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REZENSION/247: Gesellsch. Deutscher Chemiker - Chemie rund um die Uhr (SB)


K. Mädefessel-Herrmann, F. Hammar, H.-J. Quadbeck-Seeger


Chemie rund um die Uhr



Das offizielle Buch zum "Jahr der Chemie" 2003

Chemie galt viele Jahre, in denen sich die Folgen eines jahrzehntelangen sorglosen Umgangs mit den Errungenschaften der Wissenschaft unübersehbar in der Natur abzeichneten, als bloßes Schimpfwort. Nichts, was Chemie war, konnte auch gut sein, was eine enorme Herausforderung für die PR-Kräfte der chemischen Industrie darstellte.

Inzwischen hat sich hiergegen so etwas wie eine Resistenz entwickelt, Umweltdiskussionen und -debatten werden als lästig empfunden, die Öffentlichkeit ist weitestgehend beruhigt und überzeugt, daß sich die zuständigen Institutionen und Organisationen schon um den Erhalt der Natur und lebenswichtiger Ressourcen kümmern.

Allerdings gibt es immer noch einige Unverbesserliche, die grundsätzlich alles, was mit "chemisch" etikettiert wurde, beunruhigt und verunsichert. Menschen, die sich lieber auf Naturstoffe verlassen, auch wenn die Ressourcen hierfür knapp werden und einem Raubbau gleichkommen, weil sie nicht chemisch sind, und die sich am liebsten eine Welt ganz ohne Chemie wünschen würden.

Sowohl Gleichgültigkeit als auch permanente Angst entstammen dem gleichen Informationsdefizit über das, was wir im Alltag selbstverständlich verwenden. Mangelndes Wissen kann aber selbst den vorsichtigsten Menschen, der sich nur auf die Natur verläßt, in gefährliche und brisante Situationen bringen: So können einem wunderschönen, natürlichen Holzfußboden durchaus betäubende und toxische Gase entströmen, die Kopfschmerzen und Beschwerden verursachen, ohne daß der Betroffene überhaupt auf den Gedanken kommt, daß auch chemische Vorgänge in der Natur stattfinden, die uns schaden können.

Bücher, die diese Wissenslücke ohne jede diplomatische Auslassung schließen helfen, so daß jeder für sich selbst verantwortlich entscheiden und abwägen kann, für welche Annehmlichkeiten der Alltagschemie er welche Einschränkungen und Folgen in Kauf nehmen muß, sind immer noch rar gesäht. "Chemie rund um die Uhr" gehört wider Erwarten auch nicht dazu.

Es gehört eher in die Reihe der Werbeschriften unter den Büchern, die sich mit Alltagschemie dort befassen, wo sie am schönsten, am buntesten und am sensationellsten erscheint.

Zwar hat "Chemie rund um die Uhr" sich, wie es in dem Geleitwort des Geschäftsführers der Deutschen Chemiker, Prof. Dr. Wolfram Koch, heißt, zur Aufgabe gemacht, dem Leser die Erfolge chemischer Forschung, die zum Wohl des Menschen und seines Lebensraums gereichen, nahezubringen, ohne mögliche Risiken zu verschweigen, doch in der Ausführung muß man die "Risiken und Nebenwirkungen" wie gewöhnlich im Kleingedruckten bzw. zwischen den Zeilen suchen.

Bestenfalls reichen die hier veröffentlichten recht oberflächlichen Beispiele von Chemiefolgenabschätzung nur zur allgemeinen Beruhigung, weil sie vertretbar scheinen.

So wird hier ein Kapitel den selbstauflösenden umweltfreundlichen Kunststoffen gewidmet, die den Müllberg abbauen helfen sollen, ohne daß im einzelnen die Auflösungsprodukte genannt werden. Das liegt vielleicht daran, daß man sie gar nicht kennt; so wie man auch manche chlorierten Kohlenwasserstoffe als abgebaut erklärt, wenn nur ein Chlor fehlt, der Rest aber durchaus noch als Schadstoff wirkt und nur der Ausgangsstoff analytisch nicht mehr nachweisbar ist.

Auch was mit den in Kunststoffen verarbeiteten niedermolekularen Hilfsstoffen geschieht wie Weichmacher, Flammschutzmittel usw., die aus dem Kunststoff austreten, wenn er sich auflöst, wird hier nicht erwähnt.

Hervorgehoben wird dagegen im gleichen Text ein Kästchen, das kurz eine der jüngsten Errungenschaften, einen für Mikroorganismen nicht mehr angreifbaren Kunststoff, vorstellt: Polymere Killer. Nach einer halben Stunde wären alle Mikroorganismen, die mit diesen Kunststoffen in Kontakt kommen, vollständig abgetötet. Daß dieser Kunststoff logischerweise überhaupt nicht mehr abbaubar sein kann, und, wenn er auch nur in feinsten Bruchteilen, als mechanischer Abrieb beispielsweise, in die Umwelt gerät, mikrobielles Leben sterilisiert, wird jedoch nicht einmal zur eigenen Schlußfolgerung nahegelegt.

Abgesehen davon ist ein solcher Kunststoff letztlich nur die Antwort auf die Folgen der pharmazeutischen Chemie, die es mit ihrem sorglosen Vertrieb von Antibiotika inzwischen weltweit mit einer kaum noch beherrschbaren Resistenzentwicklung zu tun hat und solche Lösungen wie antibiotische Lacke oder -Oberflächen in Krankenhäusern und Operationssälen nicht nur vorstellbar werden läßt, sondern unausweichlich selbst hervorruft.

Hier selbstkritisch Stellung zu beziehen und zuzugeben, daß die Chemie sich schließlich mit jedem neuen Produkt auch wieder neue Märkte schafft, um den Folgen dieses Produkts chemisch zu begegnen, wäre allerdings auch von einem von GDCh und Bundesministerium geförderten Machwerk zuviel erwartet.

Um Chemie dagegen von ihrer buntesten und interessantesten Seite vorzustellen oder um die Umwelt und die Errungenschaften unserer Zeit auf verständliche Weise nahezubringen, wie man es sich auch für den modernen Schulunterricht wünschen würde, ist die Idee, dem Leser quasi für 24 Stunden eine Brille aufzusetzen, mit der er einen Ausflug auf die molekulare und atomare Ebene machen und seine Welt sozusagen aus chemischer Sicht betrachten kann, gar nicht so schlecht.

So enthält das Buch ein alltags- und praxisbezogenes, aktuelles chemisches Grundlagenwissen, zu dem Solarzellen und Brennstoffzellen ebenso gehören wie Flüssigkristalle, Nanopartikel, Waschmittel, biologisch abbaubare Kunststoffe sowie Krebsforschung und AIDS-Forschung, Gentechnik, aber auch Drogen, Gifte und Kampfstoffe. Auch einige chemische Verfahren werden gezeigt.

Auf die wohl naheliegende Frage "Wie viel Chemie steckt eigentlich im Menschen?" wird gleich im zweiten Kapitel des Buches eingegangen, nachdem im ersten zunächst einmal der für die Zielsetzung des Buches wichtigste Konsens geklärt wurde, daß eine Welt ohne Chemie wohl nur ein Alptraum sein könne.

Nach diesen Vorgaben kann das Buch keine kritischen oder wirklich interessanten Zusammenhänge mehr eröffnen und läßt sich bestenfalls als Lese- und Bilderbuch zum Stöbern und Schmökern verwenden. "Wir würden uns freuen", sagen die Autoren bescheiden in ihrem Vorwort, "wenn Sie dieses Werk einfach durchblättern, die Vielfalt der Bilder auf sich wirken lassen, auf manch einer Seite hängen bleiben und dann Lust verspüren, sich hier und dort zu vertiefen." Zugegeben bekommt derjenige, der hierfür Zeit erübrigen kann, viel Interessantes geboten.

Zum Nachschlagen, Forschen oder Recherchieren eignet es sich allerdings überhaupt nicht, selbst dann, wenn man beim zufälligen Schmökern auf etwas gestoßen wäre, da zwar ein ausführliches Glossar, aber kein Stichwortverzeichnis vorhanden ist. Das macht das Wiederfinden von Absätzen schwierig, zumal manche neue Errungenschaft (wie der oben erwähnte antibiotisch wirkende Kunststoff) unter Kapiteln abgelegt ist, wo man sie vermutlich nicht suchen würde (Zerfall auf Befehl - Biologisch abbaubare Kunststoffe).


Professor Dr. Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger, ehemaliger GDCh- Präsident und Forschungsvorstand der BASF, sowie die beiden renommierten Wissenschaftsjournalistinnen Dr. Kristin Mädefessel- Herrmann und Dr. Friederike Hammar zeichnen als Autoren.


K. Mädefessel-Herrmann, F. Hammar, H.-J. Quadbeck-Seeger
Chemie rund um die Uhr
Herausgeber: Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh), Frankfurt
und gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung
Verlag Wiley-VCH, Weinheim
19,90 Euro
ISBN 3-527-30970-5