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REZENSION/044: Robert E. Ricklefs, Caleb E. Finch - Altern (Medizin) (SB)


Robert E. Ricklefs und Caleb E. Finch


Altern

Evolutionsbiologie und medizinische Forschung



Wenn wir ein Buch des Akademischen Verlages (Spektrum) erwerben, können wir sicher sein, einen sehr guten Einblick in die aktuelle Diskussion des jeweiligen Forschungsgebietes zu erhalten. Das Thema "Altern" wird im Laufe der Geschichte immer wieder begierig aufgegriffen und steckt noch voller Geheimnisse. Gerade mit diesen Geheimnissen, sprich, den ungeklärten Lücken in den Konzepten, werden wir umfassend und vielfältig in diesem Buch konfrontiert. Es erscheint sehr positiv, wenn Wissenschaftler heute noch sagen können, sie wissen nicht, sie vermuten. Leider sind die Autoren nicht frei von dem Zwang, wissen zu müssen und entwerfen aufgrund ihrer Vermutungen Theorien, die dann wieder den Charakter von absoluten Wahrheiten annehmen.

Nicht enttäuscht werden wir in Bezug auf die Vermittlung des momentanen, wissenschaftlichen Diskussionsstandes. Es handelt sich diesbezüglich bei dem vorliegenden Buch um ein gelungenes Werk, denn es ist wissenschaftlich auf dem neuesten Stand und in einer Weise geschrieben, die es einem interessierten Laien ermöglicht, sich ein Bild von der Problematik zu machen.

Inhaltlich gesehen hilft es allerdings dem Leser nicht wirklich weiter. Wenn Sie also etwas über das Altern in Erfahrung bringen wollen und eventuell auch noch den einen oder anderen Rat erwarten, ist dieses Buch nicht zu empfehlen. Die dargestellten Theorien legen in erster Linie offen, daß es über die Alterungsprozesse so gut wie keine einfache Erklärung gibt. Die komplizierten Versuche, Theorien zu entwerfen, zeugen zwar von der Kunst hochgradiger Abstraktion - die allerdings in allen anderen Wissenschaften nicht weniger verbreitet ist -, lassen die für einen alternden Menschen relevanten Fragen jedoch unberührt.

Ein Bezug zum praktischen Leben läßt sich kaum herstellen. Jeder von uns kämpft mehr oder weniger hartnäckig mit den in zunehmendem Alter auftretenden körperlichen Einschränkungen. Wer wünschte sich nicht, daß es Schmerz erst gar nicht gibt, daß man sich gleichbleibend leicht und schnell bewegen kann, daß man nicht ständig müde wird, immer gleich gut sieht und hört?

Diese einfachen Wünsche mögen einmal Ausgangspunkt für die Forschungen im Bereich der Methoden zur Erlangung der "ewigen Jugend" gewesen sein. Heute befaßt sich die Wissenschaft nicht mehr mit dem Thema "Unsterblichkeit" oder "ewiger Jugend". Es wird in den meisten Fällen gleichbedeutend mit andauernder Gesundheit gesetzt.

Jeder vernünftige Mensch ist davon überzeugt, daß es so etwas wie "ewige Jugend" nicht geben kann, doch die wenigsten werden wissen, daß gerade die heutige Wissenschaft und Technologie dazu beitragen, selbst jegliche noch so unwahrscheinliche Aussicht darauf zunichte zu machen.

Ein sich selbst ernst nehmender Mediziner oder Biologe wird lediglich an Methoden zur Lebensverlängerung arbeiten. Daß hier Ungereimtheiten auftreten müssen, liegt nahe, wenn man beachtet, daß die medizinisch-biologische Definition für Leben letztendlich auf die vier chemischen Elemente Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff (kurz: COHN) zurückführbar ist. Geht es um Lebensverlängerung, so beschäftigt man sich folglich mit diesen sogenannten "Grundbausteinen des Lebens" und ist mehr oder weniger gezwungen, durch gezielte Modifikationen in der Zusammensetzung dieser Stoffe einen Einfluß auf den menschlichen Körper zu nehmen. Eine Lebensverlängerung läßt sich nach Ansicht der auf diesem Gebiet arbeitenden Forscher lediglich über die Korrektur der chemischen Strukturen ermöglichen. Da wundert es nicht, wenn der Bereich der Genetik einen so großen Raum einnimmt. Hier liegen - so die Vorstellung - die "Grundbausteine des Lebens" in spezifischer Form und Struktur auf DNS-Strängen geordnet.

Man ist wenig getröstet, wenn man die anschaulichen, bunten Graphiken betrachtet und den ausführlichen Erklärungen folgt. Dieses Buch liest man vielleicht mit Brille und Rückenschmerzen und erfährt, daß all das "normal" sei. Ja, man freut sich sogar, denn es hätte alles viel schlimmer kommen können. Sehr detailliert wird beispielsweise die Alzheimer Krankheit beschrieben und andere Demenz-Erkrankungen. Wenn man sich "richtig" verhält, das heißt vorschriftsmäßig, und Glück hat, bekommt man keine dieser Krankheiten - vielleicht aber welche mit ähnlichen Erscheinungsbildern.

Aber um derartige Wünsche zu hegen, braucht das Buch nicht gelesen zu werden, denn die Sehnsucht nach Unversehrtheit und Glück sind so alt wie das Menschengeschlecht.

Wozu also dieses Buch?

Es scheint einzig und allein den Zweck zu erfüllen, den Leser zu beruhigen und vorsichtig damit zu konfrontieren, daß es wahrlich keinen Ausweg gibt. Schmerz, Leid, Krankheit und Tod gehören unvermeidbar zum Leben - sind integrierter Bestandteil der sogenannten Lebensfunktionen, die allesamt endlich sind, sprich tödlich enden.

Dem Menschen scheint demnach nichts anderes übrig zu bleiben, als sich ihrem Schicksal zu beugen, das - wissenschaftlich formuliert - als genetischer Code auftritt. Ausführlich wird dementsprechend die genetische Vorherbestimmung beschrieben, wenn auch mit der Perspektive, rechtzeitig korrigierende, medizinische Eingriffe vornehmen zu können.

Würde man eine einfache Theorie über das Altern entwerfen, für die in keinem Fall die Genetik bemüht werden müßte, hätte man als Mensch bei entsprechendem Interesse weitaus mehr Möglichkeiten, dem Altern entgegenzuwirken:

Der menschliche Körper verschleißt von Geburt an. Die Phase des Wachstums beansprucht den Metabolismus in ungeahnt strapaziöser Weise und auch im späteren Erwachsenen-Leben kommt man niemals zu einer positiven Stoffwechselbilanz. Haut, Knochen, Gefäße nutzen sich durch ständigen Gebrauch ab und verschleißen - um so schneller, je unbekümmerter und unachtsamer damit zu Werke gegangen wird. Medizin und Biologie lehren uns, daß Reparaturmechanismen den Körper wieder instandsetzen. Sicherlich heilt eine Wunde, doch nicht ohne den entsprechenden stofflichen Aufwand. Auch hier liegt der Verbrauch bei der Heilung hoch. Die Wunde ist dann zwar geschlossen, doch der Körper hat Schaden genommen. So wundert es nicht, daß diese sogenannten Regenerationsprozesse mit zunehmendem Alter an Geschwindigkeit und Qualität nachlassen. Beständiger Verbrauch und Verschleiß haben ihre Spuren hinterlassen.

Statt der uns eingeimpften "Wahrheit", daß es immer einen ausgleichenden Aufbau im Körper gibt, könnte man annehmen, daß alles ausschließlich dem Verbrauch und dem Verschleiß zuzurechnen ist. Vielleicht würden wir dann vorsichtiger mit uns umgehen. Unsere Forschungen wären dann praktischer Natur. Es ginge primär darum, körperschonende Bewegungen und optimale Umweltbedingungen zu ermitteln beziehungsweise herzustellen. Vielleicht würde man sich Gedanken machen, ob dem Verschleiß, angetrieben durch die beständigen Verbrennungsprozesse, durch eine entsprechend unaufwendige Lebensart nicht doch etwas entgegensetzen wäre. Dies sind nur wenige Überlegungen und doch zeigen sie einen ganz erheblichen Unterschied zu den konventionellen Forschungsintentionen auf: Eine Forschungsausrichtung in diesem vorgeschlagenen Sinne ermöglichte dem einzelnen Menschen, etwas zu unternehmen, würde ihn darin unterstützen, aktiv am längeren Erhalt seines Körpers zu arbeiten.

In den herkömmlichen Theorien scheint dies völlig ausgeschlossen. Hier haben die Gene längst bestimmt, wie alt wir höchstwahrscheinlich werden könnten. Wollten wir den Genen einen Streich spielen, bliebe als eine Möglichkeit die gezielte Tötung. Doch wahrscheinlich würden Wissenschaftler auch noch ein Gen (er)finden, das für die Neigung zum Selbsttöten verantwortlich ist - schließlich erfanden sie ja das gesamte "Gen"-Konzept.

Selbstverständlich stützt das Buch "Altern" das "genetische" Menschenbild. Genau dieses Bild fordert verfügbare, möglichst gleich reagierende Wesen, die leicht zu handhaben sind. Mithin ist es auch erforderlich, daß die Mitglieder einer Gesellschaft darüber aufgeklärt werden, w i e sie jeweils funktioniert. Niemand würde sagen, "wie sie zu funktionieren hat" - das würde eventuell Widerstand hervorrufen. Nein, man behauptet im Namen der wissenschaftlichen Wahrheit, daß der Mensch so und so strukturiert ist und so und so funktioniert. Diese Theorien werden im allgemeinen kritiklos aufgenommen und akzeptiert - schließlich sind sie "wissenschaftlich" bewiesen.

Es ist nicht der richtige Ort, diese Gedanken zu vertiefen. Sie dienen hier lediglich der Veranschaulichung beziehungsweise der Kontrastierung der Interessen, die einerseits fast nirgendwo zu entdecken sind, andererseits zu den in diesem Buch vorgestellten Aussagen führen.

Wissenschaft ist niemals neutral und rational schon gar nicht. Deutlich wird dies beim aufmerksamen Lesen dieses Buches. Tritt etwas in Erscheinung, was nicht in das wissenschaftliche Bild des Forschers paßt, wird so lange und beharrlich geforscht, bis es eine "wissenschaftliche" Erklärung gibt. Wenn ein Mensch also schneller altert als ein anderer, wird auf dem Gebiet der Gene gesucht, ob es dafür eine Grund geben kann - und der wird mit Sicherheit gefunden, mag er auch noch so hergeholt sein. Der Mensch als lebendiges Wesen taucht hier nicht mehr auf. Es scheint fast so, als sei er zum bloßen "Behälter" für die Gene verkommen. Durch diese Sichtweise offenbart sich eine hochgradige Menschenverachtung - immer unter dem Deckmantel der Forschung zum Wohle des Menschen.

Den Autoren dieses Buches kann selbstverständlich ein derartig gezielter Beweggrund nicht unterstellt werden. Kaum jemand macht sich Gedanken über die Interessen, durch die bestimmte Forschungen in die Wege geleitet werden. Viele Wissenschaftler befassen sich sehr begrenzt mit ihrem jeweiligen Spezialgebiet und haben die gesellschaftlichen Auswirkungen nicht umfassend im Blick. Es läßt sich eine Entwicklung ablesen: Der einzelne Mensch tritt immer weniger in Erscheinung und wird durch die fortschreitende Einteilung in immer kleinere, vermeintlich verfügbare und kontrollierbare Einheiten (Gene, Hormone, Zellen, DNA-Sequenzen u.v.m.) verwaltbar.

Zu empfehlen ist das Buch all denjenigen, die sich ein Bild über den aktuellen Stand der Forschung machen möchten.

Wer etwas über das Altern erfahren möchte, wird hier sehr wahrscheinlich nicht mehr erfahren, als er ohnehin schon wußte: Altern beginnt mit der Geburt, wird im Verlaufe leidvoller und endet mit dem Tod.


Robert E. Ricklefs und Caleb E. Finch
Altern
Evolutionsbiologie und medizinische Forschung
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1996
ISBN 3-8274-0028-7