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REZENSION/150: Humanistische Union e.V. - Innere Sicherheit als Gefahr (SB)


Herausgegeben von Nils Leopold, Sebastian Schick


Innere Sicherheit als Gefahr



Man geht sicherlich nicht fehl in der Annahme, daß zwischen dem fortschreitenden Abbau von Bürgerrechten und dem geringen Interesse, den Verlust elementarer Grundrechtsansprüche überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, ein direkter Zusammenhang besteht. Während sich in den frühen achtziger Jahren noch eine breite Front gegen die geplante Volkszählung formierte, wurde der damals befürchtete Alptraum des gläsernen Bürgers dank des stürmischen Fortschritts der elektronischen Datenverarbeitung längst von der Wirklichkeit in Staat und Gesellschaft überholt, ohne daß sich Widerspruch in nur annähernd vergleichbarer Stärke regte. Als die rot-grüne Bundesregierung 1998 antrat, stand noch die Aufhebung der in den siebziger Jahre erlassenen Terrorismusgesetze auf dem Programm. Inzwischen kann davon nicht nur keine Rede mehr sein, sondern zu diesen unverändert beibehaltenen Sondervollmachten gesellen sich neue gesetzliche Auflagen, die die Überwachungs- und Zugriffskompetenzen der Sicherheitsbehörden ausweiten, während dem Bürger weit weniger Mittel an die Hand gegeben werden, von derartigen Nachstellungen auch nur Kenntnis zu erlangen, geschweige denn sie zu verhindern.

Dabei handelt es sich bei weitem nicht nur um Maßnahmen, die man nach dem 11. September 2001 in Gesetzesform gegossen hat, um der angeblich neuen Bedrohung durch den Terrorismus Herr zu werden. Die zwei seitdem verabschiedeten Sicherheitspakete enthalten eine Fülle von Vorkehrungen, deren Zusammenhang zum angeblichen Anlaß nicht so recht einleuchten will und von denen man zum Teil weiß, daß sie lange vor den Anschlägen von New York und Washington konzipiert wurden. Das gleiche gilt für die Formulierung supranationaler Rahmenbedingungen für die nationale Strafverfolgung im Rahmen der EU. Ein höchst prekäres Instrument des Staatsschutzes wie die von der EU-Kommission eingebrachte Terrorismus-Definition, mit der sich auch Formen des zivilen politischen Protestes kriminalisieren lassen, lag lange vor dem 11. September 2001 in der Schublade und wartete nur auf ein Ereignis dieser Dimension, um wider alle rechtsstaatlichen Bedenken zur verbindlichen Grundlage nationaler Gesetze zu werden.

Kurzum, es liegt einiges im Argen auf der Seite des Gesetzgebers und der Exekutive wie auf der des Bürgers, der offensichtlich mit allem anderen beschäftigt ist als die Privilegien seiner Existenz als Citoyen zu verteidigen. Da kommt die Schrift mit dem programmatischen Titel "Innere Sicherheit als Gefahr" der 1961 gegründeten Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union gerade recht. Das mit unscheinbarem Einband ohne Illustration auf einen höchst nüchternen und seriösen Umgang mit der Materie einstimmende Werk ist eine wahre Fundgrube für alle an Fragen der Inneren Sicherheit interessierte Laien wie Experten. Es markiert in über 20 Einzelbeiträgen renommierter Juristen, Soziologen, Kriminologen, Politologen, Richter sowie hochrangiger Polizeibeamter den aktuellen Stand der Debatte um den stets in Bewegung befindlichen Antagonismus von staatlicher Verfügungsgewalt und bürgerlicher Freiheit.

Dabei ist die Lektüre des in die drei großen Abschnitte "Perspektiven" - der politische und gesetzliche Rahmen der Inneren Sicherheit -, "Akteure" - Sicherheitsbehörden von Polizei bis Geheimdiensten - und "Instrumente" - das Arsenal staatlichen Zugriffs und seine technischen wie rechtlichen Grundlagen - gegliederten Buches trotz Faktenlastigkeit und Expertenjargons keineswegs trocken zu nennen. Im Vorwort des Soziologen und Kriminologen Prof. Dr. Fritz Sack erfährt man nicht nur, daß es sich bei diesem Sammelband um die zweite Stellungnahme der Humanistischen Union zum Politikfeld der Inneren Sicherheit handelt und diese aus gegebenem Anlaß weit voluminöser ausfällt als ihr Vorgänger aus dem Jahr 1994, sondern es wird vor allem engagiert Stellung für die Wahrung bürgerlicher Freiheitsrechte bezogen.

So weist Sack darauf hin, daß es den Autoren gerade nicht um die "desinteressierte Neutralität und 'Gleich-Gültigkeit'" ginge, die man bei fachwissenschaftlichen oder auch interdisziplinären Publikationen üblicherweise erwartet, sondern daß das inhaltliche Profil des Werks "von den Akzenten und Präferenzen, die die Bürgerrechtsarbeit der HUMANISTISCHEN UNION ausmacht und wiederspiegelt", gekennzeichnet sei. Da es in den Beiträgen kaum um konkrete Fallanalysen und damit die alltägliche Arbeit der Bürgerrechtsorganisation geht, sondern das "prozessuale und institutionelle Regelwerk staatlicher Sicherheits- und Kriminalitätskontrolle" im Mittelpunkt steht, hält man mit "Innere Sicherheit als Gefahr" so etwas wie ein Grundbuch zur Aufklärung des Bürgers über die Gefahren, die vom staatlichen Gewaltmonopol für seine Freiheit ausgehen, sowie zu den Möglichkeiten, sich ihrer zu erwehren, in der Hand.

Wer sich von der häufig unzureichenden und meist fragmentarischen Berichterstattung der Medien zu diesem Thema alleingelassen fühlt, erhält in dem Buch nicht nur detaillierten Aufschluß über die institutionellen Strukturen, die gesetzliche Mechanik und bürokratische Dynamik der Sicherheitsbehörden, sondern wird vor allem auch über den Zusammenhang zwischen parlamentarischer Beschlußfassung, exekutiver Ausformung und gesellschaftlicher Realität der Sicherheitspolitik aufgeklärt. Angesichts der gut begründeten Kritik, die viele Autoren am zur staatsautoritären Ideologie überbordenden Sicherheitswahn üben, kann es nicht verwundern, daß, wie man nebenbei erfährt, das ehemalige HU-Beiratsmitglied Bundesinnenmninister Otto Schily seine Mitgliedschaft in der Bürgerrechtsorganisation aufgekündigt hat.

Wer Argumente gegen den scheinbar unaufhaltsamen Zug zum Sicherheitsstaat sucht, der kann sich über den Beitrag "Mehr Innere Sicherheit durch weniger Freiheit?" von Prof. Dr. Martin Kutscha freuen. Darin stellt der Staats- und Verwaltungsrechtler kategorisch den Charakter von Grundrechten als bürgerliche Freiheitsrechte, "gleichsam als ein System des institutionalisierten Mißtrauens gegenüber der Staatsmacht", heraus, demgegenüber ein "Grundrecht auf Sicherheit", auf dessen Beanspruchung sich die staatliche Verfügungsgewalt über den einzelnen fast beliebig erweitern ließe, nur im Wunschdenken der Apologeten quasitotalitärer Repressionsapparate existieren kann. Daß das seinem Wesen nach niemals zu befriedigende Sicherheitsbedürfnis nach dem duckmäuserischen Motto "Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten" dennoch immer weitreichendere Zugriffsmöglichkeiten generiert und der Präventionsgedanke den Zeitpunkt schuldhaften Handelns tendenziell vor das Ausüben einer Straftat verlegt, ist im Sinne eines im besten Sinne konservativen Verhältnisses zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik allerdings als tragische Entwicklung zu bezeichnen.

Als weiterer Beitrag zur Grundrechtedebatte ist das Thema "Rechtsschutzprobleme bei Sicherheitseingriffen" zu empfehlen, das der ehemalige Düsseldorfer Polizeipräsident Prof. Dr. Hans Lisken mit der ganzen Kompetenz des rechtswissenschaftlich fundierten Praktikers abhandelt. Seine Klarstellungen zum Rechtschutz des einzelnen, repräsentiert durch den Richtervorbehalt, im Verhältnis zum sicherheitspolitischen Handeln des Staates bezüglich des höchst aktuellen Themas der Folter oder der Ermittlungsmethode der DNA-Analyse sind für einen Laien nicht immer leicht zu verstehen, lohnen aber die bemühte Lektüre.

Ein wesentlicher Schwerpunkt fast aller Beiträge liegt in dem Problem des mit den vielfältigen datenelektronischen Überwachungsmöglichkeiten und -kompetenzen so schattenhafter Polizeibehörden wie Europol nicht Schritt haltenden Datenschutzes. Wenn der Schleswig-Holsteinische Datenschützer Dr. Thilo Weichert unter Verweis auf den früheren Präsidenten des Bundeskriminalamtes Horst Herold, einst die Personifikation des Orwellschen Überwachungsstaats, anmerkt, daß dessen sozialtechnokratische Vision insofern "zu kurz gegriffen" war, "als sie die repressiven, ja totalitären Möglichkeiten moderner sicherheitsbehördlicher Datenverarbeitungstechnik unterschätzte", dann hat er das Problem jedes Menschen, der sein Verhalten nicht durch das Gewahrsein stetiger Fremdbeobachtung konditionieren und seine Existenz damit veräußern will, mit einem einfachen zeitgeschichtlichen Bezug auf den Punkt gebracht.

Die Fülle des dargebotenen Materials umfaßt weiterhin die ausführliche Kritik geheimdienstlicher Allgewalt als Form antidemokratischer Ermächtigung, verfaßt von dem bekannten Publizisten Dr. Rolf Gössner. Immer wieder werden die Praktiken, mit denen der Staatsschutz gegen sogenannten politischen Extremismus vorgeht, hinterfragt, und in diversen Beiträgen werden Methoden polizeilicher Fahndung auch verdeckter Art und ihre strafrechtliche Relevanz abgehandelt. Nicht minder lesenswert und in fachlicher Hinsicht anspruchsvoll sind die ausführlichen Erläuterungen der rechtlichen wie technischen Grundlagen der diversen audiovisuellen wie datenelektronischen Kontrolltechnologien. Der Exkurs der Präsidentin der American Civil Liberties Union, Prof. Nadine Strossen, über die Bürgerrechtsentwicklung in den USA nach dem 11. September 2001, sowie diverse Ausblicke auf die sicherheitspolitische Entwicklung im Rahmen der EU komplettieren das Szenario eines keineswegs auf die Bundesrepublik beschränkten, sondern parallel zur Globalisierung weltweit dominierenden Trends zum Ausbau der Repressionsapparate.

Wo immer man sich über einzelne politische Bewertungen der Autoren streiten könnte, sollte man dies unbedingt tun. Auf der in diesem Buch kategorisch bezogenen Grundlinie des liberalen humanistischen Appells an die Wahrung in harten Kämpfen errungener bürgerlicher Freiheiten, die in einer sich immer stärker ökonomischen Sachzwängen und sozialdarwinistischen Ideologien unterwerfenden Gesellschaft geringer denn je geschätzt werden, können sich jedoch alle Menschen treffen, die den Rückfall in die finsteren Zeiten totalitärer Anmaßung als schweren Schaden an jeder Form menschlicher Entwicklung begreifen.


Herausgegeben von Nils Leopold, Sebastian Schick
Innere Sicherheit als Gefahr
HUMANISTISCHE UNION / Schriften. HU-Schrift 23
Preis: 15 Euro
ISBN 3-930416-23-9