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REZENSION/125: Pinar Selek - Halbierte Hoffnungen (SB)


Pinar Selek


Halbierte Hoffnungen



Istanbul, 1980. Nach dem Militärputsch kämpfen die jungen Istanbuler Hasan, Sema, Salih und Elif gegen die bedrückende Perspektivlosigkeit und die schmerzlichen Verluste dieser Jahre. Von ihren Wurzeln gewaltsam losgelöst, begeben sie sich auf die bewegende Suche nach sozialer und politischer Zugehörigkeit und nach dem eigenen Ich. Schließlich müssen sie sich entscheiden: illegaler bewaffneter Kampf oder friedlicher Widerstand, Heimat und Vertrautheit oder Ferne, Exil oder Verfolgung, Familie oder Unabhängigkeit.
(Klappentext)

Ein interessantes Thema, denkt man. Sahen sich in der Zeit, als in Deutschland Hausbesetzungen stattfanden, gegen öffentliche Rekrutenvereidigungen demonstriert und gegen das Atomlager Gorleben ein Hüttendorf errichtet wurde, die Menschen in der gar nicht so weit entfernten Türkei mit einer viel brutaleren Macht konfrontiert?

Was hatte in der Türkei zum Militärputsch am 12. September 1980 geführt? Diese Frage ist gerade heute mit Blick auf das drangsalierte Griechenland, das unter der Knute der EU gezwungen wird, seiner Bevölkerung rigideste Sparmaßnahmen aufzuzwingen, besonders wichtig:

Damals war die aufgrund des seit 1974 gestiegenen Ölpreises hoch verschuldete Türkei zur Abwendung des Staatsbankrotts gezwungen gewesen, einen Drei-Milliarden-Dollar-Kredit aufzunehmen. Das hatte für die Menschen jedoch existenzielle Folgen. Die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) geforderten Bedingungen lauteten nämlich: Aufhebung des Streik- und Tarifrechts, Einfrieren der Löhne und Gehälter, Privatisierungen, Abwertung der Währung, Senkung der Staatsausgaben im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich und Senkung der Zuschüsse für Lebensmittel. Damit war die Bevölkerung natürlich ganz und gar nicht einverstanden. Gegen die Massenentlassungen und Privatisierungen streikten vor allem Metall-, Glas- und Textilarbeiter, die sich in der Föderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften DISK organisiert hatten. Im September befanden sich etwa 55.000 Arbeiter im Streik, weitere 300.000 drohten in den Ausstand zu treten. Die Umsetzung des IWF-Anpassungsprogramms konnte also nur mit schlimmster Repression durchgesetzt werden. Das Militärregime ging mit Massenverhaftungen, Dorfrazzien und Todesschwadronen gegen die Bevölkerung vor. 650.000 Menschen wurden verhaftet und über 500 von ihnen offiziell hingerichtet.

Von all dem erfährt man in diesem Buch jedoch so gut wie nichts. Ja es scheint gerade so, als existierte die Militärdiktatur in dem von Pinar Selek geschriebenen Roman "Halbierte Hoffnungen" überhaupt nicht, obwohl er ja, wie man meinen sollte, nicht umsonst in jene Zeit verortet worden ist. Nur der Umstand, daß Elifs Vater als Gewerkschafter im Gefängnis war und die gerade zweiseitige Beschreibung der Verschleppung von Fikrets Vater, einem anderen Gewerkschafter, erinnert überhaupt daran, daß viele Menschen damals in der Türkei in Angst und Schrecken gelebt hatten. Über die geschichtlichen Hintergründe schweigt Pinar Selek sich jedoch aus und begnügt sich wenn überhaupt mit nebulösen Andeutungen.

In den letzten Tagen habe ich eine Todesnachricht nach der anderen gehört. Aus dem Gefängnis und so ... Sage ich es meinem Onkel, schüttelt er den Kopf. Sage ich es meiner Tante, fuchtelt sie herum: 'Halt den Mund!'. Ich kann nicht einmal trauern. Aber was soll's. Alles ist sowieso tot. Die Stadt und die Dörfer sind vom Tod umzingelt. Tote Lieben, tote Beziehungen, tote Leben. Sogar was Du schreibst, ist tot, Hasan. Dabei sterben die Menschen für - wie heißt es in den Liedern: 'Für ein schönes Leben.'
(Seite 38)

Um die Brutalität des Militärregimes zu verdeutlichen, reicht es nicht aus, vom Tod im allgemeinen zu sprechen. Nun kann es ja sein, daß man in der Türkei genau weiß, wovon Pinar Selek spricht, wenn sie sich dieser verschleiernden Sprache bedient. Für den unkundigen Leser und vielleicht auch für die junge türkische Generation, die die Putschzeit nicht erlebt hat, wird es jedoch nicht deutlich. Auch die Hinweise auf die gesellschaftlichen Verhältnisse vor dem Putsch, wie sie auf Seite 69 von Fikret beschrieben werden, werfen mehr Fragen auf, als ein klares Bild zu entwerfen.

Er konnte zwar nichts daran ändern, dass er ein Dreikäsehoch ohne Schnauzbart war. Doch durch allabendliche Kundgebungen zusammen mit den anderen Jungen war es ihm gelungen, im Viertel fortan zur Wache zu gehören. Und das war sein zweiter Wunsch. Das war vor dem Putsch. Damals waren die Zeiten anders. Die Nachbarn, die Jugend, alle versammelten sich und hielten Wache, um ihr Viertel vor bösen Menschen zu schützen. Was für eine tolle Nacht das war! Er hatte die Waffe angefasst, die Kugeln herausgenommen und wieder eingesetzt, das Magazin entfernt und mehrmals am Abzug gezogen. Natürlich ohne, dass seine Eltern es mitbekamen. Sie dachten nämlich anders. Sie kritisierten die bewaffnete Jugend und meinten, dass die Sache auf andere Art erledigt werden würde.
(Seite 69)

Welche "Sache", fragt man sich, bekommt aber keine Antwort darauf. Hilfreicher wäre es gewesen zu erläutern, daß damals von Regierungsseite aus die Bevölkerung systematisch verunsichert wurde, um Stimmung für ein autoritäres Regime zu machen. Von der Regierung unterstützte faschistische Jugendgruppen wie die Grauen Wölfe der Nationalen Bewegungspartei MHP gingen damals systematisch gegen linke Jugendgruppierungen vor. Allein im Sommer 1980 gab es monatlich rund 150 bis 200 politische Morde, von denen drei Viertel auf das Konto der Grauen Wölfe gingen.

Offensichtlich lag es nicht in Pinar Seleks Absicht, über die politischen Hintergründe der Zeit aufzuklären, in der ihr Roman spielt. Stattdessen gibt sie einen Einblick in das gesellschaftliche Leben der Menschen des Istanbuler Stadtviertels Yedikule. Aber wie gesagt nur einen Einblick. Denn wenn man glaubt, man bekäme einen packenden Roman zu lesen, bei dem man in die beteiligten Personen eintauchen und mit ihnen mitfiebern kann, dann wird man ebenfalls enttäuscht sein, denn dieser Roman weist keinerlei Spannungsbogen auf. Hier werden voneinander losgelöste Alltagsgeschichten, die sich in einem Zeitraum von mehreren Jahren ereignen, wie ein Flickenteppich zusammengefügt. Pinar Selek ist keine Erzählerin, sie ist eine Berichterstatterin. Als Leser dieses Romans kommt man sich wie ein Besucher vor, der alle paar Monate oder Jahre in seine Heimatstadt fährt und erzählt bekommt, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat. Welche Läden es noch gibt, wer sich mit wem zusammengetan hat. Wer geschieden wurde oder geheiratet hat und was es sonst noch alles zu berichten gibt von Menschen, die man kennt. Der Leser allerdings kennt diese Menschen nicht und lernt sie durch diese bruchstückhafte Berichterstattung auch nur sehr langsam kennen.

Zweifellos hat Pinar Selek die Menschen, die für ihren Roman Pate standen, selbst kennengelernt, schließlich hat sie Soziologie studiert, sich in der Friedens- und Frauenbewegung engagiert und sich für Transsexuelle, Prostituierte und Straßenkinder eingesetzt. Da werden ihr die verschiedenen Frauenschicksale, die hier vorgestellt werden, vertraut sein. Man begegnet der zwangsverheirateten Nahide, der noch jungen kurdischen Witwe Gülistan, der alleinerziehenden Mutter Gülcan wie auch der Prostituierten Hande, deren soziales Umfeld von Pinar Selek beklemmend anschaulich beschrieben wird. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gelingt es Pinar Selek jedoch nicht, die Personen selber lebendig werden zu lassen. Nur der junge Kurde Salih, der so ganz anders ist als seine ewig unzufriedenen Freunde, erwacht in seiner Verletzlichkeit und gleichzeitigen inneren Würde in der Vorstellung des Lesers zum Leben. Er, der für den Unterhalt seiner fünfköpfigen Familie aufkommen muß und das Tischlerhandwerk von seinem armenischen Meister mit Hingabe lernt, gleicht einem Fels in der Brandung, die seine Freunde allerdings auf ihrer Suche nach Selbsterfüllung in die Welt hinausreißt.

Laut Klappentext sollen "Hasan, Sema, Salih und Elif gegen die bedrückende Perspektivlosigkeit und die schmerzlichen Verluste dieser Jahre" ankämpfen. Weder haben sie schmerzlich Verluste zu erleiden, noch bedrückt sie Perspektivlosigkeit. Im Gegenteil. Elif studiert Philosophie, weil in ihr das Gefühl brennt, für eine Sache geweiht zu sein, nämlich die Revolution. Hasan besitzt drei Wohnungen, deren Miete er kassiert, weswegen er es sich leisten kann, anscheinend niemals arbeiten zu müssen. Stattdessen zieht er musizierenderweise durch die Straßen von Paris. Sema, die aus einfachen Verhältnissen kommt, wird vom Apotheker Cemal Amca unterstützt, der ihr hilft, sich auf ein Pharmaziestudium vorzubereiten. Daß sie die Zulassung nicht schafft, liegt weniger an den Verhältnissen als an ihrer grundsätzlichen Unzufriedenheit, unter der auch ihr Freund Salih zu leiden hat, da sie ihn mit ihren überzogenen Ansprüchen an die Liebe überfordert. Auch sie bekommt die Möglichkeit, ihr Glück in der Ferne zu suchen. Und schlußendlich wird Salih von Meister Artin aufgenommen, der ihm sogar anbietet, ihn zu adoptieren, damit er die Werkstatt, die Salih zur zweiten Heimat geworden ist, nach seinem Tod an ihn vererben kann. Doch Salih lehnt aus Stolz ab, weil er Kurde ist und Meister Artin Armenier. Von welcher Perspektivlosigkeit ist hier also die Rede?

Es geht eher um die Suche junger Erwachsener nach Selbstverwirklichung, was für sich genommen schon ein spannendes Thema sein kann, nur wollte Pinar Selek offenbar so viele Informationen wie möglich in einen Roman verpacken, was dazu führte, daß sie die Sachverhalte immer nur anreißt. Beispielsweise wechselt sie ohne Übergang von den Straßenkindern Istanbuls nach Paris, wo Hasan mit seinem armenischen Freund Rafi über die Liebe philosophiert. Aber auch sein Leben in Frankreich gleicht einem leeren Setzkasten, da dem Leser seine Aktivitäten lediglich in einem Satz mitgeteilt werden:

Wäre er hier geblieben, wenn es niemanden gäbe, der auf ihn wartete, den er vermisste? Wenn es Elif nicht gäbe? Könnte man sein Leben nur mit Dudukspielen und Weintrinken, mit Konzerten in der Metro, mit grenzwertigen Demonstrationen und Diskussionen in besetzten Häusern verbringen?
(Seite 86)

Hoppla, wundert sich der Leser, was der Junge alles tut, ohne daß man davon etwas erfährt, denn weder wird auch nur erwähnt, worum es bei diesen Demonstrationen ging, noch weshalb sie grenzwertig waren. Ebensowenig erfährt man auch nur das geringste Detail darüber, was für Leute die Häuser besetzten und worüber sie diskutiert haben. Auch von dem rastlosen Rafi erfährt man nur:

In den Straßen Lieder zu singen, verblüffende Begegnungen in den besetzten Häusern zu erleben und Solidaritätsnetzwerke zu gründen genügte Rafi nicht.
(Seite 86)

Aha, Rafi spielt nicht nur Flöte, sondern gründet so nebenbei auch noch Solidaritätsnetzwerke. Mit wem solidarisiert er sich denn? Für welches Land? Mit welchen Leuten? Das scheint Pinar Selek keiner Erwähnung wert zu sein. Stattdessen kann sie sich seitenweise darüber auslassen, wie Elif mit ihrer Freundin Sema Haare färbt.

Dazwischen tauchen unvermittelt in der ersten Person geschriebene Briefe Elifs an ihren Vater auf, in denen man die innige Verbundenheit zwischen Tochter und Vater spürt und das Gefühl bekommt, daß sich hier tatsächlich Pinar Selek an ihren Vater Alp Selek wendet, der genau wie Cemal Amca, Elifs Vater, jahrelang im Gefängnis saß. In diesen Briefen entfaltet Elif ihre Gedankenwelt, schweigt sich aber darüber aus, was sie dazu veranlaßt hat, in den Untergrund zu gehen. Das, was laut Klappentext auf eine Auseinandersetzung mit dieser Frage hingedeutet hat, fällt vollkommen unter den Tisch. Weder beschreibt die Autorin, was es heißt, unter Militärherrschaft zu leben, noch, wie man dazu kommt, "Revolutionär" zu werden. Elifs Werdegang zur Untergrundkämpferin bleibt gänzlich unbeleuchtet. Zwar schreibt sie in einem Brief an Hasan, daß sie nach dem Schulabschluß Philosophie studieren will, doch mehr erfährt man über ihre Studienzeit nicht.

Nachdem ihr Vater nach 8 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird, macht er mit Elif zusammen in Yedikule, dem Stadtteil, aus dem Elifs verstorbene Mutter Lale stammt, eine Apotheke auf. Man lernt die Nachbarn kennen, tauscht Tratschangelegenheiten aus und hüpft im nächsten Kapitel plötzlich ins vom Erdbeben verwüstete Armenien, in das Hasan und Rafi geeilt sind, um nach dem Baum zu sehen, den Rafis Mutter zu seiner Geburt gepflanzt hat. Während Rafi in Armenien bleibt, kehrt Hasan nach Istanbul zurück. Dort wird der Leser plötzlich damit konfrontiert, daß Elif beschlossen hat, in den Untergrund zu gehen. Wie sie den Kontakt zu der sogenannten "Organisation" hergestellt haben könnte, muß man sich selbst ausdenken. Die im Klappentext angekündigte "bewegende Suche nach politischer Zugehörigkeit" findet nämlich überhaupt nicht statt. Die einzige politische Auseinandersetzung dieses Buches ereignet sich in einem eine Seite umfassenden Gespräch zwischen Vater und Tochter:

"Ihr organisiert ja nicht die Arbeiterklasse."
"Gibt es denn noch so was wie Klassen, Papa?"
"Selbstverständlich! Mittlerweile sind alle arm. Revolution funktioniert nur über das Volk, Elif..."
"Auch hinter uns steht das Volk!"
"Du hältst die paar Leute, die du siehst, für das Volk ..."
"Tausende kommen mittlerweile zusammen. [...]
"Solange du keinen offenen, demokratischen Kampf führst, verwandelst du dich in deinen eigenen Feind."
"Wir sind erledigt, wenn wir nicht rasch handeln. Denn das System belagert uns. Wir stehen unter Dauerbombardierung!" [...]
"Illegalität, Heimlichkeit, Waffen ... erlauben keine Freiheit, kein Glück. Illegalität und bewaffneter Kampf sind sehr gefährlich, Elif. Die können alles kaputt machen."
"Du meinst, wir sollen eine Revolution wie Allende machen und uns dann wie Rebhühner abschießen lassen? Man würde uns nicht ranlassen, selbst wenn wir die Wahlen gewinnen. Ohne Waffen, ohne Handeln im Verborgenen, ohne Vorkehrungen bleibt die Revolution ein Traum, Papa."
(Seite 174-175)

Man hätte sich gewünscht, daß sich eine solche Auseinandersetzung aus dem Romangeschehen heraus entwickelt und nicht einfach nur zwischen alle die anderen Begebenheiten, die sich in Yedikule ereignen, geschoben wird.

An anderer Stelle heißt es:

Deine Tochter bricht auf, um ihr ganzes Leben für die Freiheit hinzugeben. Genau wie die Revolutionäre in aller Welt, die gegen Imperialismus und Faschismus kämpfen.
Immer wieder kommen Todesnachrichten. Das will ich ändern. Es wird sich ändern, davon bin ich überzeugt. Was macht es schon, wenn meine Kraft dazu nicht reicht? Es ist sowieso alles schon tot. Städte und Dörfer sind vom Tod belagert.
(Seite 187)

"Städte und Dörfer sind vom Tod belagert"? Davon ist in Yedikule nichts zu spüren. In Anbetracht dessen, daß sich der größte Teil des Buches um die Menschen in Yedikule dreht, wo sich die Apotheke von Elifs Vater zum Treffpunkt der Stadtviertelgemeinschaft entwickelt hat, niemand irgendwelchen Repressionen ausgesetzt ist und man weder von Militärdiktatur noch von politischem Widerstand irgendetwas spürt oder auch nur am Rande mitbekommt, wundert man sich, daß Elif sich überhaupt berufen fühlt, in den Untergrund zu gehen, was sie auch recht schnell bereut:

Ich dachte an mein erstes Treffen mit Haydar. [...]
"Wie hat er mich gefesselt, wenn er von Tieren und Vögeln, von der Natur, vom Tod und vom Leben sprach! Es war als habe er mir das Revolutionärsdasein eingeimpft."
Was auch immer er da injiziert haben mochte, es war jetzt zu einer bitteren Unzufriedenheit, ja, zu einer Abwehrhaltung mutiert. Wogegen? Offenbar gegen einen Kampf, der seinen Zauber verloren hatte und mich von Tag zu Tag mehr einschränkte, gegen etwas, das Kampf genannt wurde. Gegen unseren Kampf. [...]
Haydar hatte lange geschwiegen, dann sagte er: "Es gibt kein Zurück, wenn man im Untergrund ist." Der demokratische Kampf mache Spaß, Meetings, Aktionen, Tänze wirkten anfeuernd, Arm in Arm mit den Freunden sich dem System entgegenzustellen, halte einen aufrecht. Zum Schluss sagte er: "Ein Illegaler dagegen ist einsam."
(Seite 227)

Leider sagt Pinar Selek weder über die Aktionen dieser "Organisation" etwas aus, noch wogegen - mit Ausnahme des Systems schlechthin - sie überhaupt 'kämpft'. Dagegen erfährt man, daß man als Mitglied dieser Untergrundorganisation keine eigenständige Meinung haben darf und auf Gleichschritt getrimmt wird, indem man zum Zweck der Selbstkritik dazu verdammt wird, wochenlang in einer Wohnung zuzubringen, um mit sich ins Reine zu kommen.

Da der Leser darüber hinaus am Leben der sogenannten "Revolutionäre" nicht teilnimmt, sondern in der Yedikule-Gemeinschaft zu Hause ist, wo man - ganz im Gegensatz zum Leben in der Untergrundorganisation - füreinander einsteht, wo es die guten Seelen gibt, die sich um Probleme kümmern und die Gemeinschaft zusammenhalten, wo Vorurteile überwunden und aussichtslose Lagen in Neuanfänge verwandelt werden, betrachtet er den ohnehin durch nichts begründeten Widerstand aus der Sicht der Zurückgelassenen und Ausgeschlossenen. Er fühlt sich mit denjenigen verbunden, die jeglichen Kontakts zu dem geliebten Menschen beraubt wurden.

Es ist zu spät, um über all das zu reden, Hasan. Ich habe mein altes Leben gestrichen. Um der Freiheit willen. Nur ... Wie geht es meinem Vater?
"Nicht gut. Er ist verzweifelt. Ist außerstande, irgendetwas zu tun. Er weint nur ..."
"Er weint?" Apotheker Cemal war kein Mann, der weinte. Nur um Lale hatte er geweint. Für Lale.
"Er will dich sehen. Kannst du ihn nicht mal irgendwo treffen?"
"Völlig unmöglich. So lautete die Regel."
"Wer würde denn deinem Vater folgen, Elif? Tu ihm das nicht an. Er leidet sehr. Ich weiß nicht, wie er das aushalten soll. Hol dir die Erlaubnis von deinen Freunden und triff dich mit deinem Vater."
"Davon darf ich nicht mal sprechen. Soll ich sagen, mein Papa ist so traurig, darf ich ihn mal sehen? Das geht nicht. Es wäre schon ein Problem, nur danach zu fragen. [...]"
(Seite 208)

Es scheint, als habe Pinar Selek diesen Roman dazu nutzen wollen, ihre distanzierte Haltung zum bewaffneten Kampf deutlich zu machen. Das ist verständlich, schließlich ist sie 1998 festgenommen worden. Die Explosion einer Propangasflasche auf einem Markt ist als Bombenanschlag dargestellt worden. Mehrere Verhaftete wurden während der Ermittlung dazu gezwungen, gegen Pinar Selek auszusagen. Selbst als erwiesen war, daß es sich um einen Unfall gehandelt hatte, kam Pinar Selek dennoch nicht frei. Weil die Staatsanwaltschaft jedoch nichts beweisen konnte, ist sie nach zweieinhalb Jahren Gefängnis auf Kaution entlassen worden, während der Prozeß weiterging. Erst 2011 konnte ein endgültiger Freispruch erwirkt werden. Sie lebte in Deutschland und inzwischen in Frankreich im Exil und engagiert sich in der Friedens- und Frauenbewegung. Sicher würde sie gerne in die Türkei zurückkehren und ihre Arbeit dort gefahrlos weiterführen. Allerdings wird ihr Engagement gegen den Militarismus nach wie vor vom türkischen Staat als eine Art Herausforderung wahrgenommen, wie sie 2009 in einem Schattenblick-Interview erklärte [1].

Der Titel "Halbierte Hoffnungen" bezieht sich auf eine Zeile eines Gedichtes von Metin Altiok, eines alevitischen Dichters, der 1993 bei einem Brandanschlag ums Leben gekommen ist. "Halbiert ist die Hoffnung, die uns blieb", schrieb er. Diese Zeile fällt Elifs Vater ein, als er, gerade aus dem Gefängnis entlassen, mit ihr nach Yedikule fährt, um dort ein neues Leben anzufangen. Später wurde wohl auch für die "Revolutionärin" Elif die Hoffnung, die Welt verändern zu können, halbiert. Also macht sie das beste daraus und baut Gemüse an. Im Exil in Frankreich besetzt sie mit anderen Randständigen der Gesellschaft ein Stück grünes Land und bepflanzt es.

Es gibt überall auf der Welt Gärten des Friedens. [...] Ich denke, hier entstehen allgemein alternative neue Formen des Lebens, der Produktion und der Solidarität. Denkt man daran, dass mittlerweile das ganze Leben als Paket angeboten und uns alles Natürliche aus den Händen genommen wird, ist es wichtig, dass wir solche Räume haben. Es sollte viele solcher offenen und verborgenen Gärten geben. Sie können den Boden für langfristigen Widerstand bilden, das fühle ich.
(Seite 365)

Aus der politischen Bewegung wurde also ein Gemüsegarten. Insofern ist "Halbierte Hoffnungen" ein Buch, das Pinar Selek mit Sicherheit nicht den Weg zurück in die Türkei versperren wird.


Anmerkung:

[1] Schattenblick → INFOPOOL → REDAKTION → REPORT:
WIENER GESPRÄCHE/09: Begegnungen am roten Rand Wiens - Teil 9 (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/redaktio/report/rrwg0009.html


Pinar Selek
Halbierte Hoffnungen
(Übersetzt aus dem Türkischen von Sabine Adatepe und Monika Demirel)
Orlando Frauenverlag, Berlin, 2011
397 Seiten
Preis: 24,50 Euro ISBN: 978-3-936937-87-9



19. Januar 2012