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REZENSION/513: Ellen Rohlfs - "Nie wieder!"? Was geschieht eigentlich hinter der Mauer in Palästina? (SB)


Ellen Rohlfs


"Nie wieder!"?

Was geschieht eigentlich hinter der Mauer in Palästina?
"Nur" Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder schleichender Völkermord?

Eine Dokumentation


"Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus" - hinter diesen Worten verbirgt sich der wenn auch eher inoffizielle, so doch in die Ausgestaltung der deutschen Verfassung eingeflossene Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland, die sich als Nachfolgestaat des NS-Regimes gegenüber der eigenen Bevölkerung wie auch der übrigen Welt in die Pflicht genommen hatte, dafür Sorge zu tragen, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen oder dort eine Diktatur errichtet werden könne. Auf dieses "Nie wieder" nahm die 1927 in Tübingen geborene Ellen Rohlfs mit dem Titel ihres 2007 in erster und im Oktober 2009 in dritter und aktualisierter Auflage erschienenen Buches Bezug, indem sie diese beiden Worte, allerdings mit einem Fragezeichen versehen, in den Buchtitel aufnahm. Bewußt hat die Autorin auch mit der weiteren Titelsetzung - "Was geschieht eigentlich hinter der Mauer in Palästina? 'Nur' Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder schleichender Völkermord?" die Frageform gewählt, um das Interesse potentieller Leser und Leserinnen auf diese von ihr im Selbstverlag herausgegebene Dokumentation zu lenken.

In einem von ihr selbst in Anlehnung an Erich Fried verfaßten und ihrem Buch vorangestellten Gedicht "Nie wieder!" nimmt die Autorin, die am 13. September 1993 für ihr Friedensengagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden war, klar Stellung zu der Mitverantwortlichkeit deutscher Regierungen in Hinsicht auf den Völkermord an den Herero im heutigen Namibia im Jahre 1904 und dem des Osmanischen Reiches an den Armeniern 1915 sowie dem Genozid am jüdischen Volk durch die deutsche Nazi-Regierung und macht dann nicht halt vor den engen Beziehungen Deutschlands zu Israel. Die deutsche Regierung, so heißt es in Rohlfs' Gedicht, kenne die "Ziele der rechtsextremen, rassistischen Regierung" (Israels), die da wären:

Palästina und Ost-Jerusalem araberrein zu machen,
d.h. ethnische Säuberung
also Transfer und "Politizid"
(S. 16)

An die Adresse heutiger Bundesregierungen gerichtet erhebt die Autorin in dem 2005 verfaßten Gedicht den Vorwurf, die "brutale und unterdrückerische Besatzung" durch die Lieferung von U-Booten und Panzerersatzteilen zu unterstützen und zu den Kriegsverbrechen Israels zu schweigen. "Das ist eindeutig Mittäterschaft", klagt Rohlfs an. So sehr die Autorin, die sich auch international einen Namen gemacht hat als autorisierte Übersetzerin des israelischen Friedensaktivisten Uri Avnery sowie einer großen Zahl weiterer Texte zum Thema, kritisch Stellung bezieht zu der Besatzungspolitik Israels und der Beteiligung Deutschlands sowie der weiteren westlichen Staaten, so wenig bietet sie selbst in ihren Äußerungen, Texten und Handlungen den geringsten tatsächlichen Anhaltspunkt für unsachliche Schmähkritiken, wie sie auch gegen sie mit dem ewiggleichen Antisemitismus-Vorwurf ins Feld geführt werden.

Wer ihr Werk aufmerksam studiert, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß die gegen ihre Person von einschlägiger Seite vorgebrachten Anfeindungen nicht auf Fehlinterpretationen oder Mißverständnissen der von ihr bezogenen Standpunkte beruhen, sondern gezielt lanciert werden in bewußter und beabsichtigter Verdrehung der Tatsachen. Wie sie selbst in ihrer Dankesrede anläßlich ihrer Aufnahme als Ehrenmitglied in die Erich-Maria-Remarque-Gesellschaft am 30. Oktober 2008 ausführte, geht es ihr in ihrem Friedensengagement vor allem darum deutlich zu machen, daß es sich bei dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern um die "unfaßbare Tragödie zweier Völker handelt, die eng mit der monströsen deutschen und europäischen Geschichte verknüpft ist".

"Für mich sind auf beiden Seiten ebenbürtige, gleichwertige Menschen, Menschen, denen selbstverständlich die gleichen Rechte, die Menschenrechte zugestanden werden müssen", stellte die Autorin ihre Auffassung, die sich auch wie ein roter Faden durch ihre gesamte Dokumentation zieht, klar. Der Auschwitz-Überlebende und Publizist Hajo G. Meyer definierte in seinem zu ihrem Buch verfaßten Vorwort Kommunismus, Faschismus und Zionismus als Ideologien, die "eine Heilserwartung und ein deutliches Feindbild" aufweisen und auf die Vernichtung des Feindes abzielen. Einzig der Zionismus sei noch am Leben in Gestalt Israels auf der Basis der "seit nun 40 Jahren andauernden militärischen Besatzung der palästinensischen Gebiete", die "nur Leid und Unglück über die Gruppe von Menschen, die der Zionismus zu seinen Erzfeinden erklärt hat, den Palästinensern", gebracht habe (S. 9).

Wiewohl zum Thema Zionismus namentlich auch in der Bundesrepublik Deutschland höchst kontroverse Auffassungen bestehen, kann das Werk Ellen Rohlfs' allen Interessierten empfohlen werden, weil es eine Grundlage bietet, sich auf der Basis der dargebotenen Informationen und Anregungen mit den aufgeworfenen Fragestellungen zu befassen. Wie Hajo Meyer schon im Vorwort ausführte, nimmt die Autorin inhaltlich Bezug auf ein Grundlagenwerk des israelischen Historikers Ilan Pappe, der in seinem 2006 erschienenen Buch "The Ethnic Cleansing of Palestine" (auf deutsch 2007 im Verlag Zweitausendeins unter dem Titel "Die ethnische Säuberung Palästinas" veröffentlicht) plausibel darlegte, daß zionistische Politiker lange vor der Staatsgründung Israels im Jahre 1948, nämlich bereits in den 1930er Jahren, Pläne zur Vertreibung der Palästinenser geschmiedet hatten.

"Die dem Leser nun hier vorliegende Dokumentation von Ellen Rohlfs erreicht auf andere Weise in etwa das gleiche Ziel, wie das der genannten historischen Facharbeit von Herrn Pappe" (S. 10), so Meyer. Die im Buchtitel aufgeworfene Frage, ob hinter der in Palästina errichteten Mauer "nur" Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder ein schleichender Völkermord verübt werde, zielt, zumal es im übrigen zur Problemlösung eher nachrangig wäre, die jeweiligen, vom israelischen Staat zu verantwortenden Verbrechen in der Bewertung voneinander abzugrenzen, auf die in den internationalen Medien weitgehend ausgeklammerte Frage ab, welche Absichten die israelische Führung gegenüber den Palästinensern tatsächlich hegt. In einem im Dezember 2003 von Ellen Rohlfs verfaßten und im dritten Teil des Buches mitabgedruckten Beitrag nimmt die Autorin zu dem ein halbes Jahr später, am 9. Juli 2004, vom Internationalen Gerichtshof (IGH) in einem Gutachten für rechtswidrig erklärten Mauerbau Stellung:

Es ist eine Mauer, die sich nicht nur wie ein überdimensionales Untier breit durch das Land schlängelt und wälzt, dieses nicht nur zerstört, sondern auch zur Hälfte verschlingt. Mauer und Zaun legen sich - immer enger werdend - als tödliche Schlinge um das ganze palästinensische Volk - und reißt unversehens das israelische mit sich. "Wir stehen am Rande eines Abgrundes", mahnen nun auch Israelis, aus deren Mund solche Töne bislang ungewöhnlich waren.

Ein israelischer Soziologe nennt das, was hier geschieht, "Politizid" - Zerstörung einer Gesellschaft. Warum nicht "schleichenden Völkermord", der 1948 seinen Anfang nahm? Die Verantwortlichen lassen sich Zeit damit - denn so nimmt es die Welt nicht als das wahr, was es in der Tat ist.
(S. 170)

Ellen Rohlfs hat ihr Buch in drei Teile untergliedert. Der 1. Teil ist dem Kernthema des Buches gewidmet und beginnt mit der juristischen Definition des Völkermords, um auf dieser Basis die Politik Israels gegenüber den Palästinensern einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Beginnend in der frühen historischen Phase des Zionismus, in der die Leugnung der Existenz des palästinensischen Volkes bereits signifikant war, geht Rohlfs zur Geschichte der Besetzung der palästinensischen Gebiete durch den Staat Israel über und schildert die faktische Zerstörung vieler palästinensischer Dörfer sowie die Bestrebungen, durch immer schlechtere und entwürdigende Lebensbedingungen und gewaltsame An- und Übergriffe die Palästinenser zu vertreiben, wobei - nach Ilan Pappe - im Zuge dieser ethnischen Säuberung sogar die Erinnerung an die palästinensische Geschichte ausgelöscht werden soll.

Um die These eines schleichenden Völkermords, genannt "human transfer" (humane Umsiedlung), zu belegen, führt die Autorin in diesem Teil ihres Buches systematisch aus, wie "Mitglieder des palästinensisch- arabischen Volkes" (in den besetzten Gebieten) "zunächst nicht wahrgenommen, dann entrechtet, verachtet, diskriminiert, de-humanisiert, dämonisiert, gedemütigt, schikaniert, provoziert, geschlagen, verletzt, traumatisiert, ihres Landes und ihrer Häuser beraubt, vertrieben, verhaftet und getötet werden - ja, wie ihnen alles zum Leben Notwendige nach und nach, so langsam genommen wird, dass es die Welt kaum wahrnimmt." (S. 33) Wenngleich sich der überwiegende Teil der zu diesem Zweck zusammengestellten Informationen auf den Zeitraum vor 2007, dem Erscheinungsjahr der Erstauflage dieses Buches, bezieht, stellt dieser vermeintliche Mangel an Aktualität keinen Makel dar und erweist sich sogar als ein besonderer, wenn auch von der Autorin wohl unbeabsichtigter Pluspunkt, weil ihre Dokumentation insofern schon den Nutzwert eines historischen Nachschlagewerks beanspruchen kann.

Selbstverständlich darf in einem Werk zu diesem Thema der Gazakrieg vom Dezember 2008/Januar 2009 sowie die inzwischen über drei Jahre andauernde Blockade des Gazastreifens nicht fehlen. Doch da in einer schnellebigen (Medien-) Welt die Gefahr besteht, daß stets nur der letzte und aktuelle Input im sogenannten Bewußtsein der Öffentlichkeit präsent bleibt, was im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, unterstützt durch den Goldstone-Bericht der Vereinten Nationen über die im Gazakrieg verübten Verbrechen eben dieser Krieg wäre, ist die in Rohlfs' Buch vorgenommene Rückerinnerung an die Jahre zuvor gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt überaus angebracht, um zu einer fundierten und illusionslosen Einschätzung der aktuellen Lage inklusive daraus womöglich ableitbarer und auf einer Analyse der Interessen und Absichten der beteiligten Akteure beruhenden, vorsichtigen Prognose kommen zu können.

Im zweiten Teil des Buches stellt Rohlfs Texte und Beiträge weiterer Autoren zur Verfügung, um auf diese Weise die von ihr im ersten Teil geleistete Arbeit inhaltlich noch zu vertiefen. Bei der Auswahl und Zusammenstellung hat sie sich von der Idee leiten lassen, "möglichst viele Stimmen zu Worte kommen zu lassen", wobei "nicht nur einige wenige, die ausgefallene Meinungen vertreten", dabei sind, sondern "Leute, die keiner Ideologie verhaftet sind und politischen Durchblick, Vernunft, Weitsicht und Verantwortungsgefühl haben und - was wohl am wichtigsten ist: Sorge um die Menschen beider Völker, schlicht Mitmenschlichkeit" (S. 97).

Diese Textsammlung wurde nach dem Gazakrieg noch um drei weitere, aktuelle Artikel ergänzt. Unter den Autoren befinden sich israelische Kritiker und Friedensaktivisten wie Ilan Pappe, Uri Avnery und Rela Mazali, die Mitbegründerin der israelischen antimilitaristischen Gruppe "New Profile", die früheren CIA-Analysten Kathleen und Bill Christison, die sich zwischen 2003 und 2006 fünfmal in Palästina aufhielten und inzwischen von der "Auslöschung des palästinensischen Volkes aus der palästinensischen Landschaft" (S. 103) sprechen, internationale Organisationen wie das europäische Netzwerk EJJP, der US-amerikanische Professor Emeritus und Autor Paul J. Balles und andere mehr. Palästinensische Autoren sind durch Raji Sourani, den Direktor des von ihm gegründeten "Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte" (PCHR) und Direktor des "Gaza Centre of Human Rights" sowie Lama Hourani, die Gaza-Koordinatorin der "Palestinian Working Women Society für Development", vertreten.

Im dritten und abschließenden Teil ihrer Dokumentation stellte Ellen Rohlfs eigene Prosa- und Lyriktexte zusammen, die "mit dem Thema dieser Dokumentation zu tun haben" und "spontan größtenteils im Lauf der letzten Jahre entstanden sind, wenn ich mit Unfassbarem konfrontiert wurde" (S. 161). Dieser Abschnitt stellt, wenn man so will, die politische Botschaft der Autorin, die eine sehr persönliche ist, dar. In diesen Texten, die Rohlfs in Anlehnung an die israelische Autorin und Übersetzerin Debora Reich "Prosepoems" genannt hat, wird deutlich, wie unmittelbar die Autorin die Geschichte und Gegenwart Palästinas miterlebt und -erleidet und wie sehr gerade ihr als einer Deutschen, die die Schrecken von Nazizeit und Zweitem Weltkrieg noch selbst erlebt hat, dieser Konflikt oder vielmehr latente Kriegs- und Vertreibungszustand "unter die Haut geht". Den letzten, im Mai 2004 nach einem Konzert in Ramallah verfaßten Text hatte sie dem israelischen Dirigenten Daniel Barenboim gewidmet. Darin hieß es in Anspielung auf einen israelischen General, der 2003 behauptet hatte, Palästinenser hätten "Gene der Gewalt", weshalb sie "Terroristen" seien, in der letzten Strophe (S. 189):

Gebt ihnen Geigen in die Hand! - dann werden sie beweisen,
ihre Gene sind nicht anders als die ganz normaler Menschen.
Sie werden leben in Frieden mit sich und ihren jüdischen Nachbarn.
Nach Martin Buber, Hannah Arendt, Yeshayahu Leibowitz
und Yehudi Menuhin
Wär' es nie anders gewesen.
Lasst endlich den Geist der Gerechtigkeit und der Versöhnung wachsen!
Drum, gebt ihnen Geigen in die Hand und Hoffnung ins Herz!

21. April 2010


Ellen Rohlfs (Hg.)
"Nie wieder!"?
Was geschieht eigentlich hinter der Mauer in Palästina?
"Nur" Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder schleichender Völkermord?
Selbstverlag. 3., erweiterte Auflage, Oktober 2009
Zu beziehen über: ellen.rohlfs@freenet.de
206 Seiten, 10 Euro