Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/525: Michael de Ridder - Wie wollen wir sterben? (SB)


Michael de Ridder


Wie wollen wir sterben?

Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin



Das bundesdeutsche Gesundheitswesen, das vor gar nicht so langer Zeit international als Vorbild galt, ist mittlerweile von hohen Kosten, anhaltendem Leistungsabbau und der Verabschiedung von der Idee der sozialen Gerechtigkeit gekennzeichnet. Noch in den 1990er Jahren bezeichnete der Medizinethiker Dieter Birnbacher die Gesundheitsversorgung in Deutschland als soziale Gegenwelt zum Alltag, bei der man der Utopie einer klassenlosen Gesellschaft am nächsten gekommen sei. Denn egal, wieviel jemand in die Krankenkasse einzahlte, heraus bekam jeder das gleiche: nämlich das, was er brauchte. Doch diese Zeiten gehören der Vergangenheit an. Inzwischen haben Sparmaßnahmen und Leistungsabbau das deutsche Gesundheitssystem fast völlig demontiert. Gleichzeitig steigen die Gesundheitsausgaben immer weiter an, so daß immer mehr Bundesbürger Probleme haben, dringend benötigte Medikamente oder Anwendungen zu erhalten. Während Heilbehandlungen zunehmend dem Rotstift zum Opfer fallen und auf bestimmte Krankenheiten wie Krebs spezialisierte Stationen schließen müssen, warten Tausende auf eine Therapie oder werden sukzessive von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen.

Mittlerweile ist eine solche Schieflage entstanden, daß die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) unlängst konstatierte, die soziale Herkunft bestimme nicht nur darüber, inwieweit einem Patienten im Krankheitsfall geholfen wird, sie beeinflusse vielmehr auch die Krankheits- und Unfallhäufigkeit sowie die Sterblichkeit. BZgA-Direktorin Prof. Dr. Elisabeth Pott zufolge belegen verschiedene Studien, daß die soziale Schichtzugehörigkeit über den gesamten Lebenslauf eng mit den gesundheitlichen Chancen zusammenhängt. So sollen chronische Krankheiten bei ärmeren Menschen zwei- bis dreimal häufiger auftreten. Armut gehört zu den wichtigsten Gesundheitsrisiken und Todesgründen - und das nicht nur in den Ländern des Südens, wo ein Großteil der Menschen mit einem Einkommen von rund einem Dollar pro Tag auskommen muß, sondern ebenso in Deutschland.

Obgleich Deutschlands Gesundheitskosten mit rund 250 Milliarden Euro pro Jahr nach den USA die zweithöchsten weltweit sind, kann die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung kaum noch aufrechterhalten werden. In der Folge hatte bereits im Jahr 2006 die Bundesärztekammer (BÄK) von der Öffentlichkeit das Eingeständnis eingefordert, daß nicht länger alles medizinisch Notwendige auch für alle Bundesbürger finanziell machbar sei. BÄK-Hauptgeschäftsführer Christoph Fuchs meinte damals, daß unabhängig davon, welche Mittel die Große Koalition auch immer mobilisieren könne, diese mittel- wie langfristig nicht ausreichen würden, um das Gesundheitswesen zu finanzieren. Selbst notwendige Medizin werde unter diesen Bedingungen nicht dauerhaft gewährleistet werden können.

Mit anderen Worten, dem Gesundheitswesen droht die Katastrophe des vollständigen Zusammenbruchs. So erstaunt es nicht weiter, daß der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, am 11. Mai dieses Jahres auf der Eröffnungsveranstaltung des 113. Deutschen Ärztetages in Dresden zum wiederholten Male die Priorisierung der medizinischen Leistungen gefordert hat, um bei absehbar knapper werdenden Ressourcen die medizinische Gesundheitsversorgung der Bevölkerung weiter aufrechtzuerhalten.

Während die letzten Jahre von einer Demontage des deutschen Gesundheitswesens gekennzeichnet waren, spitzte sich in derselben Zeit die Debatte - ob Zufall oder nicht - um die passive und aktive Sterbehilfe immer weiter zu. Auch wenn von staatlicher und ärztlicher Seite entrüstet unterstrichen wird, daß eines nichts mit dem anderen zu tun habe, zeigt doch schon das zeitlich gemeinsame Auftreten, in welcher Verfassung sich unsere Gesellschaft befindet.

Vor diesem Hintergrund ist Michael de Ridder, seit über dreißig Jahren an verschiedenen Kliniken in Hamburg und Berlin als Internist, Rettungs- und Intensivmediziner tätig und Vorsitzender der Hans- Joachim-und-Käthe-Stein-Stiftung für Palliativmedizin, mit dem Buch "Wie wollen wir sterben? Ein Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin" an die Öffentlichkeit getreten. Mit ihm will er dem Klappentext zufolge dafür eintreten, daß Medizin nicht nur unter Einsatz aller Mittel der Lebenserhaltung dienen soll, sondern dabei niemals den Willen der Patienten aus den Augen verlieren darf:

Die Würde des Menschen, sein Recht auf Selbstbestimmung muss auch und gerade bei unheilbar kranken und alten Menschen respektiert und gewahrt bleiben. Viel zu oft allerdings setzen sich Ärzte über den Willen der Patienten hinweg, tun alles, was medizinisch und technisch möglich ist, und tragen so eher zur qualvollen Sterbeverzögerung als zur sinnvollen Lebensverlängerung bei. Aber Lebensverlängerung, so Michael de Ridder, darf nie zum Selbstzweck werden.
(Klappentext)

Ein wohlformuliertes Anliegen, dem sicherlich viele Menschen zustimmen dürften. Allerdings stellt sich die Frage, was de Ridder unter sinnvoller Lebensverlängerung versteht und ob man seine Position gegenüber dem Sterben tatsächlich teilen möchte.

Beim Lesen des Buches fällt als erstes auf, daß es dem Autor mit der Schilderung von Fallgeschichten gelingt, ein sehr plastisches Bild des Klinikalltags zu zeichnen. Man kann gar nicht anders, als ihm beizupflichten, wenn er beispielsweise (auf Seite 15ff) die unmenschliche Prozedur der Wiederbelebung von Gerda L. schildert, die man gewiß niemandem zumuten möchte. Man muß leider davon ausgehen, daß solche Wiederbelebungen immer wieder im Klinikalltag genauso, wenn nicht gar in noch schlimmerer Form vorkommen.

Auch die im Kapitel "Gepflegt und doch verendet - Vom Sterben der Alten und Gebrechlichen" geschilderten Fälle erschüttern einen zutiefst, so daß man nachvollziehen kann, wenn de Ridder schreibt:

Angesichts der erbärmlichen und hoffnungslosen Lage allzu vieler Pflegebedürftiger bleiben Scham und Zorn. Scham, weil eine Gesellschaft, die sich ihr gesundheitliches Wohlergehen mehr als 250 Milliarden Euro jährlich kosten lässt, ihre Gebrechlichsten zu Almosenempfängern degradiert, nicht wenigen das Nötigste vorenthält und manche gar regelrecht verenden lässt. Scham auch, weil nicht wenige Junge die Gesetzliche Pflegeversicherung als Alibi dafür betrachten, ihren Alten Zuwendung und Sorge zu entziehen oder sich sogar an ihnen zu bereichern.

Zorn, weil die Ärzteschaft, seit Langem unfähig zur Selbststeuerung, sich ihre Ertragslage mehr angelegen sein lässt als die Erfüllung ihres Versorgungsauftrags. Zorn, weil die Krankenkassen immer noch unendliche Mittel für überflüssige Leistungen und andere Quacksalbereien ausgeben, die Finanzierung des wirklich Unverzichtbaren aber auf der Strecke bleibt. Zorn schließlich auch auf eine Politik, die ihrer vornehmsten Aufgabe, das Gemeinwohl zu gestalten, im Gesundheitswesen nicht angemessen nachkommt, weil sie die Versorgungsnotwendigkeiten einer rapide alternden Gesellschaft in ihrer Dringlichkeit unterschätzt.
(S.91/92)

Doch was wird aus diesem Zorn? Rafft sich der Autor dazu auf, für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der niemand - also auch nicht Alte und Gebrechliche - an den Rand gedrängt wird? Ruft er die Leser auf, für eine Gesellschaft einzutreten, in der niemand zu Lasten eines anderen lebt bzw. sich an der Not des anderen bereichert? Nein, die Schilderung, welche Unsäglichkeiten alte und gebrechliche Menschen hierzulande zu erleiden haben, dienen de Ridder offenbar lediglich als Argument, um als Ausweg die Flucht in den Tod schmackhaft zu machen. Man könnte den Eindruck gewinnen, die Alten sollen keine Stimme erhalten, um ihre Interessen lauthals zu vertreten, sondern nur still und leise von dieser Welt abtreten.

Mit dem Patiententestament, für das der Autor unumwunden eintritt, haben Patienten nur die Möglichkeit, bestimmte Maßnahmen abzulehnen. Eine Verpflichtung der Ärzte, beispielsweise auch dann noch weiter tätig zu sein und nichts unversucht zu lassen, wenn es ihrer Einschätzung der Situation widerspricht, ist nicht vorgesehen. Wenn dem Willen der Patienten - eigentlich aller Menschen - Rechnung getragen werden soll, dann in jede Richtung. Dabei geht es nicht nur darum, ob das Leben erhalten oder beendet wird, sondern bereits weit im Vorfeld um die Frage, ob Pflegebedürfte ein erfülltes Leben nach eigenem Willen führen können oder zum beschleunigten Sterben in Bewahranstalten abgeschoben werden.

Man kann davon ausgehen, daß der Autor auf Nachfrage zustimmen würde, daß es nicht ausreicht, Menschen in größter Not lediglich den Ausweg in den Tod zu bieten. Doch in seinem Buch spart er Fragen in diese Richtung aus. Vielmehr schildert er mit Hilfe verschiedener Fallgeschichten, wie unmenschlich Lebensverlängerung sein kann. An dieser Stelle verkehrt sich der Vorteil, durch Fallgeschichten das Gemeinte besonders eindrücklich darzustellen, in sein Gegenteil. Es fällt auf, daß all jene in dem Buch, die sich zu einer Beendigung des Lebens durchringen, vermeintlich dadurch belohnt werden, daß ihnen die Familie fürsorglich über die letzten Tage und Stunden hinweghilft.

Der Alltag sieht jedoch meistens anders aus. Das wußte der Autor in dem Kapitel "Gepflegt und doch verendet" selbst noch zu berichten. Alte und gebrechliche Menschen werden heute - allzuoft von ihrer Familie - in entsprechende Heime abgeschoben, um die Zeit bis zu ihrem Ableben zu überbrücken. So isoliert stehen sie der Willkür nicht selten vollkommen überforderter Pflegekräfte hilflos gegenüber. Davon geben unter anderem die Berichte über die zunehmende Gewalt gegen Hilflose in der Pflege ein trauriges Zeugnis. Leider sind diese Aspekte in dem Buch vollkommen ausgeblendet.

Statt dessen schildert de Ridder das Sterben von Dr. Monika R., einer Kollegin, die an Gebärmutterkrebs erkrankte:

Ihr Schicksal geht mir besonders nahe, weniger deswegen, weil ich sie gut kannte, als vielmehr weil sie ihren Beruf auf eine Weise verstand und ausfüllte, die dem oben skizzierten Bild des Arztes, der heute eine Ausnahmeerscheinung darstellt, sehr weitgehend entsprach. Sie war ihren Patienten mehr als eine kompetente und zugewandte Ärztin, sie war freundlich im eigentlichen Wortsinn. Denn vielen Kranken war sie eine Freundin und damit eine Vertraute, die wirkliches Verstehen, Ermutigung und Wärme in der Beziehung von Krankem und Arzt lebendig werden ließ, in einer Zeit, in der die Kälte des Krankenhausbetriebs sprichwörtlich zu werden begann. Viele, die sie kannten, erinnerten sich später mit Wehmut an sie, so als vermissten sie nicht nur den Menschen Monika R., sondern mit ihr auch eine besondere, verloren gegangene Weise ärztlichen Handelns und Fühlens.
(S. 222)

Allerdings beging Monika R. nach Auffassung des Autors den folgenschweren Fehler, nach Bekanntwerden ihrer Erkrankung unablässig um ihr Leben zu kämpfen. Statt in Ruhe mit dem Leben abzuschließen, um sich schließlich "terminal sedieren" zu lassen, griff sie nach jedem Strohhalm, nach jedem aus Sicht des Autors noch so abwegig erscheinenden Therapieangebot, um unter keinen Umständen aufzugeben.

Für Monika beginnt ein tragischer Leidensweg. Tragisch vor allem deswegen, weil sie zwar manchen ihrer Patienten darin hat beistehen können, eine aussichtslose Erkrankung anzunehmen und sich einer palliativmedizinischen Behandlung anzuvertrauen. Doch selbst eine aussichtslos Kranke zu sein, konnte oder wollte sie nicht zulassen - eine Haltung, die gerade unter Menschen verbreitet ist, die selbst im Gesundheitswesen tätig sind. Besonders Ärztinnen und Ärzte sind oftmals durch nichts davon abzubringen, eigene Symptome, Beschwerden und Krankheiten zu verharmlosen, zu verschieben oder gar vollkommen zu ignorieren.
(S. 223)

Zwölf Jahre lang, von 1992 bis 2003, währte ihr Kampf, bis sie schließlich unterlag. Doch während de Ridder für die Entscheidung, das Leben zu beenden, Respekt einfordert, wirft er seiner ehemaligen Kollegin vor, von Angst getrieben lediglich die Qual zu Leben ins Unermeßliche gesteigert zu haben. Sicherlich wird es kaum einen Leser geben, welcher der Frau nicht gewünscht hätte, weniger Leid erfahren zu müssen. Doch muß man deswegen gleich für ihren Tod sein?

Insgesamt muß man zu dem Buch "Wie wollen wir sterben?" sagen, daß sich seine Lektüre allenfalls für all jene lohnt, die sich anhand von Fallberichten ein genaueres Bild vom Klinikalltag wie auch vom Sterben unter medizinischer Obhut machen möchten. Doch sollte man auf der Hut sein und sich nicht durch die Suggestivkraft dieser Bilder dazu verleiten lassen, die Schlußfolgerungen des Autors zu übernehmen. Durch Auswahl und Darstellung der Fälle legt er dem Leser nahe, daß ein Verkürzen des Sterbeprozesses durch den Einsatz beispielsweise von Morphium - beim "terminalen Sedieren" nicht unbedingt nur zur Schmerzbekämpfung, sondern auch, um den Sterbenden bewußtlos zu machen, damit er beispielsweise keine Atemnot verspürt - Leiden und Not lindert und so den Königsweg beim Sterben darstellt.

Indem der Autor die herrschenden Verwertungsbedingungen menschlichen Lebens vollständig ausblendet und mithin ihre gesellschaftliche Organisation unter maßgeblicher Beteiligung des Gesundheitswesens bejaht, reduziert er ärztliches Handeln am Lebensende auf dessen administrativen Kern einer fachgerechten Entsorgung. Mündet die lebenslange Drangsalierung verwertbarer Arbeitskraft in die Ausgrenzung und Isolation eines für unbrauchbar erklärten Individuums, das in Durchsetzung utilitaristischer Selektion zu einer bloßen Last für das Gemeinwesen degradiert wird, setzt das Plädoyer für ein trügerisches Arrangement "friedlichen Einschlafens" den Schlußstein der Mauer, die jede kritische Auseinandersetzung mit der Unannehmbarkeit geraubten Lebens fugenlos verhindert.

19. Mai 2010


Michael de Ridder
Wie wollen wir sterben?
Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der
Hochleistungsmedizin
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010
316 Seiten
ISBN 978-3-421-04419-8