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REZENSION/345: Otto Karl Werckmeister - Der Medusa-Effekt (SB)


Otto Karl Werckmeister


Der Medusa-Effekt

Politische Bildstrategien seit dem 11. September 2001



"Wir wissen bis heute so gut wie nichts über die geschichtlichen Zusammenhänge des Anschlags vom 11. September 2001." Was der Kunsthistoriker Otto Karl Werckmeister kategorisch über das wohl bildmächtigste Ereignis der jüngeren Zeitgeschichte feststellt, gerät unter der anhaltenden Präsenz der Eindrücke dieses Tages leicht in Vergessenheit. Daß die Anschläge auf New York und Washington praktisch unaufgeklärt geblieben sind, ist das Ergebnis einer politischen Strategie, die die große Wirkung der Attentate auf die Weltöffentlichkeit unverzögert in exekutive Handlungsvollmachten umgemünzt hat. Der mit dem 11. September 2001 ausgerufene Terrorkrieg hält auch fünf Jahre danach noch an und wird, wie zumindest den Aussagen seiner führenden Betreiber zu entnehmen ist, die Welt noch für lange Zeit heimsuchen.

Um so prekärer ist die Diskrepanz zwischen dem Wissensstand der Regierungen und Sicherheitsapparate, die trotz oder gerade wegen der Behinderung und Vermeidung einer gründlichen Aufklärung der Ereignisse des 11. September 2001 "über umfassende und ständig wachsende Dossiers verfügen, um die Geschichtsbewegung aufzuklären, die zu den Anschlägen führte und die aus ihnen bis heute folgt", und einer "bis zum heutigen Tag im Dunkeln" (S. 51) gelassenen Öffentlichkeit.

Werckmeister begibt sich mit der grundlegenden Zweiteilung der Welt elektronischer Bildtechnologien in eine operative und eine informative Bildersphäre auf die Spur dieser Herrschaftstechnik. Während die operative Sphäre mit ihrer "Datenbasis von Abbildungen, Bildkonstruktion, Formeln und Texten" (S. 7) den administrativen Informationsfluß speist und damit wesentlich zur politischen Willensbildung beiträgt, betrifft die informative Sphäre die mediale Oberfläche, die, am Beispiel der Berichterstattung über den 11. September 2001 exemplarisch dargestellt, mit emotional aufgeladener Ästhetik der Ratio herrschender Interessen genehme Wirklichkeiten eindrücklich inszeniert.

Werckmeister stellt gleich zu Beginn seines Buches klar, daß es nicht ausreiche, die Relevanz digitaler Bilderwelten an ihrer Tauglichkeit, Realität authentisch abzubilden, erkenntnistheoretisch in Frage zu stellen. Für den an der Northwestern University in Evanston, Illinois, lehrenden Kunsthistoriker bietet allein die politische Kritik an der nichtvorhandenen Verfügbarkeit herrschaftstechnisch wichtigen Bildmaterials, also das Drängen der demokratischen Öffentlichkeit auf Transparenz und Beteiligung, die Chance auf eine emanzipatorische Handhabung der technischen Reproduktion optischer Wahrnehmung.

So problematisiert er die massenhafte Produktion von Bildern durch die um sich greifende Infrastruktur der Videoüberwachung bei gleichzeitiger Einbehaltung des aufgezeichneten Materials durch die Behörden und Unternehmen, die es auswerten. Die Anonymität der Exekutivorgane, die sich mittels eines gigantischen Stroms operativen Bildmaterials Kenntnis über den einzelnen Menschen verschaffen, steht in krassem Gegensatz zur Exposition individueller Belange, die die Observatoren des Staates wie der privaten Sicherheitsindustrie eigentlich nichts angehen. Der technische Charakter dieses Bildmaterials tut seinem Nutzen für administrative Prozesse keinen Abbruch, ganz im Gegenteil, er ojektiviert Entscheidungsprozesse bis hin zur automatisierten Auswertung etwa beim Abgleich im öffentlichen Raum registrierter biometrischer Gesichtsmerkmale oder von Autobahnkameras aufgenommener Nummernschilder mit den Datenbanken der Ermittlungsbehörden.

Der Versachlichung des operativen Bildmaterials gegenüber wird die informative Bildersphäre laut Werckmeister zusehends von einer "instinktiven Relativierung jedweder Bildinformationen" (S. 13) gerade deshalb in Mitleidenschaft gezogen, weil ihr subjektiver Charakter vor dem Hintergrund des technischen Formalismus der Kontroll- und Überwachungskameras besonders hervorsticht. Wie die restriktive Bildpolitik öffentlicher Akteure wie privater Institutionen in all jenen Fällen beweist, in denen sich demokratischer Widerspruch an besonders eindrücklichen Bilddokumenten entzünden könnte, geht es längst nicht mehr darum, die Menschen mittels Bildmedien im klassisch emanzipativen Sinne aufzuklären. Die anwachsende Flut bildtechnisch gespiegelter Wirklichkeit steht viel mehr im umgekehrten Verhältnis zur Tauglichkeit der daraus zu ziehenden Handlungsanweisungen und Schlußfolgerungen für die Bemittelung des Individuums, seiner fremdbestimmten Vergesellschaftung Herr zu werden.

Da die vollständige Integration des Subjekts in den kapitalistischen Verwertungszusammenhang Grundvoraussetzung seiner Verfügbarkeit ist, läßt sich der Anspruch, stets informiert zu sein, auch als Praxis umfassender Konditionierung übersetzen. Das kann angesichts von Medienkonzernen, die integraler Bestandteil des Kapitalverhältnisses sind, nicht weiter erstaunen, dennoch hält sich die Vorstellung, man habe über die farbig illuminierten Zeilen des Fernsehbildschirms oder die Pixel des Computermonitors Zugriff auf die materiellen Kriterien dessen, was unter dem Begriff der Wirklichkeit erst einmal aussagt, daß man fremden Kräften und Wirkungen ausgesetzt ist, hartnäckig.

Der von Werckmeister ausgeführte Antagonismus zwischen operativer und informativer Bildsphäre konvergiert denn auch in dem einen Interesse, die umfassende Verfügbarkeit des Menschen für ihm möglicherweise konträre Zwecke und Ziele sicherzustellen. Der Autor kritisiert zwar den "reflexiven Automatismus der Bildrelativierung" als den Objekten der Betrachtung in seiner Flüchtigkeit nicht gerecht werdend, spricht dem "Bewusstsein einer videoelektronischen Manipulation der Gesellschaft" (S. 17) jedoch durchaus Gültigkeit zu.

Das Problem bestände allerdings darin, daß der dadurch geschaffene "charakteristische Modus intermedialer Reflexion" zu einem verzerrten Eindruck von der Wirkmächtigkeit der Kontroll- und Überwachungssphäre führte:

In den Installationen der institutionell approbierten Hochkunst, wie sie in Museen und Ausstellungen inszeniert wird, thematisieren Videokameras und Bildschirme die Sehbedingungen der Exponate. Die fantastischen Szenarien der Massenkunst von Film und Comic Strip dämonisieren die videoelektronische Kontrolle der Lebenswirklichkeit als utopisches Extrem universaler Verfügung. Um authentisch zu wirken, sieht sich die Massenkunst zur Anpassung ihrer Darstellungsformen an die Sehkonventionen der elektronischen Bildproduktion und Bildübermittlung gezwungen. Dabei werden die videoelektronischen Sehformen einerseits ästhetisch rückgebildet, andererseits funktional übertrieben, so dass es aussieht, als sei ihre Wirkmacht schrankenlos.
(S. 17)

Auf diese mediale Entuferung einer profanen Realität, deren administrative Determination bei aller spektakulären Inszenierung ihrer Kriege und Katastrophen weitgehend unverknüpft bleibt, so daß kein wirkliches Verständnis für die Machtverhältnisse in der modernen Kontrollgesellschaft entsteht, reagiert die Massenkultur laut Werckmeister mit der Rückversicherung "an traditionelle Formen realistischer Bildkultur". Die Analyse dieser "fiktionalisierten Form, die das Unheil der gegenwärtigen Zivilisation ebenso suggestiv wie hypothetisch beschwört und die zeitgeschichtliche Desorientierung durch altvertraute Handlungsmuster beschwichtigt" (S. 17), steht im Mittelpunkt des mit Illustrationen fotografischer wie zeichnerischer Art reich versehenen Buches.

So stellt Werckmeister wichtige Kriegsfotografen anhand ihrer ausführlich kommentierten Bilder vor und bringt die Art und Weise ihrer Berichterstattung in Zusammenhang mit den Intentionen der kriegführenden Staaten. Beim Betrachten der Bilder der Anschläge des 11. September 2001 fordert der Autor zu "noch radikalerer Skepsis" auf, "als die historische Fotografie ohnehin erfordert" (S. 51), und weist anhand eines etwa zeitgleich veröffentlichten Comics aus dem Magazin Heavy Metal nach, daß die visuelle Medienkultur die Ikonographie dieses weltbewegenden Ereignisses bereits vorweggenommen hatte. Der Kontrast zwischen der bis heute andauernden Rotation des bekannten Bildmaterials zur Zerstörung des New Yorker World Trade Centers, die das kollektive Bewußtsein der westlichen Welt mit der Selbstevidenz des Terrorkriegs imprägniert, und der weitgehenden Ausblendung allen relevanten Bildmaterials aus den Kriegen in Afghanistan und im Irak belegt die These Werckmeisters von einer "bildpolitischen Kriegführung, in der Unterdrückung und ideologische Überdeterminierung von Bildern einander steigern" (S. 61).

Der zweite Teil des Buches besteht aus einem Essay über den japanischen Manga-Trickfilm-Regisseur Mamoru Oshii, an dessen futuristischen Zeichentrick- und Animationsfilmen Werckmeister unter anderem die Penetration des menschlichen Körpers mittels invasiver Formen der Bildübertragung darstellt, so daß dem titelgebenden Blick in die Augen der Medusa nicht mehr ausgewichen werden kann. Solange die Trennung von operativer und informativer Bildsphäre dafür sorgt, daß die Schrecken des Medusenhauptes außerhalb der exekutiven Zentralen, die sie mit ihrer in Echtzeit Kontinente übergreifenden Kriegführung in die Welt setzen, durch ihre Spiegelung "in den symbolischen Fiktionen oder Reflexionen des Zweifels" (S. 23) gebannt werden, führt die Regulation des herrschenden Gewaltverhältnisses zum erwünschten Ergebnis relativer Befriedung virulenter Widersprüche.

Der Medusa-Effekt illustriert den Verblendungscharakter medialer Berichterstattung anhand des Manövers des antiken Helden Perseus, sich durch den Blick in seinen Schild davor zu schützen, der tödlichen Wirkung des Gorgonenantlitzes ausgesetzt zu sein. Daß Perseus das gespiegelte Abbild der Medusa dafür nutzte, ihr den Kopf abzuschlagen und so mittels einer Technik der Bildwiedergabe über den Schrecken ihrer Direktheit zu obsiegen, ließe sich allerdings auch im Sinne einer Tabufunktion interpretieren, die es dem Menschen ermöglicht, mit Kräften Umgang zu haben, denen er ansonsten hoffnungslos ausgeliefert wäre. Der Verzicht auf die Praxis gesellschaftlicher Exposition, die alles ins grelle Licht einer erbarmungslos skandalisierenden und verurteilenden Öffentlichkeit zerrt, deren Subjektanspruch an der Namenlosigkeit ihrer voyeuristischen Passivität und bürokratischen Instanzenwege bricht, könnte auch als Anlaß zur Emanzipation durch selbstbestimmte Einmischung verstanden werden.

Noch wird die operative Bildersphäre, "deren subjektlose Sehvorgänge die Wirklichkeit bestimmen", von Menschen kontrolliert, die damit sehr menschliche, sprich räuberische Ziele verfolgen. Auch wenn sich die informative Bildersphäre aller Mittel der Verführung und Einschüchterung bedient, um die Gesellschaft umfassender Kontrolle zu unterwerfen, so liegt es am Betrachter, ob er sich ihr ausliefert und darauf verzichtet, "den symbolischen Fiktionen oder Reflexionen des Zweifels" (S. 23) zu seinen Gunsten auf den Grund zu gehen. Die Wirkmächtigkeit des elektronisch reproduzierten und vervielfältigten Bildes steht mit den Menschen, die sich entweder der Trägheit eines Konsums überlassen, an dem ihre Kritikfähigkeit verebbt, wie immer gleiche Wellen, die Steine erzeugen, welche die Produzenten dieser Bilderwelt fortwährend in den Teich der kollektiven Wahrnehmung werfen, oder diese Wirkmächtigkeit fällt mit den Menschen, die der allgegenwärtigen Observanz wertender und strafender Gewalten ihren unverbrüchlichen Eigensinn entgegenstellen. Medusa heißt "Herrscherin", und wenn Fremdbestimmung und Vergesellschaftung als Basis ihrer Herrschaft fungieren, dann liegt die todbringende Wirkung ihres Antlitzes in der Bindekraft, die der Beherrschte mit der Aggression und der Faszination, mit der Angst und der Gier seines Blickes zur Disposition stellt.


Otto Karl Werckmeister
Der Medusa-Effekt
Politische Bildstrategien seit dem 11. September 2001
Das Buch ist 2005
beim Verlag Form und Zweck, Berlin, 2005
120 Seiten, Euro 36,-
ISBN 3-935053-04-5


20.08.2006