vor allem deshalb schwierig zu verstehen, weil uns die Geisteswelt und der Alltag des 17. Jahrhunderts heute nicht mehr oder nur noch in Ansätzen vertraut sind. Diese türmen sich aber mit atemberaubender Lebendigkeit vor uns auf, wenn wir die Quelle, die zeitgemäße Sprache, lesen, die unschlagbar reichhaltig an Ausdruckskraft ist. Unsere moderne Sprache wirkt dagegen betrachtend, distanziert, unbeweglich, unpräzise und kalt. Daran kann auch Reinhard Kaiser nichts ändern, auch wenn ihm laut Klappentext das "Kunststück" gelungen sein soll, "Rhythmus, Ton und Geist des ursprünglichen Textes, seine Tiefe und seinen übersprudelnden Witz wieder präsent werden zu lassen. Man darf von einem literarischen Wunder sprechen", wofür er den Grimmelshausen-Sonderpreis 2009 erhielt.

Tatsächlich können die "Tiefe" und der "übersprudelnde Witz" in Grimmelshausens Roman dadurch zwar gedämpft werden, daß bestimmte Wortinhalte nicht mehr bekannt und damit nicht ersetzbar sind (z.B. die Bezeichnungen für Stich- und Hiebwaffen oder landwirtschaftliche Werkzeuge) und zeitgeschichtliche Kenntnisse fehlen (z.B. für politische Zusammenhänge oder Moralvorstellungen und gelehrte Exkurse mit damals geläufigen Anspielungen aus der griechischen Mythologie), aber sie werden durch die vorliegende "Übersetzung" nicht erst wieder "präsent" gemacht, sondern sind - im Gegenteil - trotz Verarmung der Ausdruckskraft des modernen Deutsch nicht völlig ausgeschaltet.

Hans Jakob Christoph von Grimmelshausens Roman "Simplicius Simplicissimus" ist einer der großen Romane der Weltliteratur und der wohl bedeutendste des 17. Jahrhunderts. In einer fiktiven Autobiographie wird zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges die Lebensgeschichte des "Simplicius" erzählt, der unwissend im Spessarter Wald aufwächst und nach der Vernichtung des Bauernhofes seines "Knan" (Vaters) durch brandschatzende und folternde Soldaten Zuflucht bei einem Einsiedler im Wald findet - wie sich später herausstellt, seinem eigentlichen Vater. Von ihm wird er christlich erzogen und lernt lesen und schreiben. Nach dem Tod des Einsiedels kommt Simplicissimus unter die Obhut des Hanauer Stadtkommandanten, wo er in Narrenkleider gesteckt wird und die Erkenntnis gewinnt, daß diejenigen die Narren sind, die er unterhalten soll. Er sagt als Narr der Hanauer Offiziersgesellschaft die Wahrheit, entlarvt Konkurrenz, Intrigen, Laster und Geldgier. Durch umherschweifende Kroaten wird er dann entführt. Nach seiner Befreiung dient er als Knecht eines Dragoners in einem Kloster, dann macht er sich als "Jäger von Soest" bei den Kaiserlichen Truppen einen Namen, gerät wieder in Gefangenschaft, wird später zu einer ungewollten Ehe gezwungen, reist nach Paris, wo er in der höheren Gesellschaft als Liebhaber verkehrt, an Blattern erkrankt und als Quacksalber nach Deutschland zurückreist, mit einem schwedischen Oberst nach Moskau kommt und schließlich gegen die Tartaren kämpft. Er gewinnt ein Vermögen, verliert es wieder und zieht sich am Ende als Eremit zurück, zunächst in den Schwarzwald, dann auf eine einsame Insel. Die Erfahrungen, die er in seinem Leben macht, lassen ihn zu dem Schluß kommen, daß der Krieg ein Kampf aller gegen alle ist und daß in der Wirklichkeit nichts Bestand hat.

Die hier präsentierte desillusionierende Sicht der Welt wird in Form eines Pikaroromans erzählt (picaro, spanisch: Schelm), in dem einseitig die Perspektive der Unterdrückten (Soldaten, Landstreicher, Schausteller, Bettler, Diebe, Dirnen usw.) eingenommen wird, die mit Krieg, Armut, Hunger, Verzweiflung und Gewalt zu kämpfen haben. Ganz biographisch ist diese Schilderung Grimmelshausens allerdings nicht. Er hat wohl sechs oder sieben Jahre eine Lateinschule besucht, aber wegen der Kriegswirren nicht studiert, was seine gesellschaftlichen Aufstiegschancen einschränkte. Grimmelshausen war ein Außenseiter der Gesellschaft, zählte weder zu den Adligen, noch zu den einfachen Leuten. Durch Heirat wurde er ein Angehöriger des aufstrebenden, einflußreichen Bürgertums, wo er sogar als Verwalter Gelder eintreiben mußte und Polizeigewalt und niedere Gerichtsbarkeit ausübte. Auch wenn er sich nachdrücklich für die Belange seiner Untertanen einsetzte, war er offiziell ein Vertreter der Obrigkeit - nicht gerade zum Simplicius passend.

Um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie man die Welt Grimmelshausens erfassen kann, wenn die Originalsprache von ihr erzählt, um zu testen, ob sie einem fern und unlesbar erscheint, weil sich die Semantik der Wörter im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat, ob eine "Übersetzung" etwa die Möglichkeit geschichtlicher Kenntnis und Erkenntnis beeinträchtigt oder raubt und wie sich mit dem Erforschen ausgestorbener Begriffe eine andere Art zu denken vermitteln kann, sei zum Schluß eine Leseprobe in Grimmelshausens Sprache angefügt:

Das 27. Kapitel

Dem Secretario wird ein starker Geruch in die Kanzlei geräuchert

Meines Herrn Gunst vermehrte sich täglich, und wurde je länger je größer gegen mich, weil ich nicht allein seiner Schwester, die den Einsiedel gehabt hatte, sondern auch ihm selbsten je länger je gleicher sah, indem die guten Speisen und faulen Tag mich in Kürze glatthaarig machten. Diese Gunst genoß ich bei jedermänniglich, denn wer etwas mit dem Gubernator zu tun hatte, der erzeigte sich mir auch günstig, und sonderlich mochte mich der Secretarius wohl leiden; indem mich derselbe rechnen lernen mußte, hatte er manche Kurzweil von meiner Einfalt und Unwissenheit; er war erst von den Studien kommen und stak dahero noch voller Schulpossen, die ihm zuzeiten ein Ansehen gaben, als wenn er einen Sparren zu viel oder zu wenig gehabt hätte, er überredete mich oft, schwarz sei weiß und weiß sei schwarz, dahero kam es, daß ich ihm in der erste alles und aufs letzte gar nichts mehr glaubte: Ich tadelt ihm einsmals sein schmierig Tintenfaß, er aber antwortet', solches sei sein bestes Stück in der ganzen Kanzlei, denn aus demselben lange er heraus was er begehre, die schönsten Dukaten, Kleider, und in Summa was er vermöchte, hätte er nach und nach herausgefischt: Ich wollte nicht glauben, daß aus einem so kleinen verächtlichen Ding so herrliche Sachen zu bekommen wären; hingegen sagt' er, solches vermög der Spiritus Papyri (also nennet er die Tinten) und das Tintenfaß würde darum ein Faß genennet, weil es große Sachen fasse: Ich fragte, wie mans denn herausbringen könnte, sintemal man kaum zween Finger hineinstecken möchte? Er antwortet', er hätte einen Arm im Kopf, der solche Arbeit verrichten müsse, er verhoffe sich bald auch ein schöne reiche Jungfrau herauszulangen, und wenn er das Glück hätte, so getraute er auch eigen Land und Leut herauszubringen, welches wohl ehemals geschehen wäre: Ich mußte mich über diese künstlichen Griff verwundern, und fragte, ob noch mehr Leute solche Kunst könnten? "Freilich", antwortet' er, "alle Kanzler, Doktorn, Secretarii, Prokuratorn oder Advokaten, Commissarii, Notarn, Kauf- und Handelsherren, und sonst unzählig viel andere mehr, welche gemeiniglich, wenn sie nur fleißig fischen, zu reichen Herren daraus werden." Ich sagte: So sind die Bauren und andere arbeitsam Leut nicht witzig, daß sie im Schweiß ihres Angesichts ihr Brot essen und diese Kunst nicht auch lernen." Er antwortet': "Etliche wissen der Kunst Nutzen nicht, dahero begehren sie solche auch nicht zu lernen; etliche wollens gerne lernen, manglen aber des Arms im Kopf oder anderer Mittel; etliche lernen die Kunst und haben Arms genug, wissen aber die Griff nicht, so die Kunst erfordert, wenn man dadurch will reich werden; andere wissen und können alles was dazu gehört, sie wohnen aber an der Fehlhalden, und haben keine Gelegenheit wie ich, die Kunst rechtschaffen zu üben."

Als wir dergestalt vom Tintenfaß (welches mich allerdings an des Fortunati Säckel gemahnet') diskurrierten, kam mir das Titular-Buch ohngefähr in die Händ, darinnen fand ich, meines damaligen Dafürhaltens, mehr Torheiten, als mir bishero noch nie vor Augen kommen; ich sagte zum Secretario: "Dieses alles sind ja Adamskinder, und eines Gemächts miteinander, und zwar nur von Staub und Aschen! Wo kommt dann ein so großer Unterschied her? Allerheiligst, Unüberwindlichst, Durchlauchtigst! Sind das nicht göttliche Eigenschaften? hier ist einer Gnädig, dort ist der ander Gestreng; und was muß allzeit das Geborn dabei tun? man weiß ja wohl, daß keiner vom Himmel fällt, auch keiner aus dem Wasser entstehet, und daß keiner aus der Erden wächst, wie ein Krautskopf; warum stehen nur Hoch- Wohl- Vor- und Großgeachte da, und keine Geneunte? oder wo bleiben die Gefünfte, Gesechste und Gesiebente? was ist das für ein närrisch Wort: Vorsichtig? welchem stehen denn die Augen hinten im Kopf?" Der Secretarius mußte meiner lachen, und nahm die Mühe, mir eines und des andern Titel und alle Wort insonderheit auszulegen, ich aber beharrete darauf, daß die Titel nicht recht geben würden, es wäre einem viel rühmlicher, wenn er Freundlich tituliert würde, als Gestreng; item, wenn das Wort Edel an sich selbsten nichts anders als hochschätzbarliche Tugenden bedeute, warum es dann, wenn es zwischen Hochgeborn (welches Wort einen Fürsten oder Grafen anzeige) gesetzt werde, solchen fürstlichen Titel verringere? das Wort Wohlgeborn sei eine ganze Unwahrheit, solches würde eines jeden Barons Mutter bezeugen, wenn man sie fraget', wie es ihr bei ihres Sohns Geburt ergangen wäre?

Indem ich nun dieses also belachte, entrann mir ohnversehens ein solcher grausamer Leibsdunst, daß beides ich und der Secretarius darüber erschraken; dieser meldet' sich augenblicklich sowohl in unsern Nasen als in der ganzen Schreibstuben so kräftig an, gleichsam als wenn man ihn zuvor nicht genug gehöret hätte. "Troll dich du Sau", sagt' der Secretarius zu mir, "zu andern Säuen in Stall, mit denen du Rülp besser zustimmen, als mit ehrlichen Leuten konversieren kannst!" Er mußte aber sowohl als ich den Ort räumen, und dem greulichen Gestank den Platz allein lassen. Und also habe ich meinen guten Handel, den ich in der Schreibstub hatte, dem gemeinen Sprichwort nach auf einmal verkerbt.
(http://gutenberg.spiegel.de, Ausgabe: Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen, Simplicius Simplicissimus, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1975)

Allein an dieser kleinen Textstelle kann man in der Übersetzung einen Bedeutungswandel mancher Wörter finden. Mit den alten Wörtern, die durchaus verständlich sind, erschließt sich eine andere Denkweise:

"die den Einsiedel gehabt hatte" = mit dem Einsiedel verheiratet gewesen war
"was er vermöchte" = was er sich nur wünsche
"eigen Land und Leut" = eigenes Land und eigene Diener
"eines Gemächts miteinander" (von "gemaht", Genitalien, Hoden) = alle miteinander von der gleichen Art
"meinen guten Handel" = mein gutes Ansehen


Und hier noch einige Übersetzungen von Reinhard Kaiser aus diesem Kapitel, an denen man für sich selber testen kann, ob sie beim Lesen wichtig für das Verständnis gewesen wären:

glatthaarig machten = ein gepflegteres Aussehen verschafften
bei jedermänniglich = bei vielen
manche Kurzweil = seinen Spaß
überredete mich oft = er machte mir vor
lange er heraus = ziehe er alles hervor
solches vermög = das bewirke
so getraute er auch = so werde es ihm wohl auch gelingen
diese künstlichen Griff = diese kunstvollen Griffe
gemeiniglich = meistens
nicht witzig sein = ziemlich dumm sein
etliche = manche !
wenn man dadurch will reich werden = wenn man mit ihr reich werden will (Satzstellung)
wohnen aber an der Fehlhalden = wohnen aber am falschen Ort
die Kunst rechtschaffen zu üben = die Kunst richtig auszuüben
diskurrierten = diskutierten
meines damaligen Dafürhaltens = so wie ich die Dinge damals verstand
auch keiner aus dem Wasser entstehet = keiner aus dem Wasser steigt
nahm die Mühe = gab sich die Mühe
nun dieses also belachte = mich nun über dies alles lustig machte
auf einmal verkerbt = auf einen Schlag vergeigt


*


Der neue Simplicissimus ist auch, von Felix von Manteuffel gelesen, zu hören.

15. März 2010


Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen:
Der abenteuerliche Simplicissimus
Deutsch. Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts
und mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser.
Einbändige Ausgabe des 296. und 297. Bandes
der Anderen Bibliothek, Eichborn Verlag,
Frankfurt am Main, 2009
762 Seiten,
ISBN 978-3-8218-4769-6