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REZENSION/060: Olga Kharitidi - Das weiße Land der Seele (Esoterik) (SB)


Olga Kharitidi


Das weiße Land der Seele



"Dieses Buch hat magische Kräfte" - wenn der Klappentext zu einem Werk über Schamanismus so beginnt und sich mit den üblichen Gemeinplätzen fortsetzt, um von der "spirituellen Neuorientierung" einer "jungen, modernen Wissenschaftlerin" zu künden, die an der "uralten, geheimen Weisheit" der Kams - so werden Schamanen im turktatarischen Sprachraum genannt - im sibirischen Altai-Gebirge teilhat, hat man eigentlich schon genug gelesen. Sollte man sich dennoch das 300 Seiten starke Werk der russischen Autorin Olga Kharitidi zu Gemüte führen, dann tut man gut daran, dies unter dem Vorzeichen einer Erforschung des Esoterik-Buchmarktes und nicht einer spezifisch sibirischen Form des Animismus oder der Naturreligion zu tun. In diesem Sinne kann die Lektüre durchaus unterhaltsam und ergiebig sein, bietet "Das weiße Land der Seele" doch eine gut arrangierte Varietät schamanistischer Erlebnisberichte, die seit nunmehr 30 Jahren, seit dem Beginn des Castaneda-Zyklus, zunehmende Verbreitung finden.

Olga Kharitidi hat ihr Buch als autobiographischen Bericht angelegt, den sie in ihrer einleitenden Anmerkung ausdrücklich mit dem Attribut "wahrheitsgemäß" ausstattet, um gar nicht erst Spekulationen über die Authentitizität des Erlebten aufkommen zu lassen. Und das ist auch bitter nötig, denn die Autorin baut als Ärztin für Psychiatrie durchaus auf akademischem Renommee auf, wenngleich ihr Buch nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Studie erhebt. Frau Kharitidi praktizierte zum Zeitpunkt ihrer Schilderung, der Schlußphase der Sowjetunion zu Beginn der neunziger Jahre, in einem Krankenhaus in Nowosibirsk, der größten Stadt Sibiriens, und widmete sich dort mit routinierter Professionalität ihrer therapeutischen Arbeit, um unversehens mit einer Realität konfrontiert zu werden, die sie normalerweise als psychotische Episode zum Gegenstand ihrer Behandlung gemacht hätte.

Die Rahmenhandlung ihrer klinischen Praxis dient zwar zur Einstimmung in außergewöhnliche psychische Erfahrungen, wird jedoch nicht für eine kritische Untersuchung des Begriffs der Geisteskrankheit oder der gesellschaftlichen Funktion der Psychiatrie genutzt. Die dargestellten Psychosen modifizieren sich im Rahmen ihrer Initiation zur Heilerin, mit der die Ärztin ihrer ganz persönlichen Berufung folgt, lediglich zu einem Zustand der dämonischen Besessenheit, an der die Autorin erfolgreich ihre neuerlangten Fähigkeiten ausprobiert. Ihr berufsständischer Ethos bleibt trotz obligatorischer Kritik am sowjetischen System der Psychiatrisierung nicht nur konsistent, durch die erweiterten Fähigkeiten einer Kam bewirkt sie geradezu wunderbare Heilungen und erlangt die Hochachtung auch älterer und erfahrenerer Berufskollegen.

Die Integration einer uralten und auch gefürchteten Tradition in eine moderne sozialhygienische Funktion kann natürlich nur funktionieren, wenn man von den besten Absichten beflügelt ist, und das ist Olga Kharitidi zweifellos. Ihre Reise ins Altai- Gebirge, die sie mit einer Freundin unternimmt, die dort Heilung von einer Krankheit finden will, bringt sie geradewegs in Kontakt mit einer schamanistischen Traditionslinie, die dem gängigen Schema zufolge schwarz, also von bösesten Absichten getragen, ist. Der junge Sibirier, der als Patient bei ihr Hilfe suchte, weil er mit der Hinterlassenschaft seines Onkels nicht zurecht kam, der ihm seine zauberischen Kräfte übertragen hat, wird ihr beinahe zum Verhängnis. Über ihn wirkt der Onkel praktisch aus dem schamanistischen Jenseits heraus in bedrohlicher Form auf die Psychiaterin ein, indem er ihr als essentielle Wahrheit seiner Zunft nahebringt, den Tod zu akzeptieren, um darüber zu Macht und Weisheit zu gelangen.

Olga Kharitidi befindet sich bereits ohne ihr Wissen in einer erbitterten Auseinandersetzung zwischen schwarzen und weißen Schamanen, denn der körperlich gestorbene, aber auf geistiger Ebene höchst präsente Onkel braucht auch weiterhin die Lebensenergie anderer Menschen, um fortzudauern. Glücklicherweise hat die junge Ärztin jedoch eine Heilerin kennengelernt, von der sie lernt und die sie über die finsteren Absichten des bösen Kam aufklärt. Natürlich geht es in Wirklichkeit darum, unsterblich zu werden und der Menschheit zu einer besseren Zukunft zu verhelfen, findet Olga Kharitidi gerade noch heraus, um sich durch eine schnelle Abreise vom Zugriff des in ihrem ehemaligen Patienten inkorporierten Onkels zu entziehen.

Das Schema ist altbekannt und weit entfernt davon, auch nur die vordergründigste Moral zu transzendieren und als höchst menschliche Fessel zu verwerfen, weil mit ihm nicht etwa Schaden abgewendet werden soll, sondern mißliebige Kräfte ausgegrenzt und Menschen im Zustand fremdverfügter Ohnmacht belassen werden sollen. Konnte man anfangs noch darauf hoffen, hier auf eine exotischere Version spiritueller Kosmologie und Perspektive zu stoßen, so wirkt sich die nun einsetzende Flut sattsam bekannter Versatzstücke der New Age-Ideologie auf eine allerdings wirklich heilsame Weise desillusionierend aus. Bald schon ist die Rede von einer sagenumwobenen Stadt namens Belowodje, dem sibirischen Äquivalent des tibetischen Shambala, wo Unsterbliche in Glückseligkeit den lieben, langen Tag genau das tun, was sie schon immer tun wollten, und von der niemand weiß, wo sie liegt. Dieser Mythos nimmt eine zentrale Stellung in den Visionen und Erlebnissen der Olga Kharitidi ein, die es zumindest versteht, die einzelnen Elemente der esoterischen Kosmologie bunt zu arrangieren und so miteinander zu verweben, daß man beim Griff nach naheliegenden Spekulationen nie danebenfaßt.

So kann es kein Zufall sein, daß sich die Beschreibung der schamanistischen Hardware, der zauberischen Rituale und mythologischen Symbole allesamt im Standardwerk "Schamanismus und archaische Ekstasetechnik" von Mircea Eliade wiederfinden lassen, und zwar in einer ähnlich folkloristischen Interpretation, die schon den rumänischen Ethnologen als bloßen Beobachter und Deuter gekennzeichnet hat. Was für den einen ein Beweis der Authentizität des Erlebten sein mag, läßt sich ebensogut als Aufbereitung bekannter Ergebnisse der vergleichenden Feldforschung disqualifizieren, die den säkularisierten Illustrationen eines Wissens auf den Leim gegangen ist, das kein Interesse an einer Veröffentlichung seiner Geheimnisse, die dann keine mehr wären, haben kann.

Olga Khartidi jedenfalls kennt keine Hemmungen, wenn es darum geht, das Innerste nach außen zu kehren und so eine vermeintlich esoterische Tradition dem kalkulierenden Blick des Lebenshilfekonsumenten auszusetzen. Das schadet allerdings insofern niemandem, als daß die tiefen Weisheiten dieser uralten Tradition gänzlich der Maßgabe moderner Therapiekonzepte folgen, wobei sie natürlich in das dem Sujet angemessene animistische Begriffskorsett getaucht werden:

Jetzt werde ich dir die erste Regel offenbaren. Sie ist die wichtigste von allen, und du darfst sie nie vergessen. Die erste Regel besagt, daß alle Entscheidungen in deinem Leben, die wichtigen ebenso wie die belanglosen, ganz bewußt getroffen werden wollen. Vor jeder Entscheidung muß du dich fragen, ob deine Wahl fünf unabdingbare Wesenheiten befriedigt. Wenn auch nur eine davon unerfüllt bleibt, muß du nach einer anderen Lösung suchen. Auf diese Weise wirst du immer den richtigen Weg wählen. Die fünf Wesenheiten sind Wahrheit, Schönheit, Gesundheit, Glück und Licht.

Und so weiter und so fort - die Versatzstücke sind sattsam bekannt und werden auch dadurch nicht nahrhafter, daß man der Vokabel des Selbst das Affix "Kern" zuordnet, um mit dem "ontologischen oder Kern-Selbst" eine besonders relevante Institution der inneren Wahrheitsfindung adressieren zu können. Durchaus unterhaltsam jedoch ist das Zustandekommen dieser Belehrung, denn sie findet in einer experimentellen Anordnung in einer jener berühmten, hermetisch abgeschotteten sowjetischen Wissenschaftsstädte statt, die wie eine Zeitmaschine funktioniert. Frau Kharitidi gibt sich keineswegs damit zufrieden, die Tradition der Kams aus dem Altai-Gebirge als Antithese zur modernen Zivilisation im Rahmen ihrer vertrauten Metaphern zu belassen, sie versteht sich ganz im Sinne des New Age als Transformatorin des Überlieferten zur großen Vereinheitlichung von Religion und Wissenschaft, von Mythos und Zivilisation.

Da bleibt es dann auch nicht bei einem kurzen Ausflug in die Grundlagenphysik, wo mit schnellem Federstrich das Konzept der Zeit als geographisch zu ortendes Phänomen unterschiedlicher Dichte materialisiert wird, auf wenigen Seiten wird eine Anthropologie diverser menschlicher Entwicklungsstränge entworfen, innerhalb derer den Kams des Altai-Gebirges die Rolle einer Hunderttausende von Jahren alten Keimzelle religiöser und esoterischer Traditionen zugewiesen wird, die Hinduismus und Buddhismus ebenso umfassen wie den Sufismus und die Lehren eines Gurdjieff. Wenn dann noch der altaische Namen des Großen Geistes Ülgen mit dem Sternbild der Plejaden in Verbindung gebracht und dem Leser eine außerirdische Befruchtung menschlicher Weisheitslehren nahegelegt wird, ist auch das letzte denkbare Klientel der Esoterik-Szene in das große Herz dieser sibirischen Tradition geschlossen.

Frau Kharitidi jedenfalls hat es nicht an den Quellen ihrer Inspiration gehalten, sie hat sich nach mehrfachem Wechsel ihrer realen und imaginierten Lehrer, die bei aller Macht und Fähigkeit stets wie dienstbare Geister wirken, allein beseelt vom Gedanken, den Menschen die "Wahrheit" zu lehren, in die USA aufgemacht, um die in New Mexico angesiedelte bunte Palette esoterischer Traditionen als initiierte sibirische Schamanin um einen Farbton zu erweitern. Dieser ist freilich von besonders tiefgründigem Charakter, denn mit dieser Reise vollzog sie den Weg, "auf dem vor langer Zeit Menschen wanderten, die das Feuer der Wahrheit und des Lichtes überall dort verbreiteten, wo sie hinkamen."

Auf jeden Fall hat Frau Kharitidi mit ihrem Erlebnisbericht einen bemühten Versuch unternommen, in den Fußspuren Castanedas zu wandeln, auch wenn dabei eher ein esoterischer Abenteuerroman Marke "Ich ging den Weg des Derwisch" herausgekommen ist. Schon die bislang in diesem Feld wenig gewürdigte Tradition sibirischer Schamanen, die die Herkunft des mittlerweile für verschiedenste Menschen, magische Technologien und animistische Religionen verwendeten Terminus in Anspruch nehmen kann, zum Gegenstand eines kulturellen Affronts zu machen, zeugt von marktkompetenter Sachkenntnis, und die Integration unterschiedlichster esoterischer Chiffren wird jeden Leser zufriedenstellen, der von der großen Gleichung des spirituellen Pluralismus beseelt ist, die vielen Namen und Formen allesamt der einen Wahrheit zu unterwerfen. Daß die Konfrontation mit dem medizinischem Exorzismus der Psychiatrie ausfiel und die Ordnung von geistiger Gesundheit und Krankheit unangetastet blieb, liegt ganz auf der Linie synthetischer New Age-Produkte, die keinem anderen Zweck als dem der profitablen Befestigung der universalen Hoffnung zugedacht sind, daß schlußendlich alles gut wird, wenn man nur kräftig daran glaubt.


Olga Kharitidi
Das weiße Land der Seele
List Verlag, 1996