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REZENSION/335: A. G. Grauwacke - Autonome in Bewegung (SB)


A. G. Grauwacke


Autonome in Bewegung

Aus den ersten 23 Jahren



Wenn ein Buch aus politischen Gründen auf den Index gesetzt wird, dann stellt das nicht nur einen Angriff auf die demokratische Streitkultur dar, sondern läßt auch Rückschlüsse auf den Staat, der dies veranlaßt, zu. Das Bundesfamilienministerium will den Band "Autonome in Bewegung" laut der Tageszeitung Neues Deutschland (26.05.2006) indizieren lassen, weil er geeignet sei, "die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu gefährden".

Es kann zwar nicht verwundern, daß eine Ministerin, die wie Ursula von der Leyen den christlich-fundamentalistischen Rollback vorantreibt, indem sie ihr Bündnis für Erziehung auf die Amtskirchen stützt und das Grundgesetz als säkulares Äquivalent der zehn Gebote versteht, mit allen Mitteln versucht, auch die letzten Funken eines revolutionären Geistes auszutreten, der selbst in seiner zeitgeschichtlichen Aufarbeitung noch von virulenter Widerständigkeit ist. Es erscheint aber dennoch absurd, wenn die angeblich zu schaffende Souveränität des Menschen gerade daran scheitern soll, daß er sich mit der Geschichte einer linksradikalen Bewegung vertraut macht, die schon vom Namen her die Verwirklichung bedingungsloser Autonomie nicht nur für die eigene Person, sondern für alle Menschen auf ihre Fahnen geheftet hat. Bei der beanspruchten "eigenverantwortlichen Persönlichkeit" handelt es sich mithin um ein Lehen des Staates, dem so viele Lasten zur gesellschaftlichen Reproduktion aufgebürdet werden, daß alle die Verwertung des Kapitals behindernde Eigenständigkeit darunter zerbricht.

Daß Konfrontationen mit der Staatsgewalt angesichts des Anliegens der Autonomen, dieses Gewaltverhältnis aufzuheben, nicht ausbleiben konnten, ist dem repressiven Charakter eines Systems geschuldet, das die Interessen einer Minderheit von Kapitaleignern und Funktionseliten gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchsetzt. Daß diese Mehrheit dies mit sich machen läßt, ja, darin sogar einen Vorteil für die eigene Lebenssituation erkennen mag, kann für diejenigen, die von den Auswirkungen dieser Unterdrückung betroffen sind und es nicht akzeptieren können, daß der Kapitalismus einen Großteil der Menschheit in Elend und Not beläßt, kein Grund sein, nicht gegen dieses System aufzubegehren.

Das Leyen-Ministerium beruft sich bei ihrem Indizierungsantrag mithin auf die Militanz der Autonomen, die laut ND in dem Buch "positiv konnotiert und als für die Erreichung einer anderen Gesellschaftsordnung legitimes Mittel" propagiert werde. Diese Begründung, mit Hilfe derer das Verbot der Bewerbung des Buches, seine öffentliche Präsentation und sein Verkauf an Personen unter 18 Jahren erwirkt werden soll, bedroht den Vertrieb nicht nur dieses für linksradikale Verhältnisse bereits gut verkauften Werkes, sondern jeder Schrift, die gesellschaftliche Mißstände und diese begünstigende Formen politischer und ökonomischer Herrschaft zur Disposition ihrer Beseitigung stellt. Daß grundlegende Veränderungen selten ohne gewalttätiges Einwirken auf bestehende Verhältnisse erreicht werden, zeigt nicht zuletzt die kriegerische Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens, bei der höchst offiziell mit massiver Gewalt eine andere Gesellschaft und ein anderer Staat durchgesetzt werden sollen.

Natürlich bleiben die Schriften eines Richard Perle oder Robert Kagan, um nur zwei der zahlreichen Hohepriester des unter Einsatz aller Mittel der Demagogie und Zerstörung zu führenden Kreuzzugs für freedom & democracy zu nennen, von jeglicher Indizierung verschont. Niemand käme auf den Gedanken, daß von ihnen Gefahr auf die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen ausgehen könnte, schließlich legitimieren ihre Schriften den Krieg der Herrschenden, für den es immer gute Gründe gibt. Wer dagegen antritt und darauf hofft, breite Resonanz in der Bevölkerung zu erzeugen, hat schon deshalb schlechte Karten, weil es für seine Position kaum mediale Präsenz oder anderweitige Formen öffentlicher Verbreitung gibt.

Dem Buch "Autonome in Bewegung" kann man entnehmen, wie man auch ohne Verfügungsgewalt über die Schaltzentralen der Macht gesellschaftliche Wirkung erzeugen kann, und das ist wohl der eigentliche Grund dafür, es so weit wie möglich aus dem Verkehr zu ziehen. Die fünf Verfasser beschreiben die Mobilisierungsmaßnahmen und Aktionsformen der Autonomen aus der Sicht langjähriger Praktiker und tun dies mit der erfrischenden Subjektivität, die einer auf das aktive Eingreifen in das Räderwerk der herrschenden Ordnung abonnierten Bewegung eigen ist. Es handelt sich mithin nicht nur um ein außergewöhnliches Dokument außerparlamentarischer Bewegungen, das anhand des Rückblicks auf die Entwicklung der Autonomen von 1980 bis 2003 einen Blick auf die Kämpfe linksradikaler Aktivisten ermöglicht, der ihrer Streitbarkeit gemäß von der etablierten politischen Publizistik weitgehend ausgeblendet wird, sondern auch um das Vermächtnis einer Linken, die nur deshalb, weil ihr zahlreiche Mitglieder durch den Wechsel in die Sicherheit bürgerlicher Existenz abhanden gekommen sind, keinesfalls Geschichte sein muß.

So haben die in dem Buch behandelten Aktionsfelder ebensowenig an Aktualität eingebüßt wie die Auseinandersetzung innerhalb der Bewegung etwa um die Geschlechterfrage oder die jeweilige politische Ausrichtung. Heute gehen die ersten Politiker wieder mit der Forderung an die Öffentlichkeit, neue Kernkraftwerke zu bauen, die Bundeswehr marschiert längst wieder auf den Spuren der Wehrmacht in fremde Länder ein, die ärmsten und schwächsten Mitglieder der Gesellschaft werden ohne Rücksicht auf ihre Verwurzelung im jeweiligen sozialen Umfeld zur Aufgabe ihrer Wohnungen gezwungen und einem Kontroll- und Arbeitsregime von exemplarischer Rechtlosigkeit unterworfen, die europäische Abwehr von Flüchtlingen und Migranten feiert täglich grausame Triumphe und die Verelendung der Länder des Südens nimmt immer krassere Formen an. Frauenbefreiung erschöpft sich häufig in der Forderung nach rechtlicher Gleichstellung von "Sexarbeiterinnen", als widerspreche nicht jegliche Form der Ausbeutung durch Arbeit dem Streben nach Emanzipation. Die Drift nach rechts beschränkt sich längst nicht mehr auf rechtsradikale Parteien oder Nazi- Kameradschaften, sondern hat die Mitte der Gesellschaft in Beschlag genommen, wie die Verharmlosung des Nationalismus zeigt, der anläßlich der Fußball-WM zur per Flagge ausweislichen Bürgerpflicht gerät.

Der Niedergang der radikalen Linken, der in dem Buch an vielen Stellen im Detail nachzuvollziehen ist und mit persönlichen Schilderungen illustriert wird, vollzieht sich praktisch gegenläufig zur Dringlichkeit entschlossenen Widerstands. Der besondere Stellenwert des Untergangs der DDR und ihres Anschlusses an die BRD für diese Entwicklung wird ausführlich analysiert, doch auch der Überlebensdruck des staatlichen Armutsregimes, das disziplinatorische Durchgreifen einer sozialdarwinistischen Erziehungsdoktrin wie biologistischen Sozialkultur und die Aufrüstung der staatlichen Repressionsorgane sind von nicht minderer Bedeutung für die Beantwortung der Frage, wieso die Hürden für radikales Engagement immer höher zu werden scheinen. Auf jeden Fall verweist der rapide verfallende Schutz des Bürgers vor staatlichen Gewaltmaßnahmen bis hin zur Verschleppung und Folterung darauf, daß die Zeiten für ein schickes, die Rebellion als starke Pose simulierendes Aktivistentum heute eher schlecht sind.

Die von den Autoren geschilderten inhaltlichen Widersprüche zwischen den verschiedenen Fraktionen der radikalen Linken erscheinen auch eher als Symptome der allgemeinen Absetzbewegung denn als deren treibende Momente. Wie man angesichts der Eindeutigkeit imperialistischer Gewaltanwendung und Interessendurchsetzung, der Parteinahme ehemaliger Linker von den Grünen bis zu den Antideutschen für die Aggressoren in diesem Krieg und des Elends einer Kultur, die immer hemmungsloser Gewinner feiert und immer verächtlicher auf Verlierern herumtrampelt, in Verwirrung ob des Frontverlaufs geraten kann, bliebe ansonsten unverständlich.

Ob man in Zukunft noch die Lektüre des Buches "Autonome in Bewegung" empfehlen darf, scheint also durchaus in Frage zu stehen. "Wir dachten schon, das wär der Sieg", sangen die in dem Werk mehrfach zitierten Fehlfarben etwa zu der Zeit, als die Autoren den Faden ihrer Schilderung aufnehmen, und nahmen schon damals das heutige Resümee vorweg: "Das war vor Jahren." Gerade weil es lange her ist, daß sich Menschen in großer Zahl entschieden auf die Seite der Armen und Schwachen gestellt haben, gilt es, den Faden wieder aufzunehmen und die verlorene Erinnerung an bessere Zeiten dem Vergessen zu entreißen.


A. G. Grauwacke
Autonome in Bewegung
Aus den ersten 23 Jahren
Verlag Assoziation A, Berlin Hamburg Göttingen, 2004
2. Auflage
406 Seiten, Euro 20,00
ISBN 3935936133


02.07.2006