Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/307: Schicho - Handbuch Afrika, Bd. 3 Nord- und Ostafrika (SB)


Walter Schicho


Handbuch Afrika

Band 3: Nord- und Ostafrika



Bei einem länderkundlichen Lexikon oder seiner erweiterten Form, dem Handbuch, stellt sich grundsätzlich die Frage, welche Informationen es liefern soll, bzw. von ihm erwartet werden. Üblicherweise enthält es Angaben zur Einwohnerzahl, Staatsgröße, ethnischen Zusammensetzung, Wirtschaftsentwicklung, Sprache, Währung, Geschichte, usw. Das ist Standard. Es handelt sich um Kenndaten, die an Schulen und Universitäten, in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowie im Kulturbetrieb verwendet werden. Diese Kenndaten, die mitunter den Charakter von Codes tragen, sind in einem historischen Kontext gewachsen; sie spiegeln bestimmte Sichtweisen wider, die nicht unbedingt denen jener Personen entsprechen, auf die sie angewendet werden.

So wäre bei der Angabe der Bevölkerungszahl zu fragen, für wen die Zählung wichtig ist. Wozu Menschen überhaupt zählen? Der Wunsch, ein Volk zu zählen oder Bevölkerungszahlen miteinander zu vergleichen, kam erst zu einer Zeit auf, als es übergeordnete Kategorien der Verwaltung von Bevölkerungen gab. Das war die gleiche Zeit, in der Menschen Tribute an andere Menschen zu entrichten hatten, angefangen von der unmittelbaren Verfügbarmachung des eigenen Körpers in Sklaverei und Lohnarbeit bis zur mittelbaren Verfügbarmachung durch die Entrichtung von Steuern und anderen Abgaben.

Das Mitglied eines beliebigen afrikanischen Stammes der Vergangenheit hätte vermutlich nichts damit anfangen können, wenn ihm gesagt worden wäre, daß die von ihm geflochtenen und auf dem Markt feilgebotenen Körbe das Bruttosozialprodukt (BSP) seines Landes erhöhten. Das BSP und seine Implikationen besäßen für ihn vollkommen fremde Bedeutungen. Ungeachtet dessen würde seine Tätigkeit von der Wirtschaftsvergleichsgröße BSP erfaßt und wäre von politischen Entscheidungen beeinflußt. Womöglich hätte derjenige nicht einmal etwas mit der Abgrenzungs- und Einordnungsbezeichnung "Afrika" anfangen können, da sie nicht das geringste mit seinem Lebens- und Erfahrungsumfeld zu tun gehabt hätte und notwendigerweise eine abgehobene, übergreifende und vereinnahmende Sichtweise voraussetzt. Selbst eine geographische Kategorie wie "Kontinent" spielt diesem Standpunkt, der in der Konsequenz auf Eroberung und Unterwerfung hinausläuft, in die Hände.

Ein "Handbuch Afrika" ist deshalb von vornherein als kleines Rädchen im komplexen Getriebe jener Ordnung zu lokalisieren, die in irgendeiner Form einen Verfügungsanspruch über die in dem Buch beschriebenen Regionen erhebt. Denn es war ja kein Forscher aus Afrika, der ein Handbuch über Europa geschrieben hat, sondern umgekehrt - genauso wenig, wie es einstmals Reisende aus Afrika waren, die mit ihren Expeditionen und Forschungen in Europa die Saat für die spätere Eroberung legten, sondern aus dem hiesigen Kulturraum stammende Personen wie J. B. Marchand, D. Livingstone, C. Peters, etc. Ja, selbst ein Heinrich Barth, der vergleichsweise aufgeschlossen durch Nordafrika reiste, trug mit seinen Informationen über Land und Leute zur Eroberung Afrikas durch die Europäer bei. Wobei hier keineswegs der Pauschalisierung das Wort geredet werden soll: Im Gegensatz zu Peters hatte Barth seinen Fuß nicht mit der Absicht auf afrikanischen Boden gesetzt, das Land für seinen Kaiser einzunehmen.

Ungeachtet der prinzipiell ordnungspolitischen Aufgabe einer länderkundlichen Beschreibung Afrikas ist der Wiener Afrikanist Walter Schicho auch in seinem dritten und abschließenden "Handbuch Afrika", in dem er sich dem Norden und Osten des Kontinents widmet, bemüht, eine vom Mainstream abweichende Sicht zu vermitteln. Dabei bedient sich der Autor durchaus der üblichen Kenndaten und kommt konventionellen Erwartungen entgegen, wenn er in seinem Vorwort über die Konzeption des Buchs schreibt, daß gezeigt werden soll,

wie die Institutionen und die besondere Verfaßtheit der Länder Afrikas entstanden sind, welche Personen, Organisationen und Vorstellungen Einfluss genommen haben oder zum Vorbild geworden sind, und wie interne und externe Kräfte im Wechselspiel die heutigen Verhältnisse geschaffen haben.
(S. 11)

Doch dabei beläßt es Schicho nicht. Er präsentiert sich nicht als pseudo-objektiver Referent des Kolonialismus und Postkolonialismus in Afrika und damit als deren Befürworter, sondern möchte statt dessen "das Erleben und die Reaktion vor allem der einfachen Bevölkerung auf all diese Prozesse zumindest exemplarisch verständlich machen", denn:

Gerade das Geschehen der letzten Jahre hat der schweigenden Mehrheit der Afrikanerinnen und Afrikaner auf eine für uns unvorstellbare Art und Weise Schaden, Leiden und Angst zugefügt. Es gilt, uns selbst als Mitverantwortliche zu erkennen und zugleich anhand der Geschichte die Erkenntnis zu gewinnen, dass die Zyklen der Niedertracht durch gemeinsame Anstrengung zu überwinden sind.
(S. 11)

Die "Zyklen der Niedertracht" sind allerdings geschichtsbeherrschend, wie aus fast allen Beschreibungen der historischen Entwicklung der kolonialisierten Staaten hervorgeht. Sei es Sudan, das unter Mohamed Ahmed ibn Abdallah, jenem legendären Mahdi, einen hohen Blutzoll für die von etwa 1885 bis 1898 währende Befreiung vom kolonialen Joch der Briten bezahlt hat und das bis heute Ziel von außen getriebener Zerrüttungskräfte ist; sei es Somalia, dessen clanstrukturierte Bevölkerung zu einem Staat zusammengepreßt wurde und heute, nach dem Sturz des anfangs von der Sowjetunion, dann von den USA unterstützten und für eigene Zwecke instrumentalisierten Diktators Siyad Barre, wieder auseinandergerissen darniederliegt.

Wobei meist in Umkehrung der Verhältnisse behauptet wird, die traditionelle Clanstruktur Somalias sei Ursache des gegenwärtigen Bürgerkriegs und nicht etwa die erzwungene Staatenbildung, nicht das Gemauschel der einstigen Kolonialmächte Italien und Großbritannien um Territorien, nicht die Neuaufteilung der Verwaltungsbezirke in den siebziger Jahren konträr zu den gewachsenen Clansgrenzen und nicht die zwangsweise Seßhaftmachung nomadisierender Stämme. Wenn das heutige Somalia als ein Pfuhl miteinander konkurrierender Warlords erscheint, dann hat diese marodisierende Form der Überlebenssicherung und Bereicherung zulasten aller anderen nichts mehr mit den ursprünglichen, im Laufe der Okkupationsgeschichte nach und nach zerstörten Clans zu tun.

Der Autor legt auf dezente Weise den Finger in die Wunde der mehrheitlich gescheiterten, wenngleich heute noch von Internationalem Währungsfonds (IWF, auch FMI) und Weltbank den hoch verschuldeten Staaten abgeforderten Strukturanpassungsmaßnahmen, die wegen ihres schlechten Rufs häufig unter anderen Namen (HIPC-Initiative) oder gar leicht zu durchschauenden Vorwänden (die sogenannte G8- Entschuldungsinitiative) daherkommen. Als Beispiel des Scheiterns sei hier Mauretanien genannt, zu dem der Autor unter dem Stichwort "Wirtschaft" schreibt:

Seit 1985 läuft ein Strukturanpassungsprogramm des FMI mit passablem Ergebnis für das staatliche Budget, geringem Erfolg für die Wirtschaft, aber Schaden für die bäuerlichen Produzenten und die kleinen Lohnempfänger ("Brot"-Unruhen Anfang 1995).
(S. 13)

Mauretanien ist mitnichten eine Ausnahme. Auch in anderen Staaten hat die auf breiter Front Verarmung generierende Einflußnahme der internationalen Banken seinen, um die Worte Schichos zu gebrauchen, "Schaden" angerichtet. IWF (FMI) und Weltbank, die nichts anderes sind als verlängerte Arme der Industriestaaten, kommt eine wichtige Funktion bei der Aufrechterhaltung und Qualifizierung der globalen Raubordnung zu. Diese Aufgabe wird in dem vorliegenden Handbuch nicht in den Mittelpunkt gestellt, sie wird aber auch nicht ausgespart. Damit setzt sich das Werk angenehm von vergleichbaren Darstellungen Afrikas ab, in denen stoisch das Bild der vermeintlich unfähigen, korrupten und in Tribalismus verstrickten Regierungen kolportiert wird. Ungeachtet der nicht zu leugnenden hausgemachten Probleme afrikanischer Staaten zeigt ein Blick in deren Geschichte, daß die Wurzeln manch dornigen Gestrüpps zu einer früheren Zeit gepflanzt wurden.

Von den Kapverden über Ägypten bis hinunter nach Zimbabwe spannt Schicho den Bogen. Jedem Land ist eine ganzseitige Karte mit den wichtigsten Städten, Verkehrsverbindungen und Regionen vorangestellt. Die jeweiligen Länderbeschreibungen beginnen auf der ersten Seite nahezu einheitlich mit Angaben zum politischen System, zur Bevölkerungsgröße und -zusammensetzung, Wirtschaft, etc. Dann folgt ein rund zehn- bis dreißigseitiger geschichtlicher Abriß, der bis an die Jetztzeit heranführt. Trotz der gerafften Schilderungen, die der Form des Handbuchs geschuldet sind, erhält man anhand der Entstehungsgeschichte afrikanischer Staaten Einblick in wichtige Hintergründe, die in der alltäglichen Berichterstattung häufig unterschlagen werden, obgleich sie sehr wohl die aktuellen Vorgänge mitbestimmen. Schichos Bewertungen, die in einem Satz zusammengefaßt lauten könnten, daß die Kolonialzeit alles andere als ein Segen für die Einwohner Afrikas war, geben den Leserinnen und Lesern die Chance zur Entwicklung einer eigenen, emanzipatorischen Einschätzung der früheren Fremdherrschaft wie auch ihrer heutigen Varianten, in denen sich anderer Formen der Intervention, weit vor dem militärischen Aufmarsch, befleißigt wird.


Walter Schicho
Handbuch Afrika,
Band 3: Nord- und Ostafrika
Brandes & Apsel in Zusammenarbeit mit Südwind
Frankfurt am Main, 2004
400 Seiten
ISBN 3-86099-122-1

6. März 2006