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REZENSION/492: Bettina Marx - Gaza (SB)


Bettina Marx


Gaza

Berichte aus einem Land ohne Hoffnung



Knapp 60 Kilometer von der pulsierenden israelischen Metropole Tel Aviv entfernt liegt Gaza, das Land ohne Hoffnung, aus dem Bettina Marx berichtet. Obgleich nur durch diese kurze Strecke getrennt, könnte ein Ozean zwischen den beiden Orten liegen, der eine moderne, wohlhabende und geopolitisch ambitionierte Nation von einer Region des Elends, der Erniedrigung und der Überantwortung an den Untergang scheidet. Die Unüberbrückbarkeit der beiden Sphären, die räumlich so eng verzahnt und historisch untrennbar miteinander verwoben sind, ist ein Resultat jahrzehntelanger Besatzungspolitik und gnadenloser militärischer Repression, nicht minder aber eines zersetzenden Gewaltakts in der Wahrnehmung dieses Freiluftgefängnisses. Drangsaliert durch Hunger, Krankheit, erbärmliche Lebensverhältnisse und Perspektivlosigkeit wie auch gestraft mit dem Arsenal einer hochgerüsteten Militärmaschinerie, werden die Palästinenser nicht nur an den Abgrund physischer Vernichtung gedrängt, sondern zugleich vor den Augen ihrer in Selbstbehauptung erstarrten israelischen Nachbarn und dem gleichgültig abgewandten Blick der Weltöffentlichkeit entmenschlicht.

Nachdem die erlesene Grausamkeit zivilisatorischer Übermacht die Palästinenser ihrer Existenz, Kultur und Würde beraubt hat, vermag die vom Primat des Vorteilsstrebens durchdrungene Siegermentalität in ihnen kein Wesen der eigenen Art mehr zu erkennen, das zu achten und schätzen sich lohnte. Sie nicht länger als in die Zwangslage der Schwächeren gedrängte Mitmenschen zu sehen, für die Partei zu ergreifen ein selbstverständlicher Akt fundamentaler Humanität wäre, sondern sie als einen Schlag verworfener Wesen preiszugeben, bedarf eines systematisch vorangetriebenen Prozesses der Verfügungsgewalt, die sich der Opfer ebenso bemächtigt wie der Täter.

Als die viertstärkste Militärmacht der Welt zur Jahreswende den Gazastreifen überfiel, bezeugten Soldaten ihr Erstaunen über die ausbleibende Gegenwehr der Hamas, der es an jeglichen schweren Waffen fehlte, um der über sie hereinbrechenden Aggression etwas entgegenzusetzen. Die israelischen Streitkräfte schlachteten Zivilisten ab und richteten ungeheure Zerstörungen an, was später von einer ganzen Reihe internationaler Institutionen und Organisationen als Kriegsverbrechen verurteilt wurde. In Israel blendeten Zensur und gleichgeschaltete Medien die Greueltaten weitgehend aus, wobei der Rechtsruck bei den Wahlen auf erschütternde Weise davon zeugte, welch breiten Rückhalt die ungezügelte Gewalt im Umgang mit palästinensischem Widerstand inzwischen in der israelischen Bevölkerung genießt. Drei Wochen lang nahm die Weltöffentlichkeit beiläufig Notiz von dem Massaker und der Verwüstung, ohne Israel in den Arm zu fallen, dann wandte sie ihre flüchtige Aufmerksamkeit anderen Ereignissen zu.

Bettina Marx, die bei Erscheinen ihres Buches im März auf ihren bis dahin letzten Besuch im Gazastreifen unmittelbar nach Ende der Offensive "Gegossenes Blei" zurückblickte und wie so oft bei ihren früheren Reisen zu den dort lebenden palästinensischen Freunden mit einer erneuten Eskalation von Tod und Zerstörung konfrontiert wurde, bezieht Position. Die Eindringlichkeit und Glaubwürdigkeit ihres Berichts entspringt einer Parteinahme, die bruchlos aus eigenem Erleben und persönlichen Begegnungen erwächst. Sie zählt zu den wenigen Journalistinnen und Pressevertretern, die allen Schikanen und Gefahren zum Trotz den weithin gemiedenen Ort über Jahre hinweg immer wieder aufgesucht haben und somit authentisch belegen können, was gemeinhin verschwiegen, verleugnet, ignoriert und bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird. Verknüpft mit einem historischen Abriß der Geschichte des Gazastreifens entstand daraus ein lebendiger und ergreifender Bericht, der die Schicksale ihr vertrauter Menschen in den Rahmen einer fundierten Analyse stellt, die weit über bloße Eindrücke hinaus zu unabweislichen Schlußfolgerungen gelangt.

Daß die Bewohner dieses schmalen Küstenstreifens von nur 42 Kilometer Länge und zwischen fünf und zwölf Kilometern Breite nicht nur hermetisch eingeschlossen, sondern auch durch systematische Desinformation diskreditiert werden, ist unmittelbare Folge einer jahrelangen Einschränkung der Pressefreiheit und Repression gegen Journalisten seitens israelischer Behörden. Bettina Marx beschreibt im Schlußkapitel direkte Angriffe auf Berichterstatter in den besetzten Gebieten, die dort ihres Lebens nicht sicher sind. Werden Pressevertreter durch Schüsse von Soldaten getötet oder verletzt, besteht keine Aussicht auf eine Klärung des Vorfalls, geschweige denn Sanktionen gegen die Angreifer. Jahrelang mußten Journalisten vor der Einreise in den Gazastreifen ein Dokument unterschreiben, das die Armee von der Verantwortung für ihre Unversehrtheit entband.

Als mit Beginn der zweiten Intifada Danny Seaman zum Direktor des Regierungspresseamts in Jerusalem ernannt wurde, verschlechterte sich das schon zuvor belastete Verhältnis zwischen der israelischen Regierung und ausländischen Medien dramatisch. Frei nach dem Motto, daß die ganze Welt gegen Israel sei, scheint er Journalisten als Feinde einzustufen, die er bekämpfen, zumindest aber streng kontrollieren muß. Kritische Berichterstatter werden massiv beeinflußt, wenn nicht gar an der Ausübung ihres Berufs gehindert. Vorzugsweise werden arabische und palästinensische Journalisten drangsaliert, wobei man letztere de facto mit einem Berufsverbot belegt. Da Presseausweise, wie sie in demokratischen Ländern für die Ausübung dieser Tätigkeit ausreichen, in Israel ohne Bedeutung sind, besteht dort der einzigartige Zwang, daß eine von der Regierung ausgestellte Pressekarte für die Akkreditierung erforderlich ist. Stundenlange Befragungen schon bei der Einreise, Konfiszierung der Ausrüstung, Beleidigungen und Erniedrigungen sind keine Seltenheit.

Danny Seaman beschuldigt ausländische Journalisten pauschal, sie würden einseitig berichten, und schreckt im Streitfall nicht davor zurück, sie als Nazis zu beschimpfen. Insbesondere große Nachrichtensender wie CNN und BBC World werden beschuldigt, voreingenommen Partei für die Palästinenser zu ergreifen. Im Jahr 2002 brüstete er sich in einer Jerusalemer Lokalzeitung damit, mehrere namhafte ausländische Journalisten wie Suzanne Goldenberg vom Guardian oder die Korrespondenten des Toronto Star und der Washington Post aus dem Land gedrängt zu haben. Seaman wollte sogar durchsetzen, daß mit dem Antrag auf eine Pressekarte eine Untersuchung durch den Inlandsgeheimdienst Shin Bet verbunden sein müsse, was jedoch am Widerstand israelischer Medien scheiterte. Daraufhin setzte er durch, daß ausländische Journalisten nur noch fünf Jahre in Israel leben dürfen und Kameramänner wie auch andere Mitarbeiter noch rigoroser behandelt werden.

Im Oktober 2006 traf es den langjährigen Israelkorrespondenten der FAZ, Jörg Bremer. Bremer, der zu diesem Zeitpunkt seit 15 Jahren in Jerusalem lebte und von dort berichtete, sollte das Visum nicht mehr verlängert werden.

Von Haaretz dazu befragt, reagierte Danny Seaman ausgesprochen wütend und bezeichnete Bremer als "ein Stück Scheiße". In einem Gespräch mit dem ARD-Hörfunk wies Seaman darauf hin, dass er diesen Ausdruck "off the record" benutzt habe und dass es sich bei dem Gespräch mit Haaretz nicht um ein offizielles, autorisiertes Interview gehandelt habe. (...) der unerfreuliche Vorfall machte deutlich, mit welcher Feindseligkeit ausländische Pressevertreter vom Leiter des Regierungspresseamts behandelt wurden. Die Stimmung zwischen der internationalen Presse in Israel und Seaman war so vergiftet, dass die Regierung wiederholt ankündigte, seinen Vertrag nicht mehr zu verlängern. Doch diese Ankündigungen wurden nie in die Tat umgesetzt. (S. 334/335)

Wenngleich Seaman insbesondere die beiden Nachrichtenkanäle CNN und BBC World mit geradezu paranoidem Haß verfolgte, stand er mit seiner feindseligen Haltung keineswegs allein. Als Ted Turner 2002 in einem Interview mit dem Guardian sagte, sowohl Israel als auch die Palästinenser bedienten sich terroristischer Methoden, löste dies einen Sturm der Entrüstung aus. Die israelische Regierung verurteilte diese Aussage, der Kommunikationsminister bezeichnete Turner als unerwünschte Person und ein Kabelnetzanbieter drohte, CNN aus dem Angebot zu nehmen. Daraufhin distanzierte sich CNN von Turner, dieser leistete öffentlich Abbitte, und der Sender hatte wochenlang mit Einbußen im Anzeigengeschäft und feindseligen Email-Kampagnen zu kämpfen. Geschäftsführer Walter Isaacson antichambrierte bei jüdischen Organisationen in den USA, versprach eine "ausgewogenere" Berichterstattung und nahm eine Serie über israelische Anschlagsopfer ins Programm.

Noch schlimmer erging es der BBC, die Seaman im Sommer 2003 beschuldigte, sich der "schlimmsten Nazipropaganda" zu bedienen, nachdem es der Sender gewagt hatte, eine Dokumentation über Israels nukleare Bewaffnung auszustrahlen und den Vorwurf zu erheben, im Gazastreifen werde eine chemische Waffe eingesetzt. Die allgemeine Haltung der BBC grenze an Antisemitismus und gefährde die Existenz des Staates Israel, da sie Israelis dämonisiere und Feinden Angriffsgründe liefere, wetterte Seaman. Nicht die Besatzungspolitik war somit Auslöser palästinensischer Gewalt, sondern die Berichterstattung darüber. Wenn aber alles, was Israel in einem schlechten Licht erscheinen läßt, zu einer Gefährdung seiner Existenz erklärt und daher verboten werden kann, ist Berichterstattung schlichtweg nicht mehr möglich.

Als im April 2006 eine unabhängige Kommission, die mit einer Überprüfung der inländischen BBC-Programme beauftragt worden war, ihren Bericht veröffentlichte, kam sie darin zu dem Schluß, daß der Sender tatsächlich einseitig berichtet - jedoch zugunsten Israels und zu Lasten der Palästinenser. Die BBC habe keine Anstrengungen unternommen, um ehrlich zu zeigen, wie die Okkupation Menschen entwürdigt und degradiert. Zu dem Töten und der Zerstörung geselle sich der Versuch, den menschliche Geist zu zerstören und die Identität zu rauben. Der Sender suggeriere eine Symmetrie der Konfliktparteien, wo es keine gebe, und enthalte den Zuschauern die notwendigen Hintergründe und Zusammenhänge vor, die erforderlich seien, um die Geschehnisse im Nahen Osten zu verstehen.

Nicht anders verhält es sich in den USA und in Deutschland, wo eine Politik der Desinformation eine immer größere Disparität zwischen dem Informationsstand im Westen und dem Wissen in der islamischen Welt hervorbringt, das durch die ausführliche Berichterstattung arabischer Nachrichtennetzwerke wie Al Arabiya und Al Dschasira vermittelt wird. Der Gazastreifen ist ein Paradebeispiel für die Strategie, angemessene Berichte über die Lage der Palästinenser und ihren Widerstand so lange zu verteufeln, bis sich kein westlicher Journalist mehr daran die Finger verbrennen will und das mediengenerierte Interesse der Öffentlichkeit in Israel, Europa und den USA verödet ist. Niemand soll mehr hinschauen und erkennen, was sich im Gazastreifen abspielt. Die eineinhalb Millionen Palästinenser, die dort hinter unüberwindlichen Grenzen leben, sollen von der Weltöffentlichkeit vergessen werden.

Bettina Marx trägt mit ihren Berichten aus einem Land ohne Hoffnung dazu bei, die Palästinenser im Gazastreifen diesem Vergessen zu entreißen und damit jene Position zu stärken, die sich dem Diktat der übermächtigen Kräfte nicht beugt. Wie sie abschließend schreibt, werden sich die Menschen im Gazastreifen nicht ewig marginalisieren lassen, da sich das für sie immer mehr zu einer Frage des schieren Überlebens zuspitzt. Wenn Hunderttausende hungernder, kranker und verarmter Palästinenser auf die Grenze zumarschieren und sich auch von einer der stärksten Armeen der Welt nicht mehr aufhalten lassen, weil sie nichts mehr zu verlieren haben, spätestens dann wird sich Israel mit der existentiellen Frage nach seiner Zukunft im Nahen Osten konfrontiert sehen.

18. August 2009


Bettina Marx
Gaza
Berichte aus einem Land ohne Hoffnung
Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2009
351 S.
ISBN 978-3-86150-761-1