Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/123: B. Drücke - Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? (SB)


Bernd Drücke


Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht?

Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland



Wer etwas nicht nur über Staatsfeinde, sondern Feinde jeder Staatlichkeit lesen will, das nicht den Jahresberichten des Verfassungsschutzes oder anderer Staatsapologetik entnommen ist, steht vor einem Problem, das auch den Sozialwissenschaftler Bernd Drücke umtreibt, wie das Fragezeichen hinter dem Titel seines Buches über "Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland" zeigt. "Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht?" siedelt der Autor, der mit der dem Buch zugrundeliegenden Untersuchung von 21 in der DDR erschienenen Untergrundblättern und 475 mehr oder weniger legalen Zeitungen der BRD 1998 promovierte, das Aktionsfeld der anarchistischen und libertären Presse an, deren Geschichte auch eine der Verfolgung und Unterdrückung nicht nur im Kaiserreich und unter dem Nationalsozialismus, sondern auch den beiden deutschen Nachkriegsstaaten ist.

Was als Resultat einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit einem sozialen und politischen Phänomen seinen eigenständigen Wert hat, kann sich allerdings nicht von dem Widerspruch lösen, gerade im Rahmen einer Institution erstellt worden zu sein, deren Kritikmöglichkeiten stets die Grenze eigener Abhängigkeit von staatlicher Förderung wie staatlich gewährter Legitimität gesetzt sind. Dies trennt den Autor denn auch trotz aller Sympathie für das Anliegen grundlegender Herrschaftskritik notgedrungen desto mehr von seinem Untersuchungsobjekt, je radikaler diese in den Zirkularen der libertären und anarchistischen Presse vorgenommen wurde. Das tritt besonders deutlich zutage, wenn Drücke angesichts der von ihm vorgenommenen Differenzierung anarchistischer und libertärer Bewegungen an einer Stelle moniert, daß der Verfassungsschutz mit einem wesentlich gröberen Strich zeichnet, da er "auch autonome, bzw. nicht explizit anarchistische Zeitschriften wie z.B. Interim, radikal, agitare bene und Clash undifferenziert unter der Rubrik 'Anarchisten, Autonome und sonstige Sozialrevolutionäre'" zusammenfaßte.

Aus der Sicht eines Revolutionärs kann es wohl nur zu begrüßen sein, wenn der Staatsschutz so wenig über die eigenen Bestrebungen und Bemittelungen wie möglich weiß. Die Untersuchung Drückes könnte hier durchaus eine Lücke staatlicher Observation schließen, und dieser Vorwurf wurde ihm eigenem Bekunden nach auch von einigen Vertretern von ihm vorgestellter Zeitungen gemacht. Andererseits ist es mit dem revolutionären Anspruch vieler libertärer Publikationen nicht so weit her, daß sie notgedrungen in einem unüberbrückbaren Antagonismus zur Staatsmacht und ihren Agenturen, zu denen auch und gerade die Sozialwissenschaften gehören, ständen. Hinzu kommt, daß es sich bei vielen präsentierten Schriften um Phänomene aus einer Zeit handelt, in der radikaler Widerstand noch sehr viel mehr Unterstützung fand als heute, da der massive Ausbau des Sicherheitsstaats, der verschärfte Überlebensdruck und die immer penetrantere mediale Manipulation im stetigen Verfall herrschaftskritischer Theorie und Praxis resultieren.

Ansonsten wäre die Historisierung einer Bewegung, die wie kaum eine andere Wert auf "direkte Aktion", so der Titel eines vorgestellten Blattes, legt, allerdings nur als Akt der Pazifizierung eines gefährlichen Widerstandspotentials zu verstehen. Man kann sich bei der Lektüre des Buches nicht des Eindrucks erwehren, daß sich die anarchistische und libertäre Bewegung ohnehin zu einem Gutteil in der Phase ihrer Musealisierung befindet. Das auf dem Umschlag wiedergegebene Lob eines Rezensenten, diese Arbeit werde "in die Geschichte der deutschen Anarchismus-Forschung als ein 'Meilenstein' eingehen", verweist zumindest darauf, daß man es hier mit einer Metasphäre der wissenschaftlichen Betrachtung zu tun hat, der ein wirksames und damit auch die Position des Beobachters selbst in Frage stellendes Objekt gar nicht verfügbar sein kann.

Auch läßt das Vorwort von Drückes Doktorvater Professor Dr. Christian Sigrist erkennen, daß die Studie nicht gerade von grundstürzendem Geist durchweht, sondern eher von der Beflissenheit des Konservators bestimmt ist:

Die Studie hebt für die Gegenwart als zentrales Ziel des Anarchismus und der libertären Presse die Verbindung der Lösung der ökologischen und sozialen Probleme mit einer antietatistischen Perspektive hervor. Als gesellschaftspolitische Perspektive formuliert Bernd Drücke die These, daß die sozialen Ideen des Anarchismus unter den Aspekten der freiwilligen Zusammenarbeit, der Selbstdisziplin, der Autonomie, der gegenseitigen Hilfe und des Föderalismus eine zusammenhängende Theorie der sozialen Organisation bilden könnten, die ein begründetes und taugliches Lebensmodell der autoritären, auf Hierarchien aufbauenden Philosophie der Herrschenden entgegenstellte. Die Zukunft, die soziale und historische Chance des Anarchismus läge demnach in der Qualität und Vermittelbarkeit seiner Wertvorstellugen.

Mit dieser Bewertung legt Sigrist ein signifikantes Zeugnis des Anarchismus als Sammelsurium sozialreformerischer und alternativer Lebensentwürfe ab, das in seiner Harmlosigkeit bei niemandem Sorge um den Bestand der freiheitlich demokratischen Grundordnung auslösen muß. So liegt denn auch bei einem Großteil der von Drücke vorgestellten Publikationen jüngeren Datums das Schwergewicht des politischen Kampfes auf Problemfeldern aus dem Bereich der Geschlechterdifferenz, der Fremdenfeindlichkeit, der Umweltzerstörung und vor allem der korrekten Zuordnung der eigenen Fraktion im vielfältigen Spektrum ideologischer Positionen, während die grundlegende Frage nach Macht und Herrschaft meist nur zwecks Abgrenzung zu sogenannten etatistischen Parteien und Gruppen vorgenommen wird.

Drücke nutzt diese Frage vor allem zur Spezifizierung seines Forschungsgegenstandes, den er auf "alle zwischen dem 31. Dezember 1985 und dem 31. Dezember 1995 auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik erschienen libertären Zeitschriften, Zeitungen und Rundbriefe" beschränkt. Besonders interessant jedoch sind gerade seine Ausführungen zur Frühzeit des Anarchismus, als dessen Publikationen noch sehr viel stärker von der existenziellen Notlage der Menschen und ihrem revolutionären Elan geprägt waren. Wenn er etwa den italienischen Revolutionär Errico Malatesta zitiert, wie dieser seine Probleme schildert, eigene Freuden im Angesichte des Leides anderer Menschen zu genießen, oder Erich Mühsams "Soldatenlied" vom Oktober 1916 belegt, daß sich weder am kriegstreiberischen Charakter des Kapitalismus noch der Notwendigkeit, dagegen anzutreten, etwas geändert hat, dann weiß man das Buch nicht nur als Leitfaden durch die Geschichte der anarchistischen Presse, sondern auch als Quelle für einige ihrer Inhalte zu schätzen.

Leider kommt dieser Aspekt im Verhältnis zur Vielzahl der besprochenen, von vielen Abbildungen ihrer Deckblätter begleiteten Publikationen zu kurz, allerdings ist das Buch Drückes auch explizit als eine Form von Sekundärliteratur ausgewiesen. Daraus ergibt sich nicht nur ein Überblick über ein Kapitel deutscher Zeitungsgeschichte, das den meisten Menschen aufgrund der geringen Auflage der libertären Zeitungen sowie der Exklusivität ihrer Zielgruppen unbekannt und daher von um so größerem Interesse sein dürfte. Die ausführliche Quellendokumentation und vielen Verweise zu Personen und Werken, die sich mit dem Thema des Anarchismus befaßt haben, versetzen den unkundigen Leser zudem in die Lage, sich nach eigenem Ermessen in die Materie einzuarbeiten.

Das wäre bei ernsthaftem Interesse auch dringend erforderlich, denn Drückes Ausführungen zu den zentralen Begriffen Macht und Herrschaft mögen vielleicht den Diskussionsstand in der libertären Szene repräsentieren, sind jedoch von einer geradezu programmatischen Verneblung aller hinsichtlich staatlicher wie ökonomischer Gewalt und Unterdrückung zu stellenden Fragen. Der Versuch, dem Begriff der Macht unter anderem mit einer Definition Max Webers zu Leibe zu rücken, die in ihrer rein deskriptiven Bestandsschilderung von ebenso positivistischer Beliebigkeit ist wie die Behauptung des Anthropologen Harold Barclay, Anarchie sei "letztlich ein Zustand, in dem die Macht am weitesten aufgespalten ist, so daß sie im Idealfall gleichmäßig auf die gesamte Gesellschaft verteilt" wäre, mündet folgerichtig in der Vermeidung jeder Möglichkeit, die Machtfrage grundlegend anzugehen und im ersten Schritt durch die Analyse der Ohnmacht aller von Unterdrückung und Ausbeutung Betroffenen operabel zu machen.

Auch zu dem davon im Sinne Max Webers als "legitime Macht" abgesetzten Begriff der Herrschaft wird in Drückes Arbeit vorzugsweise Konformität produziert. Hier erweist der Autor seinem Doktorvater Reverenz, indem er dessen anthropologische Erkenntnisse zur Frage nach der Möglichkeit herrschaftsfreien Lebens als Beleg für die Relevanz einer Tautologie namens "Regulierte Anarchie", so der Titel einer Studie des Münsteraner Soziologen Sigrist, wohlwollend präsentiert. Darin nimmt dieser die Ergebnisse sozialanthropologischer Studien in Afrika zum Anlaß, dem Versuch, "Herrschaft zur Elementarstruktur aller menschlichen Gesellschaft zu hypostatiseren," die Position entgegenzustellen, "daß als Elementarformen menschlicher Vergesellschaftung Gleichheit, Gegenseitigkeit, Kooperation, Solidarität, Opposition, Normativität zu begreifen sind - daß politische Herrschaft aber nicht zu ihnen gehören."

Diese Konzeption für eine "zukunftsoffene politische Anthropologie" enthebt sich jeder materiellen Analyse sozialökonomischer Gewaltverhätnisse, um Ideale zu postulieren, in denen die Spaltung der Individuen in miteinander konkurrierende Überlebenskämpfer bereits angelegt ist. Daß Sigrist mit Postulaten eines links gewendeten Pluralismus, die nicht nur aufgrund ihrer Korrumpierung durch herrschende politische Ideologien, sondern der ihr immanenten Vergleichs- und Abgrenzungsoperationen alles andere als Herrschaftsfreiheit konstitutieren, nach dem "Scheitern des marxistischen Etatismus" Perspektiven eröffnet, die die Probleme dieses vorschnell als final postulierten Scheiterns reproduzieren, ist nur ein Manko der von Drücke präsentierten Theorien zur Herrschaftskritik.

Während man von Pierre Joseph Proudhon zumindest eine aufrüttelnde Beschreibung der Mittel und Strategien staatlicher Herrschaft lesen kann, propagiert der von Drücke als zentraler Theorieansatz vorgestellte und von Klaus Viehmann verfaßte Text "Drei zu Eins. Klassenwiderspruch, Rassismus und Sexismus" ein an Focault anknüpfendes Modell "einer netzförmig angelegten Herrschaft", das in seiner den gesellschaftlichen Grundwiderspruch der Eigentumssicherung zulasten des anderen Menschen egalisierenden Funktion im wortwörtlichen Sinne alle Fäden zieht, die in so einem Netz eben gesponnen werden:

Daß gegen alle Unterdrückungen zu kämpfen ist, versteht sich von selbst; und von dem Erkennen der konkreten Zusammensetzung der Unterdrückungen hängt ab, wie gekämpft wird. Daß dabei der Kampf gegen eine Unterdrückungskomponente das Netz auch anderswo löchert (...) ist willkommen und ebenso möglich wie das Zuziehen des Netzes an anderer Stelle durch einen falsch oder unvollständig geführten Kampf.

In dieser Theorie Viehmanns manifestiert sich ein Grundproblem libertärer Ideologie, das mit dafür verantwortlich sein dürfte, daß es sich bei der Vielfalt der präsentierten Publikationen nicht nur um einen Ausdruck überbordender Schaffenskraft und themenzentrierter Differenzierung handelt, sondern auch der Not innerhalb der libertären Szene voneinander vorzunehmender Abgrenzung. Wo die Frage nach dem revolutionären Subjekt mit der Behauptung, es könne keine monokausale Ursache für Herrschaft geben, gänzlich aufgegeben wird, da hilft es auch nicht weiter, wenn Drücke zu der als Kern des "Drei zu Eins"-Papiers vorgestellten "triple-oppression-Analyse als Mittel zum besseren Verständnis der gesellschaftlichen Totalität und als zueinander- in-Beziehung-Setzung von anti-kapitalistischer, anti- patriarchalischer und anti-rassistischer Theorie und Praxis" behauptet, sie sei "von großer Aktualität" und werde "durch die Ereignisse und Umbrüche der letzten Jahre" in ihrer Bedeutung als Theorieansatz bestätigt. Dies begründet er mit folgenden sich aus diesem Ansatz ergebenden Konsequenzen:

- das Bewußtsein von der Unteilbarkeit aller Kämpfe gegen alle Unterdrückungen; - das Bewußtsein vom Vorhandensein von Unterdrückungen, 'deren privilegierer bzw. selbst unterdrückender Teil mann (auch frau) selbst ist'; - das 'Abgehen von der Orientierung an den eigenen Interessen (Betroffenheitspolitik) in dem Maße, wie Unterdrückungen, von denen die Linke (hierzulande) nicht so sehr betroffen ist, als wichtiger erkannt werden.'

Wenn dieser umständliche Versuch der libertären Theorie, Selbstverständliches zur Errungenschaft zu erheben und als Handlungsanweisung gegen offensichtlich noch diffusere Verkennungen über die Macht des Gegners und die eigene Verstrickung in dessen räuberisches Treiben zu propagieren, dann auch noch in eine Schlußfolgerung Sigrists über die produktive Funktion dieses Theorieansatzes auf "den Wandel der Gesellschaft" mündet, für den plötzlich der wichtigen Rolle weltweit agierender Nichtregierungsorganisationen das Wort geredet wird, dann weiß man allerdings, daß Kropotkin und Bakunin, Mühsam und Landauer auf eine Rutsche gesetzt wurden, die mitten ins herrschende Establishment führt.

Ist man sich der grundlegenden Konformität des Buches von Bernd Drücke gewahr, dann kann man es dennoch als Fundgrube für Informationen über die libertäre Szene und als Anregung für eine alternative Publizistik, der bereits ein paar hektographierte Blätter genügen, um politische Wirkung zu entfalten, nutzen. Die Geschichte noch existierender Zeitungen wie Interim und Graswurzelrevolution wie die der stark verfolgten radikal lohnen allemal die Lektüre, wenn man sich einen Überblick über ein maßgebliche Spektrum der deutschen Linken verschaffen will. Die Gründlichkeit eines Chronisten, der auch kleine Details für bewahrenswert hält, bringt der Autor allemal auf, doch wäre eine parteilichere Schrift sicherlich erfrischender zu lesen und dem Anspruch von Herrschaftskritik gegenüber angemessener gewesen.


Bernd Drücke
Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht?
Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland
Verlag Klemm und Oelschläger, Ulm, 1998