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REZENSION/590: Wolf-Dieter Narr - Trotzdem Menschenrechte! (SB)


Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.)


Wolf-Dieter Narr zusammen mit Dirk Vogelskamp

Trotzdem: Menschenrechte!



Versuch, uns und anderen nach nationalsozialistischer Herrschaft Menschenrechte zu erklären

Immer schon galt es als eine besondere Herausforderung, wenn Philosophen, Religionsstifter oder Rechtsgelehrte sich der Aufgabe stellten, das am Menschen zu bestimmen, was ihn letzten Endes vom Tier unterscheidet und zugleich mit allen Menschen unabhängig von Sprache, Kultur und Ethik verbindet. Das menschliche Wesen aus den tobenden Wirklichkeiten und Wandlungen gesellschaftlichen Daseins herauszudestillieren und greifbar zu machen ist Voraussetzung jeder Geschichtsschreibung. Von den Dämmerungen der Zeit bis auf den heutigen Tag hat diese Frage Gelehrte wie einfache Gemüter in den unterschiedlichsten Gesellschaften und Kulturen zutiefst bewegt und nicht minder verwirrt. Auf welches Vermächtnis blickt der Mensch in seinem Erkenntnisdrang zurück, wenn nicht auf eine lange Tradition von Krieg, Unterwerfung und Blutvergießen, schlimmsten Exzessen feudaler Herrschaft und massenindustrieller Ausbeutung?

Wie ist es vor diesem Hintergrund mit der vielgepriesenen Humanität und explizit den Menschenrechten bestellt? Sind sie ein notwendiges Bollwerk gegen den zerstörerischen Trieb im Menschen, im anderen stets den Freßfeind und Überlebenskonkurrenten zu sehen, oder stellen sie lediglich ein geschliffenes Herrschaftsinstrument inhumaner Rechtswillkür dar?

Wolf-Dieter Narr, langjähriges und engagiertes Mitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie e.V., hat sich dieser Frage von zeitloser Aktualität in dem zusammen mit Dirk Vogelskamp verfaßten Buch "Trotzdem: Menschenrechte!" mit großer Leidenschaft gewidmet. In acht Kapiteln und diversen Abschnitten versucht der Autor aufzuzeigen, welch fundamentaler Irrweg mit den Menschenrechten sowohl in geschichtlicher als auch anthropologischer Hinsicht beschritten wurde. Narr geht dabei auf gegenwärtige Fehlentwicklungen ebenso ein, wie er das NS-Regime und die Todeslager kritisch in seine Analyse einbindet, was sich auch im Untertitel des Buches "Versuch, uns und anderen nach nationalsozialistischer Herrschaft Menschenrechte zu erklären" widerspiegelt.

Wolf-Dieter Narr hat dabei die Cleverness besessen, sein unter Mitarbeit von Dirk Vogelskamp entstandenes Werk im Vorwort als Elaborat zu bezeichnen, als eine nach beiden Seiten offene, unfertige Ausarbeitung, ohne jedoch den bislang uneingelösten Nutzen in der Idee der Menschenrechte preiszugeben. Indem er kein wissenschaftliches Traktat vorzulegen behauptet, hat er sich Freiräume des Forschens geschaffen, statt, wie es leider oft geschieht, bequeme Antworten an konventionelle Leitbilder und liberal-positivistische Ideale zu adressieren. Vor allem hebt er hervor, daß es ihm bei diesem höchst ergiebigen Thema und Diskurs eben nicht um eine juristische Fingerübung oder kunstfertige Expertise über allgemein sittliche Handlungsmaxime ging.

Das enthebt ihn der Verpflichtung, Fragen im Sinne einer Staatsräson oder kulturphilosophischen Referenzierung zu stellen. Daß im Namen der Menschenrechte Blut vergossen wird, gar Kriege geführt und geostrategische Interessen bemäntelt werden, markiert nicht erst seit dem Überfall auf Jugoslawien, der Eroberung des Iraks sowie den Interventionen in Afghanistan und Libyen einen Fundamentalwiderspruch im bunten Bühnenbild der Menschenrechte. Die Welt ist seit der Proklamation der Menschenrechte nicht friedlicher geworden, ganz im Gegenteil hat der autokratische Charakter dieser an Gesetzestafeln erinnernden politischen Bevormundung mitgeholfen, kriegerische Handlungen in den Glorienschein selbstloser Friedensmissionen zu stellen. Narr bezeichnet die Menschenrechte so denn auch bereits im Vorwort als "ein Gespinst aus Rationalisierungen, Instrumentalisierungen und Lügen". (S.14) Wie aber läßt sich das Kulturgut der Menschenrechte als Leitfaden für das persönliche Handeln vom herrschaftskonsensualen Monotheismus der Macht befreien und auf den Kern legitimer, freilich in der Willkür der Zivilisationsgeschichte stets verletzter Ansprüche zurückführen, wenn es durch die Jahrhunderte des Mißbrauchs sein menschliches Antlitz längst verloren hat?

"Keine Ariadne steht bereit, keine mythische Kennerin des Herrschafts- und Täuschungslabyrinths zahlreicher Ebenen, voll des Menschengetümmels, hin zu Wegen ins Freie zu geleiten." (S.14) Narrs Redefiguren und Sprachbilder sind zuweilen gewöhnungsbedürftig, dies nicht nur, weil sie eben nicht zur stereotypen Konsensbildung auf dem publizistischen Markt beitragen wollen, sondern im Flug aufklärungswilliger Fragen notwendig an Grenzen stoßen müssen, um das zur Festung ausgebaute Tabu des Unausgesprochenen aufzusprengen. Assoziative Formen und Motive des geschriebenen Worts können von Nutzen sein, den eigenen Standpunkt im Dickicht gesellschaftlicher Deutungsmacht und interessenbezogener Sprachregulierungen nicht zu verlieren. Narr gelingt dies auf gewitzte Weise, indem er eine eigene Syntax entwirft aus zum Teil altertümlichen Fragmenten wie auch symbolhaften Neuschöpfungen und so eine Sprache kreiert, die auf dem ersten Eindruck möglicherweise elaboriert erscheint und es wohl stellenweise auch ist, aber dennoch Luft für neue Gedankengänge und Infragestellungen läßt.

Schon sein Ansatz verrät, daß er weniger an einer akademischen Klärung des Menschenrechtsbegriffs interessiert ist als vielmehr an den Bedingungen seiner Entstehungsgeschichte. So faßt er die Menschenrechte als Kapseln auf, in denen menschliche Bedürfnisse und Strebungen eingefangen sind. Was in eine Rechtsformel gebannt herrschaftsförmigen Interessen unterworfen ist, muß von den inneren Beweggründen und Lebensäußerungen der Menschen in ihren jeweiligen Zeiträumen getrennt gedacht werden. "Menschenrechte kanonisch zu verstehen, zerstörte ihre freiheitliche, ihre gestalterische Qualität: kollektiv und individuell." (S. 15f)

Während Menschenrechte Gesellschaften konstituieren und regulieren, erfahren sich die Menschen in den Alltäglichkeiten ihrer materiellen, physischen und sozialen Bedingungen selbst als eine von staatlichen Sachzwängen drangsalierte Existenzform. So fragt denn Narr folgerichtig: "Was geht im abgehobenen Ausdruck 'Mensch' an Besonderheiten verlustig? Umgekehrt, welche Besonderheiten müssten in ihm aufgehoben werden?" (S.19)

Ein allgemeines Menschenrecht ist nach Auffassung des Autors schon aufgrund seines hohen Abstraktionsgehalts strikt abzulehnen, auch deshalb, weil es angesichts der Vielfältigkeit der Charaktere und Lebensziele nie einen allgemeingültigen oder standardisierten Menschen gegeben hat. Wohl sind im Zuge der Zivilisationen vom frühen Anbeginn an Normierungen geschaffen worden - Narr gibt als Beispiel den mythologisierten Prokrustes an, der alle Wanderer, derer er habhaft werden konnte, auf einem geeichten Bett auf die entsprechenden Maße brachte, indem er ihnen entweder die Beine kürzte oder sie streckte -, aber sie stellen gegenüber dem lebensgeschichtlichen Eigenwuchs jedes einzelnen Menschen und seiner Kulturzugehörigkeit immer Repressionsmaßnahmen dar, die als übergeordnete Fremdinteressen wahrgenommen werden und ihn auch in seinem kollektiven Selbstverständnis in eine obrigkeitsverfügte Klammer zwingen. Ist diese Gewalt erst einmal monopolisiert und sozioinstitutionell abgesichert, wird die Selbstbestimmung des Menschen zur Farce aller aus dem Menschenrecht abgeleiteten Persönlichkeitsrechte.

Die Menschenrechte moderner Prägung haben ihre Wiege im europäisch-angelsächischen Raum, und so sind nicht-westliche Völkerschaften afrikanischer, asiatischer, orientalischer und indigener Herkunft darin weder eingeschlossen noch berücksichtigt. Daher gelte es, die "Menschenrechte allen imperialen Ansprüchen entgegen" (S.20) neu zu bedenken, zumal das Recht als staatsgesetzte Norm durch das Monopol legitimer physischer Gewalt aufoktroyiert wird und jede Form staatlichen Eingriffs daher nichts anderes als die Qualifizierung eines Unrechts darstellt.

Gerade gegen diese Staatsgewalt wurden laut dem Autor die frühen Menschen- und Bürgerrechte konzipiert. So verstanden die Aufklärer der Neuzeit unter Menschenrecht die Garantie vorstaatlicher Rechte, also solcher, die kein Staat gewähren muß, weil sie unabhängig von jeder Herrschafts- und Verwaltungsstruktur allen Menschen zu eigen sind. Vor die Schwierigkeit gestellt, diese freiheitlichen Ansprüche gegenüber einem mächtigen Staatsapparat zu legitimieren, begründeten die Rechtsphilosophen dies mit der Unveräußerlichkeit sogenannter Naturrechte.

So stellt Narr fest, daß die Menschenrechte als Begriff erst im Kontext des modernen Staates formuliert wurden. "Sie besaßen eine staatskritische Ausrichtung als Abwehrrechte des Individuums, das seinen primär ökonomisch und insoweit rational verstandenen Interessen ungehindert und darum frei nachgehen wollte." (S.21) Die liberal-demokratische Verfaßtheit der US-amerikanischen Declaration of Independence vom 4. Juli 1776 hat allerdings lediglich den weißen Besitzbürger in den Stand besonderer Rechte gesetzt, Besitzlose, Frauen, Sklaven und die indigene Bevölkerung des Landes davon jedoch ausgenommen. Narr zufolge wurde die im besitzbürgerlichen Sinne reformierte Auslegung des Rechts staatspolitisch instrumentalisiert, und so sei es nicht weiter verwunderlich, daß Bürgergesellschaften eine notwendige Voraussetzung für das Aufkommen und Gedeihen kapitalistischer Produktionsverhältnisse waren. Wo allerdings zur Begründung der Menschenrechte von Naturrechten gesprochen wird, ist "ihre Eigenart und ihr gemäßes Verhalten von einer meist nicht aufgedeckten gesellschaftlichen Perspektive, ihren Prämissen und ihren Interessen bestimmt". (S.25)

In der Epoche der bürgerlichen Aufklärung hat sich auch die Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution, in der sich vor allem der Bürgerstand gegenüber dem Adel politisch emanzipierte, eines säkularen Naturrechts bedient. Einer ihrer Vordenker, der Schriftsteller, Philosoph und Naturforscher Jean-Jacques Rousseau, hat den Liberalismus seiner Zeit im ersten Satz seines Werks "Du contrat social ou principes du droit politique" treffend eingefangen: "Der Mensch ist frei geboren, aber er lebt in Ketten..." Die Freiheit, solcherart heraufbeschworen, war jedoch streng an das Eigentum gekoppelt. "Die Freiheit wurde nicht primär politisch als Mitbestimmung begriffen. Sie war vor allem die Freiheit, zu besitzen und den Besitz zu mehren." (S.26)

Der Hauptzweck der vom aufstrebenden Bürgerstand in eine neue Staatsform überführten Ökonomie zielte insbesondere darauf, freigesetztes Arbeitspotential in neofeudale Formen der Produktivität einzubinden und dies staatlicherseits durch einen merkantilistischen Außenhandel abzusichern. Dies erreichte das zu Reichtum gelangte Bürgertum dadurch, daß die Zollhoheit in den Händen mächtiger Adelsfamilien gebrochen wurde. Narr kritisiert daher, daß die frühen Demokratien, die durch die Auflösung der Feudalstaaten entstanden, "von vornherein repräsentativ gezähmt" (S.26) wurden. "Die Ungleichheit in Herrschafts- und/oder Besitzklassen ist in den Strukturen und Funktionen der Gesellschaft zuerst feudal-absolutistisch, danach liberal-kapitalistisch vorgegeben." (S.26) Der Wechsel vom Status zum Kontrakt, wie er sich in der Theorie des Rousseauschen Verfassungsvertrags äußert, hat die ökonomisch-soziale Ungleichheit nicht aufgehoben, sondern vertieft und nach Gesetzeskraft kodifiziert. "Vor allem zwei tief eingegrabene gesellschaftliche Ungleichheiten sind zu nennen: zum einen die soziale Ungleichheit zwischen Armen und Reichen und zum anderen, in teilweiser Überschneidung, die Differenz zwischen Männern und Frauen" (S.27) wurden durch neutral wirkende Begrifflichkeiten wie Vertrag, Recht, Individuum, Zivilgesellschaft, Gleichheit, Emanzipation in neue Herrschaftsformen gegossen.

Das Ende der feudalen Beschränkungen war nach Ansicht des Autors daher bloß ein Übergang in neue Verfügbarkeiten im Ritus von Befehl und Gehorsam. Historisch gewachsene Strukturen der Familie, Sippe oder Zunft, obschon in sich widersprüchlich, so doch Reste eines Zusammenhalts gegen patriarchale und feudale Machtbefugnisse repräsentierend, wurden aufgebrochen und durch eine Individualisierung des Rechts ersetzt. Damit ging für den Menschen eine zunehmende Spaltung und soziale Unterordnung unter den Primat des Eigentums einher. Das befeuerte die Konkurrenzverhältnisse schon deshalb, weil der seines Landes enteignete und von der Subsistenzwirtschaft zur bloßen Lohnarbeit entmündigte Mensch sich folgenreicher als je zuvor in den Fabrikhallen zur fremdverfügten Arbeitsleistung an der Maschine einfinden mußte. Die Freiheit, die ihm in seiner neuen Vergesellschaftung als Industrieproletariat zugeschrieben wurde, trat als soziale Entfremdung von den ureigensten Lebensinteressen, letztlich als völlige Vereinzelung und Anonymisierung unter der Produktionsgewalt des Kapitals in Erscheinung.

"Das, was wir heute Individuum nennen, eine vereinzelte Person und gleichursprünglich immer ein soziales 'Wesen', ist mutmaßlich ein eher spätes Produkt gesellschaftlicher Entwicklung. (...) In noch nicht sesshaften, dann in sesshaften Gruppen erster Arbeitsteilungen werden Regeln kund, die Unterschiedlichkeit und Gleichheit signalisieren. Solche Gewohnheiten, ungeschriebene Gesetze, Bräuche, Sitten, richten sich zuerst an geschlechts- und herkunftsspezifischen 'Linien' aus. Sie sind teilweise darauf angelegt, keine 'strukturellen' Unterschiede im Sinne früher Besitz- und Herrschaftsmittelakkumulation auskristallisieren zu lassen." (S.31f)

Narr weist ferner darauf hin, daß die ökonomischen, politischen und kulturellen Produktionsverhältnisse seit dem späten Mittelalter "in ihren 'traditionalen' Vorformen kaum geschieden" (S.32) waren. Diese Betrachtung sozio-historischer Prozesse deckt sich in vielen Punkten mit der von Friedrich Engels und Karl Marx verfaßten Kritik der politischen Ökonomie. Narr zieht die Konsequenzen daraus allerdings mehr aus Sicht der Menschenrechte und der sozialen Unterdrückung, dieses Brennstoffes für die revolutionäre Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, die er vornehmlich unter soziologischen Gesichtspunkten bewertet. Dem Autor, der seine politische Herkunft in den Entwürfen eines radikal-demokratischen Humanismus hat, geht es in erster Linie um die Frage der Aufhebung der in jedem repräsentativen Regierungsssystem entufernden Fremdbestimmung des Menschen nach Maßgabe der vorherrschenden Produktionsbedingungen, "weil die 'eigenen' Bedürfnisse der Menschen in erheblichem Maße von den gesellschaftlichen Umständen abhängig sind". (S.203)

Ausgehend davon, daß sich der Bürgerstand als politischer Inbegriff der im Umbruch zum 18. Jahrhundert über alle Nationalgrenzen hinausgreifenden Kapitalinteressen eine Form der Verrechtlichung schuf, die sein Besitzstreben durch einen ungehinderten Wert- und Warentransfer sicherstellte, erkennt Narr, daß die Allgemeinheit, die im Menschenrecht eingefordert wird, insgeheim eine Fülle von Menschen, die nicht gleichberechtigt behandelt werden, ausschließt und die moderne Sozial- und Kolonialgeschichte gleichermaßen "eine Geschichte von Noch-Nicht-Menschen" (S.33) ist. Er präzisiert dies an einer späteren Stelle: "Es gibt nichts Allgemeines, auch keine allgemeinen/universellen Menschenrechte, das nicht die Allgemeinheit von etwas Besonderem, eines besonderen Interesses ist." (S.201)

Indem der Autor "die durchgehende Täuschung individueller Menschenrechte" moniert, attestiert er "das historische Versäumnis, die Menschenrechte durch die kollektiven gesellschaftlichen Umstände zu fundieren". Und weiter heißt es: "Menschenrechte werden gesellschaftlich abstrakt verstanden und behandelt. Darum lassen sie sich umso folgenloser als allgemein oder universell deklarieren. Die sozioökonomischen und die politischen Strukturen und Funktionen werden nicht menschenrechtsgemäß (re-)konstruiert und ausgerichtet." (S.34) Daß die soziale Differenzierung der Arbeitsleistung die Grundlage für jedes Rechts- und Wirtschaftssystem bildet, gesteht Narr durchaus ein, auch wenn er es im Sinne seines Demokratieverständnisse abschwächt.

Die Vergesellschaftung des Menschen unter ein Rechtssystem "aus rudimentären Erfordernissen der Arbeitsteilung, die ihrerseits den gesellschaftlichen Form- und Funktionswandel antrieben", deutet Narr als eine Dynamisierung gesellschaftlicher Ungleichheit, die von einem beliebig interpretierbaren Naturzustand und den daraus "herausgelesenen Fähigkeiten und Funktionsteilungen zwischen Frauen und Männern" auf neuzeitliche Gesellschaftsformationen zurückprojiziert wurde, um die prinzipielle Klassenteilung als soziale Tatsache zu begründen. Dieses Legitimationskonstrukt ist in seinen Augen "historisch anachronistisch" und "nicht akzeptabel". (S.36)

Nicht zufällig wurde dem Individuum im Zuge des aufstrebenden Bürgertums seit dem 17. und 18. Jahrhundert in den Gesellschafts- und Rechtssystemen der Vorrang eingeräumt, stellt es doch im Kontext der Auflösung bis dahin bestehender Lebens- und Organisationsstrukturen das schwächste, von allen Seiten leicht angreifbare Spaltprodukt des Menschen dar. Als verallgemeinerter Mensch ist das Individuum in diesem Sinne geradezu die gesellschaftspolitische Verkörperung der Menschenrechte. Daß sich der ökonomische Wandel und Gezeitenwechsel unter der Prämisse eines erstarkten Bürgertums "von einer primär agrarisch organisierten Gesellschaft mit wenigen städtischen Knoten hin zu einer handels-, bald auch in Produktionsverhältnissen kapitalistisch expansiven Bürgergesellschaft inmitten eines noch vorherrschenden ländlichen Raums" vollzog, markiert den liberal- kapitalistischen Hintergrund der Ausrufung der Menschenrechte. "Der merkantilistisch aktive Staat sollte davon abgehalten werden, in die besitzergreifenden Interessen steuernd zu intervenieren (qua Steuer und mit Hilfe planender Maßnahmen)". Staatliche Herrschaft vorausgesetzt ging es darum, "die Freiheit wirtschaftlichen Tuns und Lassens, kurz: die Anfänge kapitalistischer Ökonomie" verstärkend zu dynamisieren. Die Freiheit im menschenrechtlichen Sinne war "die Freiheit zur Ungleichheit als Befreiung interessenmächtigen Wirtschaftens mit selbstredend ungleicher Profitstruktur." (S.37)

Herrschaftssichernde Ungleichheit steckt Narr zufolge hinter dem allgemeinen menschenrechtlichen Anspruch auf Gleichheit aller Menschen, zumal Freiheit und Unversehrtheit, Ansprüche höchsten Ranges im Katalog der Menschenrechte, historisch an den Besitz gebunden blieben. Als Abstraktum habe das Individuum jedoch seine gemeinschaftliche Verantwortung eingebüßt, weswegen Narr empfiehlt, individuelle und kollektive Menschenrechte miteinander zu verschränken. Da der Mensch keine ontologische Größe sei, aber "die organische Gattung 'Mensch' sich durch eine erhebliche Kontinuität von Bedürfnissen/Interessen und Verhaltensweisen auszeichnet" (S.41), müsse dem Umstand Rechnung getragen werden, daß der Mensch als soziales Wesen ungeachtet aller Verschiedenheit in den zeitlichen und gesellschaftsräumlichen Ausprägungen in einem Punkt mit sich selbst übereinstimmt, nämlich "sich selbst zu bestimmen durch den kollektiven Verbund, in dem man lebt, und als eigene Person innerhalb desselben" (S.47).

Dieses Verständnis eines basisdemokratischen Handelns stellt Narr über jedes kanonische Recht, einschließlich der Menschenrechte, in denen die Selbstbestimmung in einen Fremdzweck übergeht und die eingeforderte Anpassung das Gewaltaufkommen in einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften fördert. Den Krisenfall des Krieges begreift Narr daher als Auswuchs staatszentrierter, repräsentativ-demokratisch legitimierter Macht. Er spricht sich für kommunale Umgangs- und Handlungsformen aus, in denen die Menschenrechte nicht als festgeschriebene unveränderbare Meilensteine ihren Platz finden, sondern nur soweit ins individuelle und kollektive Handeln eingreifen, wie sie "das nie auf Dauer zu stillende menschliche Bedürfnis nach Selbstbestimmung, das allem menschenrechtlichen Verlangen zugrunde liegt und sich in ihm äußert" (S.51), gesellschaftlich umzusetzen vermögen. Ohne aktuellen Bezug auf die Lebensrealitäten der Menschen stünden menschenrechtliche Prinzipien, geboren aus historischen Konflikt- und Interessenslagen, einer Befreiung des Menschen zur Selbstmündigkeit daher immer im Wege.

Nur so läßt sich die Unmündigkeit eines ganzen Volkes erklären, das in einem heillosen Führerkult einem Schreckensregime auf frenetische Weise zugejubelt und dann zu- und weggeschaut hat, als Oppositionelle, pazifistische und kommunistische Widerstandskämpfer von SS-Häschern hingemeuchelt und Millionen Menschen jüdischer Herkunft in Arbeits- und Vernichtungslagern durch Grausamkeiten schier unvorstellbaren Ausmaßes um ihre Menschlichkeit gebracht und dann eliminiert wurden. Das systematische Morden in den Konzentrationslagern in die irrationale Sphäre eines Bösen im Menschen zu rücken, um die Abgründe menschlichen Verhaltens auf diese Weise auszublenden, kann Narr allerdings nicht angelastet werden. Im zweiten Teil seines Buches geht er den Fragen des Genozids auf eine Weise nach, die sich nicht damit zufrieden gibt, lediglich in Täter und Opfer zu differenzieren und darüber den Blick zu verlieren für die historische Disposition sozialer wie rassistischer Selektivität, die im Falle des NS-Staates die hochindustrielle und nach Maßgabe eines ideologischen Rassenwahns effizient durchgeführte NS-Tötungsmaschinerie möglich machte.

Über die Schilderung eigener Erfahrungen als systemkonformer Heranwachsender im NS-Staat und der konflikt- und lektionsreichen Auseinandersetzung mit der sogenannten Tätergeneration in Gestalt seines Vaters - "dass dieser 'eigene' Mensch sich für radikal antihumane und antihumanistische Zwecke eines schließlich wahnwitzigen, bürokratisch exzessiven, Mord produzierenden Apparats hat einspannen (lassen)" (S.114) - sowie Aufzeichnungen und Aufsätze von KZ-Überlebenden als auch Tagebücher von in Lagern und Ghettos ums Leben gekommener Juden nähert sich Narr unweigerlich der Ahnung, daß es keinen kulturellen oder abstammungsrelevanten Unterschied zwischen Tätern und Opfern gibt. Deutsche und Juden waren Bürger des Wilhelminischen Kaiserreiches wie auch der Weimarer Republik. Sie sind bei aller antisemitischen Diskriminierung durch die gleichen Schulen, Schwärmereien und Scharmützel gegangen. Juden haben in gleicher Weise ihren Blutzoll im Ersten Weltkrieg entrichtet und dies noch als patriotischen Beitrag für ihre Heimat hochgehalten, als diese nach 1933 begann, sie auf feindseligste Weise zu dehumanisieren. Hinter dem Stacheldraht der Konzentrationslager offenbarten sich humanistische Zerrbilder in solcher Scheußlichkeit, daß noch in der Rückbesinnung auf die Nächte im KZ die Erinnerungsnarrative verschleiert werden mußten, um den blanken Irrsinn, was Menschen anderen anzutun bereit sind, ertragen zu können.

In der Tyrannei ihrer Machtgefühle verübten die Täter unverzeihliche Verbrechen und ließen es noch an der kleinsten Spur von Menschlichkeit mangeln, wie auch jene Betroffenen ihre eigene Bürde zu tragen haben, die sich unter der erdrückenden Not ihrer Ausweglosigkeit soweit vergaßen, daß sie nicht minder Betroffene zugunsten des eigenen Überlebens schädigten. Zu wissen, daß noch das Opfer an einem anderen zum Täter werden kann, relativiert die Greuel der NS-Schergen und ihrer Handlanger nicht, hilft aber zu verstehen, daß der KZ-Alltag die soziale Praxis der Gegenseitigkeit, die das zivile Zusammenleben der Menschen im kollektiv-sozialen Gesellschaftsverband fundiert, bis auf ihre mörderischsten Ausmaße verschärft hat. Jeder Wegschritt der Zivilisationsgeschichte ging über die Herabsetzung des anderen zum mindergleichen Geschöpf, sei es, daß in Geschlechtern unterschieden, in Rassen aufgetrennt oder in arm und reich abgeglichen wurde. Die Vergleichsparameter sind beliebig, am Ende steht der Unterschied und damit der Vorwand für jede Art von Gewaltanwendung, die in einem Staatswesen mit hierachischen Strukturen notwendig zum organisierten Terror führt.

Auch wenn Narr diese Schlußfolgerung nicht zieht, attestiert er doch: "dass Menschenrechte und Demokratie innig zusammenhängen, ergibt sich historisch fast nur aus Mängeln menschenrechtlicher Praxis und demokratischem Fehlverhalten" (S.224). "Nicht Demokratie, sondern aufgeklärte Eliteherrschaft" (S.217) sei das Ziel der in einem Staatssystem arbeits- und gewaltenteilig konstituierten Vermögens- und Besitzstände, womit sich der Kreis zur Proklamation der Bürger- und Menschenrechte wieder schließt. Narr verurteilt nicht den Menschen an sich, nicht sittliche Verfehlung ist sein Thema und gleichermaßen ist er auch kein verkappter Moralist, vielmehr stellt er sich in der Radikalität seines demokratischen Anspruchs explizit der allesumspannenden Systemfrage, darunter die grundgesetzlichen Lücken ebenso fallen wie die Verschärfungen administrativer Vollmachten beispielsweise in Form des großen Lauschangriffs, der zunehmenden Fragmentierung der informationellen Selbstbestimmung, aber auch der gezielten Unterversorgung der Hartz-IV-Empfänger mit Wohnraum, Lebensmitteln und kultureller Teilhabe.

"Die Praxis der Menschenrechte ist nur radikaldemokratisch möglich" (S.185), lautet denn auch das Credo seiner couragierten Streitschrift, was nichts anderes bedeutet, als die Menschenrechte - wohlgemerkt als Institution supranationaler Interessenvertretungen und kriegführender Konfliktparteien - ersatzlos abzuschaffen. Ohne Seitenhiebe der Polemik, aber doch geleitet vom starken Wunsch, die Abgründe und immanenten Risiken politischer Bevormundung in all ihren gesellschaftlichen und kriegsoperativen Dimensionen aufzudecken, hat es der Autor verstanden, die Frage der Demokratie und Menschenrechte vom Partikularismus neokolonialer, liberal affektierter und pseudohumanistischer Denktraditionen wieder auf das menschliche Grundbedürfnis nach Selbst- und Mitbestimmung und persönlicher als auch kollektiver Gestaltung aller maßgeblichen Lebenszusammenhänge zurückzuführen.

Im gleichen Zuge, wie eine politische oder parlamentarische Repräsentanz, die nicht mit der Stimme aller Menschen spricht, die Differenz immer ums Ganze verletzt und individuell geformte Bedürfnisse stets einer höher organisierten Struktur als Legitimationsvorwand dienen, den Raub an humanen und ökologischen Ressourcen und damit die sozialen und zivilisationsgeschichtlichen Ungleichheiten zu qualifizieren, hat sich die Perspektive einer menschlichen Position immer weiter von ihrer Verwirklichung entfernt. Das Spezifikum Mensch menschenrechtlich zu deklarieren, heißt nichts anderes, als die Potentiale der Zukunftsgestaltung an Interessensvertretungen zu delegieren, die im Sinne eigener Überlebenspreferenzen und auf der Basis ihres ideologischen Rüstzeugs im Kern korrupt sein müssen, also gegen die elementaren Lebensinteressen der Menschen verstoßen. Als Wolf-Dieter Narr seinem Werk den Titel "Trotzdem: Menschenrechte!" gab, huldigte er damit nicht zuguterletzt einem demokratischen Verfassungsstaat, in dem die Politik privatisiert und das Recht der präventiven Sicherung des Wirtschaftsstandorts verpflichtet ist. Was als Menschenrecht bis auf den heutigen Tag fehlgeleiteten Pfaden folgte, muß, so könnte wohl die Kernaussage Narrs lauten, auf seinen unveräußerlichen Grundsatz zurückgeführt werden: den ungeteilten Menschen.

8. August 2012


Wolf-Dieter Narr zusammen mit Dirk Vogelskamp
Trotzdem: Menschenrechte!
Versuch, uns und anderen nach nationalsozialistischer Herrschaft Menschenrechte
zu erklären
Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.), Köln 2012
S. 292; 18,- Euro
ISBN 978-3-88906-137-9