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REZENSION/578: Hannes Hofbauer - Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung (SB)


Hannes Hofbauer


Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung

Rechtsprechung als politisches Instrument



In der breiten Kommentierung des zwischen den Regierungen Frankreichs und der Türkei hin und herwogenden Streits um die Anerkennung respektive Leugnung des Genozids an den Armeniern klafft eine große Lücke. Kaum jemand scheint an der Erörterung der Frage interessiert zu sein, wieso überhaupt die Erforschung und Bewertung historischer Ereignisse mit strafrechtlichen Mitteln reguliert werden muß. Zwar gibt es mit den diversen Gesetzen, die die Leugnung des Holocausts an den europäischen Juden unter Strafe stellen, einen Präzedenzfall für diese Praxis. Doch stand diese Strafvorschrift - nicht zuletzt aufgrund der schieren Monstrosität dieser industriellen Massenvernichtung - jahrzehntelang allein auf weiter Flur, ohne daß andere Fälle genozidaler Massenvernichtung einen ähnlichen Schutzstatus erlangt hätten.

Unter dem Titel "Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung" hat sich nun der österreichische Publizist und Historiker Hannes Hofbauer der Frage angenommen, auf welche Abwege die Verrechtlichung historischer Ereignisse geraten kann, wenn sie der naheliegenden politischen Instrumentalisierung zum Opfer fällt. Wie das Beispiel des in den letzten sechs Wochen von der Nationalversammlung und dem Senat in Paris verabschiedeten Gesetzes zur Leugnung oder öffentlichen Infragestellung eines richterlich anerkannten Völkermords und die spiegelbildliche strafrechtliche Verfolgung von Personen, die die Anerkennung des Genozids an den Armeniern in der Türkei fordern, belegen, können geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse nur bedingt darüber Auskunft geben, wer auf beiden Seiten nun im ganz profanen Sinne "recht" hat.

Nicht nur im Fall der Ermordung von geschätzten 1,2 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich 1915, sondern etwa auch im Fall des Massakers von Srebrenicas arbeiten sich zahlreiche Experten daran ab, die Einstufung der jeweiligen Taten als Völkermord zu bestätigen oder zu bestreiten. Selbst wenn in beiden Fällen eine Mehrheit der internationalen Geschichtswissenschaftler dazu neigt, den Sachverhalt eines Völkermords zu attestieren, wäre es ein Akt doktrinärer Ermächtigung, in Anbetracht der involvierten Interessen und unvollständig aufgeklärten Faktenlage die eine historische Wahrheit zu dekretieren. Zu viele politische Interessen sind im Spiel, als daß es nur mehr um eine zwischen Fachwissenschaftlern verhandelte Frage ginge. Anstatt die jeweils geltend gemachten Argumente nach bestem Wissen und Gewissen - etwa durch den Einsatz von Historikerkommissionen, deren paritätische Aufteilung in zur jeweils der einen oder anderen Version neigende Experten und die großzügige wie vorbehaltlose Alimentation mit der Forschung auf diesem Gebiet befaßter Institute - zu falsifizieren und verifizieren, wird mit erheblichem Druck auf politischer Ebene versucht, die vorhandenen Ergebnisse durch die Androhung strafrechtlicher Konsequenzen in den Stand unumstößlicher Wahrheiten zu versetzen.

Während Hofbauer dem Nachweis der Kontingenz geschichtswissenschaftlicher Produktivität anhand dieser beiden Beispiele sowie weiterer historischer Völkermorde breiten Raum gibt, geht es ihm bei der Analyse des rechtsförmigen Charakters politischer Intervention nicht darum, für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen oder gar brutale Gewalttaten zu rechtfertigen: "Jede Provokation braucht mehr als den Provozierten, und kein Massaker, wie immer es zustandekam, ist durch die Vorgeschichte, sei sie auch noch so verwerflich, entschuldbar" (S. 138). Hofbauer weiß, daß er mit diesen Themen Streitfelder betritt, auf denen sich die Anhänger der einen oder anderen Wahrheit nicht selten in unversöhnlicher Feindseligkeit gegenüberstehen, und erteilt daher jeder revanchistischen Eskalationslogik eine Absage. Auch wenn er im Fall des Massakers von Srebrenica valide Argumente Revue passieren läßt, die nahelegen, daß es sich bei den Kritikern, die die Einnahme der bosnischen Stadt durch die bosnisch-serbische Armee 1995 nicht als genozidales Fanal verstehen wollen, nicht um fanatische Völkermordleugner handelt, so geht es ihm nicht um Rechtfertigung, sondern ein Plädoyer für freie, nicht zur Geisel politischer Interessen genommene Forschung.

Hofbauer treibt die Sorge um, daß die geschichtspolitische Aufladung gewaltsam ausgetragener Konflikte und ihre juristische Kodifizierung weit mehr Schaden anrichten, als es vereinzelte Leugner genozidaler Verbrechen je tun könnten. Es droht nicht nur die Einschränkung der Freiheit von Forschung und Lehre in vom Ungeist doktrinärer Verbote betroffenen Geistes- und Sozialwissenschaften, am Horizont EU-europäischer Gesetzgebung scheint ein hegemoniale Interessen verstärkendes Regime offiziell verordneter - und damit verwerfliche Lügen produzierender - Wahrheiten auf:

"Die in Leugnungsverbote verpackten Gesinnungsparagrafen wären ohne die politisch und medial verbreitete Antiterror-Hysterie nicht denkbar. Über den dabei entstandenen Verlust von Bürgerrechten ist viel geschrieben worden. Die Kriminalisierung von Meinung, mit der sich das vorliegende Buch beschäftigt, geht einen Schritt weiter: Sie bedroht politische Debatten und wissenschaftliche Forschung, hegemonisiert kollektive Erinnerung, verrechtlicht historische Ereignisse und tabuisiert Begrifflichkeiten (z. B. 'Völkermord')."
(S. 263)

Ein naheliegender Nutzen dieser Form von Geschichtspolitik besteht in der Legitimation illegaler Aggressionsakte. So wurde der völkerrechtswidrige Überfall der NATO auf Jugoslawien nicht nur mit einem angeblich in der serbischen Provinz Kosovo verübten Völkermord begründet, den faktisch zu beweisen die Aggressoren niemals in der Lage waren. Auch wurde das Verbrechen, dasß Deutschland an den europäischen Juden beging, über ein auf den Kopf gestelltes "Niemals wieder" zur Rechtfertigung dafür herangezogen, eine von der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg schwer in Mitleidenschaft gezogene Bevölkerung erneut mit Krieg zu überziehen.

Während das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag bis heute daran arbeitet, diesen Rechtsbruch der NATO durch den Nachweis von der serbischen Regierung in Bosnien respektive der jugoslawischen Regierung in Belgrad zu verantwortender Kriegsverbrechen zu legitimieren, hat es gegen die Militärallianz trotz vorliegender Klageersuchen noch nicht einmal ermittelt. Da die Bewertung in internationalen wie nichtinternationalen Konflikten verübter Genozide maßgeblich von Rechtsinstitutionen wie dem Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) vollzogen wird, stärkt die Praxis der Rechtsprechung beim ICTY, dessen Vorbild bei der Etablierung des ICC Pate stand, das Vertrauen in die Neutralität einer solchen Rechtsinstanz wohl kaum.

Hofbauer widmet sich aus gutem Grund den Bedingungen und Normen, unter denen ein Genozid völkerrechtlich bestimmt wird, in aller Ausführlichkeit. Auch das jüngst verabschiedete französische Gesetz gegen die Leugnung genozidaler Verbrechen kann nur auf Fälle angewendet werden, in denen dieser Sachverhalt in einem rechtsgültigen Verfahren bestätigt wurde. Wenn Gerichten die Aufgabe erteilt wird, in wissenschaftlich möglicherweise nach Jahrzehnten kontroverser Debatten immer noch umstrittenen Fällen darüber zu entscheiden, ob es sich um einen Völkermord handelt oder nicht, dann nicht deshalb, um einen fachwissenschaftlichen Disput zu beenden, sondern um gesellschaftliche Akteure offiziell in Gesinnungstäter und Sachwalter der historischen Wahrheit auseinanderzudividieren. So fällt die Verrechtlichung historischer Erkenntnisse im Feld sozialer Antagonismen, die eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem herrschenden Gewaltverhältnis erforderten und deren Ausbleiben dementsprechend irrationale Blüten treibt, mit der Mimikry zweckdienlicher Herrschaftslegitimation in eins.

Wie etwa der gescheiterte Versuch der rot-grünen Bundesregierung verrät, Aussagen zu den jugoslawischen Sezessionskriegen zu kriminalisieren, die der von ihr zur Rechtfertigung der Beteiligung der Bundeswehr am Jugoslawienkrieg vertretenen Sicht diametral widersprachen, kann sich die dabei zutage tretende Zweckrationalität keineswegs wissenschaftlicher Objektivität rühmen. Hofbauer bietet eine Fülle von Beispielen und Argumenten auf, anhand derer der instrumentelle Charakter geschichtspolitischer Strafnormen belegt und in seiner machtpolitischen Verwendung dokumentiert wird. Man braucht die aus der Geschichte imperialistischer Kriege bekannte Erkenntnis, daß diese von den Siegern geschrieben wird, nicht erst zu bemühen, um zu verstehen, daß das Erlangen von Deutungshoheit immanenter Bestandteil des Strebens nach Hegemonie in Staat und Gesellschaft ist. In einem Zeitalter, in dem die PR-technische Flankierung staatlicher Durchsetzungskraft immer perfekter inszeniert wird, wird die massenmediale Konsensproduktion den Manipulationen der Spin Doctors nicht minder als den Legalismen der Juristen in Ministerialbürokratie und Rechtspflege überlassen.

Im Mittelpunkt der Kritik Hofbauers an den daraus resultierenden Praktiken der Gesinnungsjustiz steht denn auch ein Rahmenbeschluß des Europäischen Rats vom 28. November 2008, der das Leugnen eines Völkermords, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, so die jeweilige Tat von einem internationalen Gericht als solche bewertet wurde, in den Stand einer fremdenfeindlichen oder rassistischen Straftat erhebt. Laut dem von den 27 EU-Mitgliedstaaten innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht zu implementierenden Rahmenbeschluß wird eine Freiheitsstrafe zwischen ein und drei Jahre fällig, wenn ein per Urteil eines internationalen Gerichts bestätigter Bruch des Völkerrechts öffentlich gebilligt, geleugnet oder auf gröbliche Weise verharmlost wird. Für den Fall, daß Dritte wie etwa ein Medienunternehmen derartige Straftaten unterstützen, in dem sie ihren Urhebern Raum zur Veröffentlichung ihrer Behauptungen geben, sind Sanktionen wie Geldstrafen oder gar die Schließung des Unternehmens vorgesehen. Das gilt auch für Hochschulen, die Forschungsprojekte zulassen, die auf eine solche Straftat hinauslaufen könnten.

Die Konsequenzen nicht nur für die wissenschaftliche Erforschung, sondern auch den politischen Diskurs um bereits erfolgte wie noch bevorstehende Bürger- und Staatenkriege einer solchen Gesetzgebung liegen auf der Hand. Mit ihr wird dort, wo sich der Historiker auf riskantes Terrain begibt und der Disput unter Aktivisten entbrennt, Ordnung im Sinne der Herrschenden geschaffen. Debattiert und gestritten wird immer dann, wenn verschiedene Sichtweisen aufeinanderprallen. Ob sich die Kontrahenten einigen oder nicht, ist für die Autonomie des einzelnen Subjekts im demokratischen Gemeinwesens nicht von Belang, so fern sich alle Beteiligten daran halten, ausschließlich mit den Waffen des Intellekts zu Felde zu ziehen. Werden jedoch bestimmte Positionen von vornherein dem Risiko ausgesetzt, schwerwiegende Folgen zu zeitigen, wenn man an ihnen festhält oder sie publik macht, dann verzerrt das den Charakter demokratischer Streitkultur grundlegend.

Wenn bestimmte Positionen durch ein Publikationsverbot unterdrückt werden und dies mit der Androhung des Freiheitsentzugs einhergeht, dann wird der öffentliche Diskurs weit im Vorfeld seines Zustandekommens schon durch die damit ausgesprochenen Denkverbote eingeschränkt. In diesem Sinne handelt es sich bei der strafrechtlichen Regulation des historischen Gedächtnisses auch um eine Form der präventiven Unterbindung bestimmter Debatten. Indem Hofbauer am Ende des Buches einen juristischen Exkurs in die Verschiebung der Strafverfolgung vom Tatstrafrecht zum Feindstrafrecht unternimmt und den Zusammenhang von Verrechtlichung und Entpolitisierung diskutiert, stellt er diese legislative Entwicklung in den größeren Zusammenhang einer politischen Repression, die zudem in mehreren EU-Staaten die Strafbarkeit der Leugnung kommunistischer Verbrechen hervorgebracht hat.

Daß sich die Fidesz, Regierungspartei in einem Ungarn, dessen politisches System immer deutlicher Züge eines präfaschistischen Regimes annimmt, zum Vorreiter einer antikommunistischen Gesinnungsjustiz gemacht hat, paßt ins Bild der mit großen Schritten in autokratische Machtverhältnisse marschierende EU. Man gab sich fortschrittlich, indem man ein von der sozialliberalen Vorgängerregierung auf die Bahn gebrachtes Gesetz gegen die Leugnung des Holocaust, dessen Verabschiedung sich die Fidesz-Parlamentarier fast geschlossen enthielten, mit einem antikommunistischen Appendix ergänzte. Dieses Vorgehen entspricht dem der EU, das emanzipatorische Ansinnen des Antirassismus für die Durchsetzung eines Gesinnungsstrafrechts zu nutzen, das im Zweifelsfall neuen Haß sät, anstatt virulente Konflikte zugewandt und einvernehmlich zu lösen.

Vor allem jedoch armiert die sanktionierende Verrechtlichung der historischen Forschung die Hegemonie von Staat und Kapital mit Sprach- und Denkverboten, die die politische Selbstbestimmung der einzelnen und - im Sinne ihrer auch darüber vorangetriebenen Spaltbarkeit - vereinzelten Menschen negiert. Hannes Hofbauer schildert im Nachwort, wieso erste Bedenken, dieser Entwicklung eine eigene Publikation zu widmen, in die Gewißheit umschlugen, "dass die Kriminalisierung von Meinung, in welche Richtung diese auch immer gehen mochte, Teil einer durchaus gewollten restriktiven Kulturpolitik ist, und zwar einer Kulturpolitik, die einer zunehmend jeder demokratischen Kontrolle entzogenen imperialistischen Militär- und kapitalistischen Wirtschaftsmaschine zur Seite steht. Sie hat sich gesellschaftliche Konsensbildung zur Aufgabe gemacht, so weit dies in mehr und mehr entpolitisierten Verhältnissen überhaupt noch notwendig ist. Deshalb verstecken sich die neuen Meinungsparagrafen hinter Beschlüssen zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, um nach allgemeiner Akzeptanz zu heischen. Wer will schon in die Nähe eines Rassisten oder Ausländerfeinds gestellt werden? Oder noch schlimmer: Wer kann sich erlauben, mit Holocaustleugnern in einem Atemzug genannt zu werden? Die kulturpolitischen Strategen der Europäischen Union rechnen damit, dass die Rassismus- und Antisemitismuskeulen schwergewichtig genug sind, um Fragen nach der Sinnhaftigkeit von Erinnerungs- und Meinungsgesetzen hintanzuhalten. Doch genau ein solches Nachfragen tut not." (S. 262)

Der österreichische Historiker, Autor und Verleger hat ein wichtiges Buch geschrieben, denn es übt Kritik an einer Entwicklung von fataler Eigendynamik. Greift die Sanktionierung des Denkens und Sprechens erst einmal Raum, dann wirkt die ohnehin immer geringer werdende Bereitschaft, drängende gesellschaftliche Widersprüche zu hinterfragen und die daran geübte Kritik zu streitbaren Positionen auszubauen, selbst wie eine Bedrohung jenes Restes an Autonomie, die zu bewahren den kapitalistisch vergesellschafteten Menschen immer teurer zu stehen kommt. Gerade weil das häufig ohne Not aus bloßer Anpassungslogik preisgegebene Terrain an Freiheit und Selbstbestimmung mit anwachsender, nun allerdings durch konkrete Zwänge bewehrte Angst besetzt wird, ist es erforderlich, das kritische, die Imperative der Herrschaft in Frage stellende und überschreitende Denken und Sprechen wiederzuentdecken und weiterzuentwickeln.

Fußnote:

Historiker gegen Erinnerungsgesetze siehe:
Liberté pour l'histoire
http://www.lph-asso.fr/

Hannes Hofbauer
Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung
Rechtsprechung als politisches Instrument
Promedia, Wien 2011
264 Seiten, 17,90 Euro
ISBN 978-3-85371-329-7


8. Februar 2012