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REZENSION/537: Safia Azzouni, Uwe Wirth (Hrsg.) - Dilettantismus als Beruf (SB)


Safia Azzouni, Uwe Wirth (Hrsg.)


Dilettantismus als Beruf

Von Wissenschaft und Leidenschaft



Es scheint, als hätten wir uns zu einer Gesellschaft von Nichtskönnern entwickelt. Für alles brauchen wir einen fachlichen Rat oder eine Anleitung. Wie erziehe ich meine Kinder - oder meinen Hund, was kann ich essen und vor allem wieviel, wie soll ich mich bewegen, was anziehen oder heute besser: wie mich stylen, wo mein Geld anlegen, so ich denn über welches verfüge? Zu allem, was das eigene Leben betrifft, fragt man besser einen, der sich damit auskennt, einen Experten, von denen es allerdings so viele und per Internet leicht erreichbar gibt, daß man für ihre Auswahl schon wieder einen Spezialisten bräuchte. Denn auch die sogenannten Experten sind vielfach bloß Selbstberufene und nicht selten einfach - Dilettanten. Was - zweifellos - ein Schimpfwort und eine Beleidigung ist.

Sie Dilettant! - Allzu oft ist uns nach diesem Satz zumute, gegenüber Ärzten und Anwälten, Handwerkern, den eigenen oder den Lehrern unserer Kinder und last but not least gegenüber Politikern. Manch einer mag an diese Gruppe sogar zuerst denken, wenn ein Buch den Titel "Dilettantismus als Beruf" trägt. Oder an eine Provokation. - Alles falsch!

Das 2010 im Kadmos Verlag erschienene Buch, herausgegeben von Safia Azzouni und Uwe Wirth, versammelt 12 Beiträge verschiedener wissenschaftlicher Autoren zu einem unerwartet facettenreichen Begriff. Dilettantismus stand nämlich beileibe nicht immer in einem schlechten Ruf. Ein Dilettant ist zunächst einmal einer, "der eine Tätigkeit aus Liebhaberei betreibt" - was wäre verkehrt daran? - ein Nichtfachmann, okay, aber auch "ein Liebhaber einer Kunst, die er nur zum Vergnügen betreibt". Ist das im Streben nach Selbstverwirklichung nicht unser aller und ein allemal achtbares Ziel?

Bis zur sogenannten Dilettantismus-Debatte um 1800 war der Dilettant durchaus geschätzt, erst mit der Favorisierung von Experten- und Spezialistentum wird er zum "anmaßenden Nicht-Könner abqualifiziert", zu einem, der die Mühe zur Gründlichkeit scheut, so die Herausgeber in ihrem Vorwort. Dabei ist der Dilettant in erster Linie ein Grenzgänger, der sich um die von den Vertretern ihrer Disziplinen sorgsam gehüteten und gepflegten Abgrenzungen nicht schert, weil er selbst ein Disziplinloser ist. Im Spannungsfeld zwischen Laien- und Expertentum will das Buch den Begriff ausloten, seiner Historizität Rechnung tragen und seine Aktualität ins Blickfeld rücken. Unter verschiedenen Aspekten, nicht ganz ohne Wiederholungen und Überschneidungen, aber doch überraschend vielfältig, nähern sich die Autoren dem Thema.

Daß zur Wissenschaft die Haltung gehört, die laut Max Weber eine leidenschaftliche sein muß, konzediert Uwe Wirth im ersten Beitrag über Dilettantische Konjekturen als ungewöhnlich. Diese Eigenschaft zeichne eigentlich "den Enthusiasten, den Liebhaber, den Amateur, sprich, den Dilettanten" (S. 11) aus. Und schon sind wir in der Mitte der Auseinandersetzung, in medias res. Denn die Leidenschaft ist für Weber die Vorbedingung zur Eingebung, "Eingebung, Konjektur, Einfall sind [so besehen] Initialzündungen für das Formulieren von Hypothesen." (S. 13) Auch der Laie kann Einfälle haben, die in ihrer Tragweite denen des Wissenschaftlers in keiner Weise nachstehen. Nur fehlt ihm die Methodik und damit die Prüfbarkeit.

"Der Einfall (die hypothes, die Konjektur) des Dilettanten und der Einfall des Fachmanns erscheinen beide zunächst als bloße Spekulation. Im Gegensatz zum Dilettanten formuliert der naturwissenschaftliche Fachmann seine Konjekturen und Hypothesen jedoch schon so, dass sie 'kalkulierbar' sind, mit dem Ziel, sie mathematisch umzuwandeln und anschließend in einer entsprechenden Experimentalanordnung zu überprüfen."
(S. 20)

Damit ist der Idee aber auch eine Grenze gesetzt. Denn wer in Sicht auf Verwertbarkeit denkt, hat seine Reichweite von vornherein beschränkt.

Während der Laie von den einen als Ideengeber akzeptiert wird (Weber), wird er von den andern als Dilettant diffamiert (Liebig). Der Streit um wissenschaftliche Anerkennung geht im 19. Jahrhundert so weit, daß es besser ist, methodisch zu irren "als zufällig das Wahre zu finden". (S. 17) Der Dilettant wird abgestempelt und ausgegrenzt.

Der darin enthaltenen Beschränkung, die von wissenschaftkritischer Seite immer wieder angemerkt wird, begegnet Wirth mit dem Aufruf "Mut zum Dilettantismus", der die Voraussetzung jeglicher Produktivität sei. Denn der Fachmann, der innerhalb seines Wissenschaftsgebietes notwendig zum Spezialisten wird, droht damit auch, ein Fachidiot zu werden - und ein Ignorant. Wirth plädiert für einen "tentativen Positionswechsel" zwischen Expertenwissen und Universaldilettantismus und damit für ein Konzept, das heute im Kontext der Kulturwissenschaft seinen Niederschlag findet als "anspruchsvolles Abenteuer, bei dem man zwischen produktivem Dilettantismus und Expertenwissen hin und her geworfen ist." (S. 27)

Als frühes Beispiel eines solchen Wandelns zwischen den Welten kann Adelbert von Chamisso (1781 - 1838) gelten, Verfasser der wundersamen Geschichte von Peter Schlemihl, der zwar in erster Linie als Dichter bekannt wurde, dessen Werk sich aber zu einem größeren Teil mit seinen Arbeiten als Naturwissenschaftler, Ethnograf, Sprachforscher, Geologe, Zoologe und Botaniker befaßt. Er selbst sah sich als "Dolmetscher" zwischen dilettierendem und professionellem Wissenschaftler, wie die Autorin Marie-Theres Federhofer in ihrem Beitrag titelt, in dem sie seinen Werdegang veranschaulicht. Chamisso hatte den Vorteil einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Amateurwissenschaft und Professionalität fließend waren und die es "Dilettanten durchaus erlaubte, am wissenschaftlichen Diskurs zu partizipieren". (S. 50) Auch stellte er die Ergebnisse seiner Forschungen und Beobachtungen, etwa in Form von Herbarien seltener Pflanzen, anderen Wissenschaftlern zur Auswertung und Ausbeutung zur Verfügung. Ein gelungenes Beispiel von Zusammenarbeit zwischen Dilettant und Fachmann, von Ungezwungenheit und Unabhängigkeit.

"Die Grenzen zwischen Dilettantismus und Professionalität sind in bestimmten historischen Konstellationen, insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert, offenbar fließend gewesen, und das Urteil des Dilettanten konnte, wie zahlreiche prosopographische Einzeluntersuchungen inzwischen zeigen, in gelehrten Kreisen durchaus als Expertise gelten. Ein Dilettant zu sein, war nicht immer ein Vorwurf, sondern konnte vielmehr soziales Prestige und ökonomische Unabhängigkeit signalisieren: man konnte es ich aufgrund seiner finanziellen Lage leisten, seinen wissenschaftlichen Interessen als Liebhaber nachzugehen und war nicht gezwungen, sie zum Broterwerb zu machen. Dilettantismus ist ein historisch offenes Konzept, das, zumindest bis etwa in die Mitte des 19. Jahrhunderts, eher ein kulturelles Verhalten beschreibt, als einen soziologischen Typus in Abgrenzung zum Experten definiert, ist ebenso veränderbar, wie es die Kriterien sind, die herangezogen werden, um jemanden als einen professionellen Wissenschaftler zu erklären."
(S. 51)

Für den Philologen, so Stephan Willer in seinem Beitrag über Philologische Liebhabereien, gehört Dilettantismus, verstanden als "Vergnügen und Begehren, Lust und Liebe" immer schon zum Beruf, als "Lust am Text" (S. 31). Weil Interesse für Wissen immer nur dort entsteht, wo man etwas nicht weiß, "kommen neben Wissensdrang und Neugier auch Phänomene wie Dummheit und Begriffstutzigkeit ins Spiel." Dieser "Lizenz zum Stutzen" räumt der Autor für das philologische Unterfangen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung ein. (S. 41) Der Philologe, so seine Schlußfolgerung, muß als "Dilettant im positiven Sinne" immer auch das Risiko eingehen, "sich lächerlich vorzukommen, wenn er seine eigentliche Expertise ins Spiel bringt: die Auseinandersetzung mit dem erkenntnisstiftenden Vermögen des eigenen Begehrens." (S. 44)

Den Wissensdiskurs seiner Zeit zwischen begriffslosem Ausdruck (Dilettantismus) und ausdruckslosem Begriff (Spezialistentum), zwischen Gefühl und Genauigkeit spiegelt auch Musils Mann ohne Eigenschaften, der Anfang der 1930er Jahre erschien. Für den Literaturwissenschaftler Andreas Gailus ist das Werk Ausdruck einer Krise im historischen Kontext einer sich zunehmend differenzierenden Wissenschaftlichkeit zu Lasten von Inhalt und Individualität. "Professionalismus und Dilettantismus - Rechenschieber und große Behauptung - bilden zwei Seiten einer kommunikativen Dynamik, die zum Verlust der individuellen Stimme, zum 'metaphysischen Krach' der Kultur, und schließlich zum Realkrach des Ersten Weltkriegs führen." (S. 68)

Mit der Verselbständigung wissenschaftlicher Methodik verschwinden Subjektivität und Sinn und steigt gleichermaßen die Sehnsucht nach eben diesen. "Erst wenn das Denken die Beziehung zu seinem latenten Möglichkeitshintergrund zurückgewinnt, kann es Beweglichkeit und Lebendigkeit annehmen." (S. 79)

Wilhelm Bölsche, einer der bekanntesten deutschen populärwissenschaftlichen Schriftsteller um 1900, selbst "lebenslanger Autodidakt und naturforschender Amateur" (S. 89), dem sich Safia Azzouni in ihrem Beitrag Dilettantismus als Orientierungswissen widmet, stellte für die Phase der Umorientierung alter Bildungsideale auf neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Herausforderungen eine gravierende Orientierungslosigkeit fest. Gleichzeitig sei mit dem stärkeren Akzent auf Naturwissenschaft und eine fortschreitende Technisierung "die lebenspraktische Verwertbarkeit der speziellen Forschungsergebnisse" stärker in den Fokus des Interesses, die Wissenschaft "in das öffentliche Leben" getreten. (S. 85) Der moderne Terminus des Praxisbezugs wird virulent, sich selbst bilden heißt die neue Devise. Mit der Gründung der Berliner Universität (1810) will Humboldt einer "allgemeinen, selbständigen, freien und möglichst umfassenden Bildung" (S. 86) einen Platz verschaffen. Der Gegensatz zwischen dem Wissenschaftler und dem gebildeten Menschen soll aufgehoben werden. Damit tritt auch die Populärwissenschaft, der professionelle Popularisierer, ins Blickfeld. Wenngleich bei Bölsche der Dilettantismus negativ besetzt ist, attestiert er ihm Notwendigkeit. "Das Dilettantische ist das Ersatzmittel, mit dem man sich selbst behelfen muß, um den Zusammenhang zu erlangen, auf den sich das Erkennen und das Darstellen eigentlich richten."(S. 90 ) Die Popularisierung führt dabei nicht nur zu einer Verbreiterung von Wissen und Bildung in wissenschaftsferneren Bevölkerungsschichten, sie wirkt auch zurück auf die Wissenschaften, dient der Orientierung des Fachforschers, "der in der zunehmend disparaten weil spezialisierten Wissenschaftswelt den Überblick verlieren muß." (S. 93)

Welche Auswirkungen eine Theorie haben kann, die unter zeitgenössischen Wissenschaftlern als dilettantisch abqualifiziert wurde, zeigt Christina Wessely mit ihrem Aufsatz über Das Geschäft mit der Welt aus Eis am Beispiel der von dem Ingenieur Hanns Hörbiger um die Wende zum 20. Jahrhundert verbreiteten Welteislehre. Danach bestehen die meisten Körper des Weltalls aus Eis, das Universum verdankt seine Entstehung dem ewigen Kampf zwischen Feuer und Eis. Während Hörbigers Theorie unter Fachleuten als zu wenig durchdacht galt und ihm selbst zwar Phantasie, aber keine wissenschaftliche Qualifikation bescheinigt wurde, hatte er unter Laien bald Tausende von Anhängern.

"Der 'gebildete Laie' wurde damit nicht nur aus wissenschaftspolitischem Kalkül als Verbündeter in einem Pakt gegen die akademischen Naturwissenschaften adressiert, sondern auch als prinzipiell besserer Kosmologe markiert, dessen Verfügung über einen scheinbar undogmatischen, unverbildeten 'gesunden Menschenverstand' ihn zum potentiellen Weltanschauungsexperten promovierte."
(S. 99)

Es dürfe nicht verwundern, daß die Nationalsozialisten einer Theorie wie der Welteislehre zugeneigt waren, rechnete sie doch mit der tradierten Wissenschaft, im Nazijargon 'der jüdisch beherrschten Wissenschaft' ab.

Die Welteislehre ist aber auch ein frühes Beispiel dafür, wie durch geschickte Vermarktung, die Gründung von Vereinen, die Produktion von Filmen und die Verbreitung populärwissenschaftlicher Bücher eine Theorie Verbreitung finden kann.

Der Frage nach der (Pseudo)wissenschaftlichkeit einer These ist daher kaum durch eindeutige, objektive Definitionen beizukommen, sie muss stets die historische Perspektive berücksichtigen, aus der heraus solche Zuschreibungen gemacht werden.

Markus Krajewski beschäftigt sich mit einem von Dr. Robert Sommer, einem frühen Wegbereiter der akademischen Psychiatrie, dessen Ideen zu einer eurozentrierten Kultur- und Rassenpsychologie ihm zwar die Wertschätzung der Nationalsozialisten, dadurch aber auch ein frühes Vergessen einbrachte, geplanten Institut für Erfindungen. Angesichts der Versorgungskrise im ersten Weltkrieg sollten, angesiedelt zwischen "institutionalisiertem know how der Experten und privatem Halbwissen" (S. 113) Erfindertum gefördert und Ressourcen ausgesprochener Nichtfachleute "zur Bündelung ungenutzter Erfinderaktivitäten" im 'Land der Ideen' aktiviert werden. (S. 121)

Ein Institut wird nie gegründet, wohl aber löst der Vorschlag Dr. Sommers einen Diskurs über die Nutzung "brachliegender Projekte" (S. 121) aus - vorwiegend in der Zeitschrift Die Umschau - und er findet Nachahmer im Versuch, Laien als Erfinder zu rekrutieren. In der Krise, "im Augenblick der Gefahr entschließt sich der Staat, seine epistemologischen Befestigungsmauern zu öffnen, die Hintereingänge zu entriegeln, um dem anderenfalls unerwünschten Dilettanten eine Intervention zu ermöglichen, gleichsam als ultima ratio aus der Bedrängnis." (S. 128)

In der Musik wurde der Begriff des Dilettanten zunächst auf diejenigen angewendet, die keine Berufsmusiker waren, Musik nicht zum Broterwerb betrieben oder Komponisten, die sich z.T.selbst so betitelten, später auch auf den Musikliebhaber. Im 19. Jahrhundert kommt es auch hier zu einem Bedeutungswandel. Aus dem "Liebhaber der Tonkunst " wird der musikalische Nichtskönner, der sich im Regelwerk der Musik nicht auskennt bzw. dieses nicht beherrscht. Wenngleich die Lektüre von Julia Kursells Beitrag Hemholtzquinten einige Fachkenntnisse voraussetzt, wird anschaulich, wie sich auch hier die Maßstäbe ändern. Als sogenannter Universalgelehrter bezeichnete sich Helmholtz selbst als Dilettanten. In Untersuchungen über die Tonempfindungen näherte er sich der Musik von physikalisch-physiologischer Seite an. Am Beispiel paralleler Quinten wies er nach, daß auch Musikempfinden einem historischen Wandel unterworfen ist. Was heute in den Ohren falsch klingt, kann morgen richtig sein. Kursells Resümee: "Helmholtz dilettierte in der Wissenschaft von einer Musik, die es noch gar nicht gab." (S. 141)

In der Psychoanalyse entzündete sich die Diskussion Professionalität versus Laientum 1925 an der Frage um die Laienanalyse. Die Disziplin war noch jung, der Berufsstand wenig klar umrissen, die Ausbildung nicht standardisiert. Gestritten wurde darum, ob die Psychoanalyse den Ärzten vorbehalten bleiben sollte. Auch hier ging es, wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, nicht zuletzt darum, Pfründe zu sichern."Das Heilgeschäft ist eine ärztliche Sache." (S. 152) Für Freud war die Psychoanalyse kein Spezialfach der Medizin, ein Laie war für ihn nicht der Nichtmediziner, sondern der, der keine eigenen Erfahrungen auf dem Gebiet der Analyse hatte. Seit Freud ist die sogenannte Lehranalyse Vorbedingung für eine Zulassung zum Psychoanalytiker.

Dabei ist, so zitiert Mai Wegener in ihrem Beitrag zur Laienanalyse den Psychoanalytiker Theodor Reik, 'Laie' kein feststehender Begriff: "Er lebt von einem impliziten Bezug auf eine anerkannte, ehrwürdige Wissenschaft, denn nur vor einer solchen gibt es Laien." (S. 156) So wie Rebellen, "jene verächtlichen und gottverlassenen Individuen", keine mehr sind, wenn ihre Rebellion gesiegt hat, verlieren auch die Laien diesen Titel mit ihrer Autorisierung. Ob jemand Laie oder Profi ist, kommt auf seine Stellung zur Autorität an. Indem sie für die Fragilität und Beweglichkeit einer fachlichen Zuordnung eintritt, stellt sich Wegener hinter das Plädoyer für den Laien.

Eine gelungene Zusammenarbeit von wissenschaftlichen Experten und Amateuren bei der Sammlung von Informationen über existenzgefährdete Pflanzen gab es zwischen 1972 und 1986 in Schweden im sogenannten Linné-Projekt, das Jenny Beckmann in ihrem gleichnamigen Beitrag untersucht. Anders als in anderen Wissenschaften blieben die Beziehungen zwischen Experten und Amateuren unter den Botanikern trotz der Differenzierung in neue Disziplinen wie etwa der der experimentellen Botanik im Zuge der Professionalisierung der Wissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts eng. Aber auch hier führten die Auseinandersetzungen zu einer zunehmenden Spaltung zugunsten universitärer Forschung und zu Lasten der Botanik. Im Zuge dieser Entwicklung mußten viele botanische Gärten schließen oder sich zum Zwecke des Überlebens unter wissenschaftliche Oberhoheit begeben. Das Linné-Projekt, das, so die Autorin, als ein Rinnsal begann und sich - auch durch eine äußerst wirksame PR, zu einem Strom entwickelte und an dem sich schließlich mehrere 100 Personen beteiligten, förderte in verschiedensten Formen die Zusammenarbeit zwischen akademischen Institutionen und lokalen Experten. Die Mehrzahl von Daten über gefährdete Pflanzen wurden von Laien vor Ort zusammengetragen, meist ehrenamtlich."Die Informationen kamen in allen denkbaren Formen an: als perfekt gepresste Muster, geschäftsmäßig aufbereitete Berichte, mühsam per Hand aufgeschriebene Berichte oder telefonisch." (S. 171) So entstanden Karten gefährdeter Pflanzen, aber auch Netzwerke unter Menschen und Institutionen. Aus Amateuren wurden professionelle biologische Registratoren. Trotz einiger Probleme in der Übermittlung von Daten bzw. der Genauigkeit der Registrierung erwies sich die Zusammenarbeit mit sogenannten Laien sowohl unter finanziellen, als auch unter Aspekten einer mengenmäßigen Erfassung als günstig.

Den künstlerisch-kreativen Aspekt des Dilettantismus nimmt sich Barbara Wittmann in Das Steckenpferd als Lebenswerk aufs Korn bzw. vor die Computertasten. Daß das, was auf dem Markt als Kunst gilt, nicht immer die Kriterien des Könnens erfüllt, daß wir bei vielen Exponaten nicht zufällig denken, "das hätte ich auch gekonnt", deutet darauf hin, daß der Kunstmarkt sich nach anderen Kriterien ausrichtet als solchen der Professionalität, und, wie der Kapitalmarkt, eher Irrationalitäten unterworfen ist. Wittman konzediert für die Kunst des 20. Jahrhunderts: "Nicht nur der Laie konnte [...] in den Beruf des Künstlers wechseln, die künstlerische Produktion selbst richtete sich an der Ästhetik und Poetik des Dilettanten aus." (S. 184) Kinderzeichnungen werden nachgeahmt, die Ausdrucksformen sogenannter Irrer dienen als Anregung einer neuen Kunst. Der Dilettant steht für die Zweckfreiheit der Kunst, allerdings "nur um den Preis ihrer radikalen Privatisierung." (S. 193) Was im späten 18. Jahrhundert als unzulässige Praxis galt, wird im 20. zum unmittelbaren Zugriff auf die Wirklichkeit. Im Gegensatz zum professionellen Künstler muß sich der Dilettant allerdings nicht auf einem Kunstmarkt behaupten. "In seiner antiökonomischen Ausrichtung rettet die Kunst des Laien den künstlerischen Schöpfungsakt als Ideal der Produktivkraft überhaupt. Der Autodidakt hütet also eine verloren geglaubte schöpferische Konzeption von Arbeit und mit ihr ein veraltetes Modell des Berufs." ( S. 198)

Mit der gezielten Auflösung starrer Grenzen zwischen Hedonismus und Wissenschaft beschäftigt sich auch Eckhard Schuhmacher in einem letzten Beitrag über Existentielles Besserwissen und verweist auf die relativ junge Disziplin der Kulturwissenschaft, die diesen Grenzgang bereits praktiziert. Er erinnert an Gilles Deleuze und Félix Guattari, die - nicht uneitel - dafür plädierten, ihre Bücher zu lesen, wie man eine gute Platte hört.

Was als Chance auf einen Neuanfang und eine Verbesserung tradierter Geisteswissenschaften optioniert, birgt aber auch die Gefahr, Wissenschaft und Dilettantismus zu vermengen, zitiert der Autor den Medientheoretiker Friedrich Kittler. Die Kulturwissenschaft ist, so ihre Kritiker, dieser Gefahr in ganz besonderem Maße ausgesetzt. Es fehle Orientierung und Perspektive. Mangelnde Professionalität, ein ungezügelter Methodenpluralismus sowie interdisziplinäre Inkompetenz machten 'Kuwi' zum Label einer Unterhaltungsdisziplin, zum "Sammelsurium des jeweils Modischen und der jeweils Modischen - >Hip- Hop bei den Hopis< oder >Genesis und Gender bei Demokrit und Derrida<." (S. 208)

Parallelen zu neuen Methoden der Soziologie der 60er und 70er Jahre drängen sich auf, etwa der Teilnehmenden Beobachtung, die vielen anfangs ebenfalls nicht als wissenschaftlich galt, sondern eher das voyeuristische Herumstochern in den exotischen Randbereichen der Gesellschaft legitimierte.

Die Oberflächlichkeit der Rezeption scheint eine Begleiterscheinung moderner Wissenschaft zu sein, auch ein Ausdruck des Zeitgeistes und einer Zwangsläufikeit angesichts zunehmend komplexer erscheinender Informationsfluten. Dabei sei angemerkt, daß auch in den tradierten Wissenschaften die behauptete Präzision, auf ihre meßtechnischen Voraussetzungen überprüft, im Ergebnis vielfach eben jenen Spekulationscharakter aufweisen, der jeden Wissenschaftler zum Dilettanten werden ließe.

Dilettantismus als Beruf gewährt auf 222 Seiten Einblick in verschiedenste Gebiete wissenschaftlicher Auseinandersetzung, und ist gleichzeitig - am Faden der Dilettantismus-Debatte entlang - eine ausgesprochen spannende wie unterhaltsame Reise durch die Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Das Buch holt dabei die Experten aus dem Elfenbeinturm einer Exklusivität, die sich in der Clubzugehörigkeit der Insider erschöpft. Dem Wissenschaftler sei die Lektüre empfohlen zur Vermeidung unproduktiver Arroganz, dem interessierten Laien zur Ermunterung, seine Ideen kreativ zu entwickeln, selbstbewußt vorzutragen und sich in den wissenschaftlichen Diskurs einzumischen, beiden zur Anregung, die Vision einer Wissenschaftlichkeit zu entwerfen, die sich, gegen ökonomische Zwänge und lobbyistische Drangsalierung, bewußt eines neuen Dilettantismus bedient.

Bis 2025 werden 2/3 der Menschheit von akutem Wassermangel bedroht sein, prognostizierte anläßlich des Tages des Wassers ein Spiegel Spezial, das am 11.09.2010 bei Vox ausgestrahlt wurde. Das ist nur eins der Probleme, mit denen die Menschheit global konfrontiert ist, drängender und existentieller denn je. "Unsere Gesellschaft", kommentierte der Metereologe Karsten Schwanke in diesem Zusammenhang, "kam immer durch Spinner voran, Menschen, die frei denken und in der Lage sind, Utopien zu entwickeln." Das ist das eigentliche Feld des Dilettanten, der in Hingebung, mit Leidenschaft und von keiner methodischen Disziplin begrenzt, seinen Theorien oder auch Fantasien freien Lauf lassen kann. "Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann." (Max Weber)

17. September 2010


Uwe Wirth, Safia Azzouni (Hrsg.)
Dilettantismus als Beruf
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2010
Kaleidogramme Bd.43
broschiert, 222 Seiten, 22,50 Euro
ISBN: 978-3-86599-080-8