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REZENSION/143: Walter - Reclams Krimi-Lexikon · Autoren und ihre Werke (SB)


Herausgeber: K.-P. Walter


Reclams Krimi-Lexikon

Autoren und ihre Werke



Welcher echte Krimifan kann sich dem Reiz eines neuen Lexikons zum Genre schon entziehen, verspricht er sich doch so manche Neuentdeckung und eine Ergänzung seiner Kenntnisse. Natürlich hofft er auf ausführliche Informationen über Leben und Werk von Autoren, zu Hintergründen und neuen Entwicklungen und vielleicht sogar auf den einen oder anderen Anhaltspunkt für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Genre. Das Vorwort mit seinem schnellen Abriß der jüngeren Geschichte und dem Versprechen: "Reclams Krimi-Lexikon will helfen, eine Bresche zu schlagen in einen Literaturdschungel, den der Einzelne kaum mehr zu überblicken vermag, und Informationen vermitteln über die zeitgenössische Kriminalliteratur nicht nur der klassischen Krimiländer oder -gebiete wie Commonwealth und USA, sondern auch neuer wie Lateinamerika, wie Israel, der Türkei, Albanien und Afrika mit ihren z.T. ganz eigentümlichen Erscheinungsformen." (a.d. Vorwort, S. 9), bestätigt denn auch diese Erwartungen und hängt die Latte recht hoch.

Es liegt in der Natur der Sache, daß die Stellungnahme zur Kriminalliteratur sehr zugewandt ausfällt. Leider nimmt der Herausgeber im Vorwort nur indirekt Stellung zu der leidigen, aber auch wichtigen Diskussion um die Funktion der Krimis als Trivial- oder Fluchtliteratur. So endet es als etwas verkürzter Versuch, das Genre aufzuwerten und sich für den schlechten Ruf dieser Literatursparte zu entschuldigen, was weder der Verlag, noch der Herausgeber, noch Krimis nötig haben:

Seit der fruchtbaren Synthese von Kriminalliteratur und sozialer Analyse, die von Skandinavien ihren Ausgang nahm, ist die Kriminalliteratur weniger denn je ein Schmuddelgenre, sondern dient wie andere Literatur dazu, gesellschaftliche Zustände und Wandlungen zu erkennen und zu benennen. ... In diesem Sinne steht Reclams Krimi-Lexikon im Gegensatz zu jenen, die in der Befrachtung des Kriminalromans mit sozialen, philosophischen oder anderen theoretischen Aspekten den Niedergang des Genres erkennen wollen, statt darin eine Bereicherung und Weiterentwicklung zu sehen. (a.d. Vorwort, S. 8)

Nebenbei liefert das Vorwort eine Definition des Genres, die zu finden nicht leicht und aus dem Grunde recht weit gefaßt ist: "Um der Kriminalliteratur zugerechnet werden zu können, muss im Zentrum eines belletristischen Werkes ein crimen, ein Verbrechen stehen. Dabei ist es unerheblich, ob auch eine Detektion, eine Ermittlung erfolgt... Der klassische Kriminalroman mit einem Polizisten, Detektiv oder Anwalt als Helden kann heute nur als eines von vielen Subgenres der expandierenden Gattung Kriminalliteratur gelten." (a.d. Vorwort, S. 9)

Was der Leser nach diesen Vorbemerkungen keineswegs erwartet, ist eine Sammlung ausgiebiger Zusammenfassungen von Büchern, die er vielleicht gern selbst noch lesen würde. Was in einem Opern-, Musical- oder Schauspielführer Sinn macht, weil man mit ihrer Hilfe der Handlung besser zu folgen vermag, erhält hier ein unnötiges, gar irritierendes Gewicht. Im Verhältnis zu den preisgegebenen Verwicklungen und Pointen nehmen die inhaltliche und sprachliche Analyse, Zuordnung und übergreifende Hinweise, Hintergrundinformationen über Beweggründe des Verfassers oder seine eigenen Äußerungen sowie biographische Notizen zu den Autoren aus dem Erfahrungsschatz des Herausgebers leider einen viel zu geringen Raum ein. Was man unter dem Namen des jeweiligen Autoren findet, sind zumeist Stichpunkte, Assoziationen oder auch Hinweise auf Zusammenhänge und Ähnlichkeiten, ab und zu eine Stellungnahme, zu häufig leider schon Inhaltliches zu den Büchern und ihren Protagonisten statt biographischer Angaben. Für den, der sich nicht sowieso schon auskennt, ist es bisweilen gar nicht so leicht zu entscheiden, ob der Text den Verfasser oder schon das Werk beschreibt:

"GISBERT HAEFS Deutschland (*1950)
"Er ist", sagt Lebensgefährtin Ariane Binder über Balthasar Matzbach, "in seiner vorigen Inkarnation bestimmt ein papierfressender Wurm gewesen, der nie satt geworden ist. Das holt er in diesem Leben alles nach.""

Denn eigentlich erwartet man an dieser Stelle ein paar Worte zum Autoren. Oberflächlich betrachtet, entsteht auf's Ganze gesehen der Eindruck, es sei hier nach den Rezept vorgegangen: Man nehme einen Haufen Romane, fasse sie zusammen und kombiniere sie mit ein paar Assoziationen und mehr oder weniger zufällig zur Verfügung stehenden Informationen - und schaffe einen neuen "Dschungel".

Nun wäre es unfair, dieses Werk, von dem man sich als eingefleischter Fan ein veritables Handbuch für alle Fälle gewünscht hätte, mit wesentlich umfangreicheren und etablierten Literaturgeschichten zu vergleichen. Trotzdem vermißt man den weiter gespannten Überblick sowie eine Systematik, die gleichzeitig einen roten Faden für das gesamte Lexikon geboten hätte. Vielleicht ein hoher Anspruch für ein Krimi-Lexikon, doch wäre es auf längere Sicht ein ungeheuer lohnendes und ansprechendes Projekt. Beim Lesen wünscht man sich eine systematischere Aufteilung und Übersicht zum Beispiel nach Biographie, Werk, Stellungnahme, Einordnung und Sonstiges, die nicht als solche kenntlich gemacht sein müßte, sondern eher eine Art innere Gliederung darstellen könnte. Daß dies vermieden wurde, legt den Schluß nahe, man wolle auf die vorhandenen Lücken nicht auch noch deutlich hinweisen. Das wirklich Spannende an einem genreorientierten Lexikon ist doch, Dinge über Autor und Werk zu erfahren, die im jeweiligen Roman oder seinen Begleittexten nicht zu finden sind bzw. diese erweitern oder über die man sich so ohne weiteres keine Gedanken gemacht hätte.

Möglicherweise würde sich sogar die Aufteilung in einen Werk- und einen Schlagwortteil lohnen. Denn es wäre auch schön, einige Schlagworte zum Krimi und Einträge zu unterschiedlichen Krimitypen wiederzufinden und so beispielsweise dem klassischen Detektivschema, dem US-amerikanischen Polizeithriller, dem Mosel-, Trier- und Nordseekrimi, dem historischen oder dem Klosterkrimi, dem Politkrimi und weiteren Hintergründen zu russischen und skandinawischen, chinesischen Werken auf die Spur zu kommen. Möglicherweise müßte man dann eigene Definitionen anbieten, doch damit wäre gleichzeitig die Chance verbunden, diese zu prägen und sich mit ihnen durchzusetzen. Warum sollte man sich diesem Genre nicht so anspruchsvoll widmen, gleich weiterführende Analysen und Zeitbilder mitzuliefern? In dem Zusammenhang ist es besonders betrüblich, daß u.a. auf eine Unterscheidung zwischen BRD und DDR-Romanen oder russischen und sowjetischen Romanen verzichtet wurde, da die Gesellschaftsform einen entscheidenden Hintergrund für Darstellungsweise, Sicht und Verlauf darstellt. Auch würde sich eventuell eine Länderübersicht in Form einer Tabelle anbieten, um die entsprechende Gewichtung auf dem Markt zu sehen. Bedauerlicherweise, vielleicht aus Platzgründen verständlich, ist auch die jeweilige Werkliste der Autoren unvollständig.

Der Krimi ist zwar der oben zitierten Definition nach nicht eine nur westliche Erscheinung, paßt jedoch wenig zu den Erzähltraditionen anderer Länder und Völker. Deshalb wird es naturgemäß schwierig, diese einzubeziehen. Zudem werden unhinterfragt die Bewertungsmaßstäbe westlicher Kultur angelegt, und es fällt auf, daß die erwähnten Autoren in der Regel Kontakt mit westlicher Kultur und Bildung hatten. Meja Mwangi aus Kenia, einem Land mit sowieso schon kolonialer Vergangenheit, arbeitete lt. Lexikon beim französischen Fernsehen und dem "British Council" und absolvierte sogar einen Schreibkurs an der Universität von Iowa, USA, um jetzt nur einen zu nennen.

Ein Beispiel zu dem Problem, das nicht nur der Herausgeber mit für westliches Empfinden "fremden" Kulturen hat, sei der Ausrutscher im Beitrag zu dem albanischen Autoren Kadaré, der mit dem Satz beginnt: "Albanien ist ein archaisches, eigenwilliges und kriegerisches Land. ... Eine Kriminalliteratur im westlichen Sinne scheint es nicht hervorgebracht zu haben, doch... (S. 226) Oha, denkt der Leser: Da herrschen Zustände wie im Mittelalter. Und das denkt er mit allen Implikationen. Was auf den ersten Blick wie eine Einführung zu einem von Karl Mays Abenteuerromanen klingt - und damit tut man diesem noch unrecht -, ist eine gelungene Diffamierung mit Blick durch die westliche Konsumentenbrille.

Kommt man jetzt noch einmal kurz auf die lange Reclam-Tradition der Reclam-Führer besonders im Theater- und Musikbereich zu sprechen, fällt schon die geringere Akribie im Umgang mit dem Krimistoff auf. Dies könnte den Schluß nahelegen, daß sich der Herausgeber wie der Verlag letztlich das gängige Urteil über den Krimi als trivialer Ablenkung zu eigen machen. Andererseits fehlt diesem Genre bzw. dem lexikalischen Umgang mit dem Krimi einfach auch die entsprechende Tradition, die es dem Herausgeber eines Schauspielführers zum Beispiel einfacher macht, diesen neu zusammenzustellen oder einfach nur zeitgemäßer zu gestalten und um neue Aspekte zu erweitern. Eine solche Tradition zu begründen hieße, die Reihe der schon installierten Reclam- Führer um eine interessante Variante zu erweitern. Man hätte dann das Problem eines kombinierten Krimiführers und Sachbuchlexikons der Kiminalliteratur zu bewältigen, aber das Projekt würde sich auf lange Sicht lohnen. Denn dieses Werk hätte gerade aufgrund der hohen Aufmerksamkeit, der sich das Krimigenre nach wie vor erfreut, die Chance, ein ähnlicher Langzeithit zu werden.

Nun sollen noch die leserfreundliche Aufmachung und Schrift nicht unerwähnt bleiben. Und, wenn man gerne stöbert, sich mal hier, mal da einen Eindruck verschaffen und dieses oder jenes spezielle Informationsbröckchen aufnehmen will, ist das Werk nicht uninteressant. Ähnlich einem Wörterbuch, findet man bei wiederholtem und genauerem Zugriff und Lesen immer mehr Informationen.

Wie im Vorwort angedeutet, findet sich auch tatsächlich eine, nicht nur durch die Produktivität der jeweiligen Autoren begründete, Gewichtung in den verschiedenen Einträgen sowie die eine oder andere knappe und aufschlußreich-erfrischende Bewertung folgender Art:

TED ALLBEURY Großbritannien (*1917)
Ted Allbeury widmet sich dem klassischen Spionageroman, allerdings nicht mit der gleichen Meisterschaft wie J. -> Le Carré. Während des Zweiten Weltkriegs war Allbeury beim *Intelligence Corps*, nach 1945 verhörte er als britischer Besatzungsoffizier im Raum Hildesheim- Hannover gefangene Nazis. Sein Deutschlandbild scheint noch immer unter dem Einfluss der Kriegserlebnisse zu stehen, wenngleich im vorliegenden Fall die Sowjets die Hintermänner stellen. Allbeurys Helden sind gespaltene Persönlichkeiten. Negativ fällt Allbeurys Frauenbild auf; fast alle Frauen sind gut aussehend, vollbusig und stets zu allem bereit. (*...* kursiv, Anm. der Schattenblick-Redaktion)
TOM CLANCY USA (*1948)
Für Tom Clancy, einen amerikanischen Hauruck-Patrioten und Hightech- Waffennarr, ist der Kalte Krieg nie zuende gegangen...
JOY FIELDING Kanada (*1945)
In Fieldings beim weiblichen Publikum beliebten Thrillern gerät in der Regel eine bis an die Schmerzgrenze naive Heldin in ein Komplott ihres Mannes...

Um nur kurz ein, zwei Beispiele zur Gewichtung zu nennen, fällt unter anderem auf, daß unter dem Eintrag Henning Mankell, zur Zeit Bestseller in Deutschland, leider ganze acht Wallander- Romanzusammenfassungen vertreten sind. Da hätte man sich die eine oder andere sparen können und zur Information eventuell sein frühes und völlig anders geartetes Werk "Der gewissenlose Mörder Hasse Karlsson enthüllt die entsetzliche Wahrheit, wie die Frau über der Eisenbahnbrücke zu Tode gekommen ist" aufnehmen können. Die ausgiebige Behandlung der Sjöwall/Wahlöö-Romane, die man getrost als charakteristisch für eine ganze Epoche und vor allem für einen Krimitypus, bezeichnen kann, ist im Gegensatz dazu gerade deswegen gerechtfertigt, weil in der heutigen Zeit das Augenmerk mehr auf der schnellen Unterhaltung als auf der tieferen Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Problemen liegt. So wird zwar Mankells moderne Figur des Kommissar Wallander mit allen seinen Schwierigkeiten als Kind der heutigen Zeit deutlich, doch verliert sich der Autor in der bloßen Beschreibung.

Wie zu erwarten, liegt das Augenmerk beim Vielschreiber Georges Simenon auf seinem hochbekannten Kommissar Maigret und nicht auf seinen subtilen Romanen zur zwischenmenschlichen Agression wie beispielsweise dem durchaus als Krimi zu verstehenden, 1933 entstandenen Roman "Das Unheil", in dem sich nach einem Mord im ländlichen Milieu Mißtrauen, Haß und Angst zu einer beklemmenden Atmosphäre verdichten. Doris Gercke hingegen wird, sieht man nur noch einmal auf Henning Mankell, mit dem einen Roman doch recht "stiefväterlich" behandelt. Zugegebenermaßen ist es schwierig, bei der Fülle der auf dem deutschen Markt erhältlichen Krimis eine Auswahl für ein Lexikon zu treffen, aber vielleicht sollte Adolf Muschg mit seinem Roman "Albissers Grund" nicht fehlen, der den einen oder anderen Leser interessieren dürfte.

Bei allen Wünschen, die ein echter Krimifan noch an ein Lexikon des Genres seiner Wahl haben mag, entwickeln sich Ergänzungsvorschläge aus dem Engagement heraus und nicht, weil man auf das Lexikon selbst verzichten würde. Denn die Existenz eines solchen ist nahezu unentbehrlich und ein begeisterungswürdiges Vorhaben.


Herausgeber: K.-P. Walter
Reclams Krimi-Lexikon
Autoren und ihre Werke
Philip Reclam jun. Stuttgart
488 Seiten, gebunden, 28,90 Euro
010509