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REZENSION/182: Cathrin Schütz - Die NATO-Intervention in Jugoslawien (SB)


Cathrin Schütz


Die NATO-Intervention in Jugoslawien

Hintergründe, Nebenwirkungen und Folgen



Wer sich dieser Tage über die Wahlerfolge nationalistischer Kräfte in Serbien wundert und nicht bereit ist, die dazu in der Presse verbreiteten serbophoben Ausfälle als quasi selbstevidente Erklärung dieser Entwicklung zu akzeptieren, der ist gut beraten, sich mit der jüngsten Vergangenheit dieses Landes im Kontext europäischer und amerikanischer Hegemonialpolitik zu beschäftigen. Wenn sich nun wieder deutsche Journalisten zur kollektiven Verdammung der serbischen Gesellschaft als "krank" ("Die Welt" zum Ergebnis der Parlamentswahlen vom 28. Dezember) versteigen - und mit diesem volkspathologischen Befund einiges über ihren eigenen Hang zu rassistischer Verallgemeinerung verraten -, dann läßt sich ahnen, daß in ihren Augen der Sieg der NATO im Jugoslawienkrieg vor vier Jahren erst dann vollständig errungen sein wird, wenn sich in Serbien kein Widerstand mehr gegen das Diktat supranationaler Ordnungspolitik und den Anspruch transnationaler Konzerne auf unbehinderten Zugriff mehr regt.

Um so wichtiger ist es, die Position der wenigen Menschen im deutschsprachigen Raum, die die regierungsamtliche und mediale Propaganda über den Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) und die Bezwingung der Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) in Frage stellen, durch eine gründliche Dokumentation und fundierte Analyse jener Ereignisse den Rücken zu stärken, die das Verschwinden des Landes der Südslawen von der Landkarte bedingt haben. In den zwanzig Jahren vom Tode Titos im Jahre 1980 bis zum Sturz Milosevics im Oktober 2000 fand das lange Sterben eines sozialistischen Staates statt, der schon während der Blockkonfrontation aufgrund seiner konstitutiven Rolle in der Blockfreienbewegung, seiner Gegenposition zu den imperialistischen Praktiken der Großmächte, seines Erfolgs beim Ausgleich innerethnischer Differenzen und seines Konzepts der Arbeiterselbstverwaltung für viele Menschen in aller Welt ein Modell war, das man konstruktiv hätte weiterentwickeln können.

Welche Irrwege die jugoslawische Politik beim schwierigen Austarieren zentralistischer und zentrifugaler Kräfte auch immer beschritten haben mag, sie wäre gerade angesichts der Probleme, die die Europäische Union bei der Bewältigung dieser Kernfrage jeder multiethnischen und sozial fragmentierten Organisationsform vor sich auftürmt, ein ideales Beispiel zur Entwicklung föderalistischer Konzepte, die nicht von vornherein darauf angelegt sind, regionalen Widerstand zu provozieren und eine dementsprechend repressive Ordnung zu installieren. Daß SFRJ und BRJ, wie sich bei genauerem Hinsehen schnell erweist, einer systematischen Demontage ihrer souveränen Handlungsmöglichkeiten erlagen, die von Staaten wie den USA und Deutschland initiiert und supranationalen Akteuren wie dem IWF und der NATO umgesetzt wurde, um nur die herausragendsten Akteure beim Namen zu nennen, läßt vermuten, daß man schon im Vorfeld der sich abzeichnenden Niederlage des sozialistischen Staatenblocks auf die Elimination jeder danach verbleibenden Alternative zur kapitalistischen Weltordnung setzte. Die Einmütigkeit, mit der die BRJ als letzter Repräsentantin der jugoslawischen Idee und einer Gesellschaft, die noch einige sozialistische Ideale und den Anspruch auf nationalstaatliche Souveränität hochhielt, in der EU und den USA zum Feind des Westens erklärt wurde, verweist darauf, daß selbst die Restbestände der jugoslawischen Staatlichkeit eine zu große Herausforderung für die neoliberal-staatsautoritäre Doktrin dargestellt hätten, die in der sogenannten freien Welt zum irreversiblen Organisationsprinzip erhoben werden soll.

Die Diplom-Politologin Cathrin Schütz handelt mit ihrem Buch "Die NATO-Intervention in Jugoslawien" die militärische Unterwerfung der BRJ in einer Vollständigkeit ab, die den Kolporteuren der gängigen Mythen und Legenden über den Jugoslawienkrieg keine Chance läßt, mit ihren Behauptungen durchzukommen, so sie sich auf eine Konfrontation mit den in diesem Werk dargelegten Fakten und Analysen einließen. Da sich die Protagonisten und Herolde der Neuen Weltordnung eingedenk ihrer monopolistischen Definitionsgewalt gemeinhin keinen Auseinandersetzungen mit ernstzunehmenden Kritikern stellen, übernimmt Schütz diese Aufgabe für sie. Sie fährt eine Fülle an Belegstellen aus Dokumenten, Publikationen und Stellungnahmen auf, die auf der Generallinie der angeblich humanitär motivierten Intervention in der serbischen Provinz Kosovo durch die NATO liegen, um sie zum einen anhand der ihnen immanenten Widersprüchlichkeit ad absurdum zu führen und zum andern mit Beweisen für ihre Unrichtigkeit aus normalerweise nicht veröffentlichten und schwer zugänglichen Quellen als unzutreffend zu exponieren.

Im Unterschied zu vielen Produkten der Politikwissenschaft beläßt es die Autorin nicht bei einer sich neutral und objektiv gebenden, tatsächlich jedoch durch die Auswahl der Belege und die Schwerpunkte der Analyse auf Mehrheitskompatibilität und Affirmation vorherrschender Ideologie setzenden Darstellung, sondern gestattet sich durchaus eine persönliche Bewertung der geschilderten Ereignisse. Das ist angesichts der Demagogie, mit der dieses Thema üblicherweise in Politik und Publizistik behandelt wird, durchaus angemessen, hat man es beim Thema Jugoslawien und Serbien doch mit einem von massiven politischen Interessen besetzten Feld zu tun. Dabei sind Schlußfolgerungen wie die folgende zum Zustandekommen der NATO-Intervention gründlich belegt, so daß man der Autorin keineswegs den Vorwurf machen kann, unwissenschaftlich vorgegangen zu sein:

"Entgegen den Aussagen dieser Autoren waren es jedoch ganz offensichtlich nicht fehlgeschlagene 'westliche' Bemühungen, die zum Krieg führten. Offenbar lag eine klare Absicht einiger 'westlicher' Akteure vor, nach außen eine Verhandlungsbereitschaft und ehrliches Bemühen um eine friedliche Lösung zu signalisieren, tatsächlich jedoch diese Bemühungen so zu gestalten, dass sie immer wieder scheiterten." (S. 41)

Wenn die Apologeten einer den Schein der Dinge als alleinseligmachende Wahrheit propagierenden Politik versuchten, diese Exposition des machtpolitischen Getriebes als Verschwörungstheorie zu diffamieren, so müßten sie sich allerdings mit Argumenten auseinandersetzen, die aufgrund der sie stützenden Belege nicht wegzubehaupten sind. So schildert Schütz die Vorgeschichte des Kosovokonflikts unter Einbeziehung der jugoslawischen Verfassungsreform von 1974, die insbesondere zulasten der Integrität der Republik Serbien ging, indem sie deren Provinzen Vojvodina und Kosovo erhebliche Autonomierechte unter Beibehaltung ihres Einflusses auf die serbische Regierungspolitik gewährte, sowie der Rücknahme dieser Privilegien durch die Verfassungsänderung 1989/90. Sie belegt die Drangsalierung der serbischen Bevölkerung des Kosovo in den achtziger Jahren, korrigiert die Unterstellung westlicher Journalisten und Politiker, die berühmt-berüchtigte Amselfeldrede Milosevics sei ein Dokument des großserbischen Chauvinismus, und rückt das Bild von der kosovoalbanischen UCK als einer lediglich defensiv agierenden Befreiungsbewegung gerade, indem sie deren separatistische Strategie und die darüber vermittelten Absichten ausländischer Akteure analysiert.

Der Vorwurf, die serbische und jugoslawische Regierung habe im Kosovo Völkermord an der albanischen Bevölkerung begangen, wird von Schütz ausführlich und unter Einbeziehung der Anklageerhebung gegen Präsident Milosevic durch das Internationale Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) widerlegt. Die Kritik an den Bestrebungen dieses völkerrechtlich zumindest fragwürdigen, wenn nicht illegalen ad hoc-Tribunals, die Geschichte der jugoslawischen Sezessionskriege nach Maßgabe der NATO zu kodifizieren, nimmt ebenfalls viel Raum in dem Buch ein. Schütz illustriert die Parteilichkeit des ICTY anhand der Weigerung, Kriegsverbrechen der NATO zu verfolgen, und enthüllt seine Funktion als Agentur spezifischer hegemonialer Interessen der USA und EU anhand seiner personellen Besetzung und Finanzierung.

Schon aufgrund der kontroversen Überprüfung dieses Vorläufers des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) und der dabei transparent werdenden Korrumpierbarkeit supranationaler Organe der Rechtsprechung, die komplexe politische Gewaltverhältnisse auf persönliche Machtambitionen zu reduzieren trachten, um Gerechtigkeit unter Ausschluß maßgeblich an kriegerischen Konflikten beteiligter Interessen und Kräfte herzustellen, verfügt das Thema des Jugoslawienkriegs über eine Bedeutung, die seit Ende der NATO-Intervention und ihres Einflusses auf die sicherheitspolitische wie völkerrechtliche Entwicklung eher zu- denn abgenommen hat.

Das gilt auch für die schwierige Analyse der Motive, die auf der Seite der NATO-Staaten zu dem Entschluß geführt haben, einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die BRJ zu führen. Hat man sich einmal des Fantasmas, es sei den kriegführenden Staaten tatsächlich um die Verteidigung der Kosovo-Albaner gegen die Unterdrückung durch die serbische Zentralregierung gegangen, entledigt, dann bieten sich mehrere mögliche Kriegsgründe an, die von Schütz vorgestellt und bewertet werden. Neben dem legitimatorischen Zweck der Existenzsicherung einer durch die veränderte Weltlage in Frage gestellten NATO und der Durchsetzung eines aggressiveren Strategischen Konzepts für die Militärallianz, wie während des Angriffs auf Jugoslawien im April 1999 auf dem NATO-Gipfel in Washington geschehen, neben geostrategischen Überlegungen und dem klassisch imperialistischen Motiv der gewaltsamen Sicherstellung mineralischer Ressourcen, deren Bedeutung anhand der Trepca-Mine im nördlichen Kosovo nachgewiesen wird, gibt die Autorin vor allem der These Raum, daß der Sturz der jugoslawischen Regierung unter Präsident Milosevic ein wesentliches Ziel dieses Krieges darstellte:

"Der NATO-Krieg ist in die 'westliche' Jugoslawienpolitik einzuordnen, die Jahre vor dem Zusammenbruch des Landes ansetzte. Dabei soll nicht der Anschein erweckt werden, es hätte eine einheitliche Strategie aller westlichen Staaten gegeben. Doch die Staaten hatten ein gemeinsames Ziel: 'Jugoslawien hat nicht sein dürfen.' Der Hintergrund läßt sich auf die einfache und kurze Formel Karam Khellas reduzieren: '1991 bestehen die realsozialistischen Staaten nicht mehr - Jugoslawien besteht noch.' Das gemeinsame Ziel westlicher Staaten war vor allem die Abschaffung der realsozialistischen Elemente samt Öffnung der Wirtschaft für ausländische Investoren durch Einführung von Marktwirtschaft und 'Demokratie' sowie die Sicherung des eigenen Einflusses. Hintergrund dieser Argumentation ist die Politik Milosevics, die restsozialistische sowie anti-imperialistische Elemente bewahrte und die, wie argumentiert, zerstört werden sollte. Jugoslawien war bekanntermaßen vor seinem Zusammenbruch kein rein kapitalistisches, marktwirtschaftlich organisiertes Land. Die Wirtschaftsordnung beinhaltete die Institution des gesellschaftlichen Eigentums und das System der assoziierten Arbeit, was in Serbien in Teilen aufrechterhalten wurde." (S. 123)

Für die Aktualität und Relevanz des Themas spricht daher vieles: der exemplarische Charakter der medialen Indoktrination, mit der dieser Krieg aus der Sicht der Angreifer legitimiert wurde und anhand dessen sich die grundlegende Bedeutung des Journalismus für die Herrschaftsicherung belegen läßt; die Haltlosigkeit der im Vorfeld des Irakkriegs geprägten Behauptung, Deutschland verfolge seine politischen Ziele im Unterschied zu den USA mit friedlichen Mitteln und unter Achtung des Völkerrechts; die Treffsicherheit, mit der sich für die Beziehungen zwischen den USA und der EU eine im Verhältnis zum Rest der Welt letztlich stets obsiegende imperialistische Interessenkonkordanz prognostizieren läßt; die Vorbildfunktion der ebenfalls ausführlich dargestellten Subversion, mit der der Sturz der Regierung Milosevic unter wesentlicher Beteiligung der NATO- Staaten bewirkt wurde, für Regimewechsel wie in Georgien und künftige Inthronisierungen westlicher Satrapen; die im Zentrum kriegerischer Konflikte stehende soziale Frage, die mit der Zerschlagung Jugoslawiens recht unverhohlen zugunsten der Fortdauer und Verschärfung ausbeuterischer Verhältnisse auch in der EU beantwortet wurde.

Für all diese Problemfelder liefert Cathrin Schütz mit ihrem Buch einen hervorragenden Diskussionsbeitrag. Es wäre allerdings von Vorteil gewesen, die vielen englischsprachigen Zitate zumindest im Rahmen der ansonsten sehr ergiebigen Fußnoten ins Deutsche zu übertragen. Auch wenn es dem Usus des Wissenschaftsbetriebs entsprechen mag, dies im Falle der angeblichen Lingua franca nicht mehr zu tun, so wäre es der Lesefreundlichkeit des Textes allemal zugute gekommen, viele unverzichtbaren Zitate auch dem nichtakademischen Publikum zugänglich zu machen. Gegen dessen Einbeziehung in die weitere Bearbeitung des Themas spricht allerdings auch der recht hohe Preis des Buches. Wer den für wissenschaftliche Publikationen nicht unüblichen Obulus von in diesem Fall knappen 20 Cent pro Seite nicht entrichten kann oder will, dem sei statt dessen die Tageszeitung junge Welt empfohlen, in der Cathrin Schütz ihr Engagement für die unterschlagene Sicht der Ereignisse in Jugoslawien im Rahmen der laufenden Berichterstattung zu den aktuellen Entwicklungen im Lande fortsetzt.


Cathrin Schütz
Die NATO-Intervention in Jugoslawien
Hintergründe, Nebenwirkungen und Folgen
Wilhelm Braumüller, Universitäts- und Verlagsbuchhandlung, Wien, 2003
als Band 62 der Reihe "Ethnos" erschienen.
166 Seiten, 32,90 Euro.
ISBN 3-7003-1440-X