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REZENSION/632: Marc Thörner - Ein sanfter Putsch (Antiterrorkrieg) (SB)


Marc Thörner


Ein sanfter Putsch

Wie Militärs Politik machen



An Widersprüchen ist die westliche Politik gegenüber den Ländern der islamischen Welt nicht zu überbieten. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 haben die USA und ihre NATO-Partner Afghanistan angegriffen, besetzt, die Regierung gestürzt und eine neue eingesetzt. Saudi-Arabien, aus dem 17 der 19 mutmaßlichen Flugzeugentführer stammten und dessen Führung das Komplott zum Teil finanzierte - siehe die nachgewiesenen Geldzuwendungen von Prinzessin Haifa, Gattin des damaligen saudischen Botschafters in Washington, Prinz Bandar bin Sultan, für die beiden Al-Kaida-Mitglieder Nawas Al Hasmi und Chalid Al Midhar während ihres Aufenthalts in Kalifornien im Vorfeld von 9/11 -, blieb verschont. 2002 behauptete der deutsche Verteidigungsminister Peter Struck, die "Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland" würde "auch am Hindukusch verteidigt" werden. Obwohl die Taliban auf dem Schlachtfeld unbesiegt sind und weite Teile Afghanistans wieder unter ihrer Kontrolle haben, wollen die Nordatlantiker bis Ende 2014 ihre letzten Kampftruppen aus dem zerstörten Land abziehen. Soll dann die Sicherheit Deutschlands und der NATO nicht mehr am Hindukusch verteidigt werden, obwohl sich Aiman Al Zawahiri, Osama Bin Ladens Nachfolger als Al-Kaida-Chef, immer noch im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aufhält? Ging es vielleicht von vornherein gar nicht darum? Haben die Taliban und ihre paschtunischen Stammesverbündeten die NATO, die sich rühmt, die stärkste Militärallianz in der Menschheitsgeschichte zu sein, etwa besiegt?

Inzwischen soll es in der Region zwischen Atlas-Gebirge und Arabischem Meer eine noch größere Bedrohung für die westliche Zivilisation als Al-Kaida geben. Die sunnitisch-salafistischen Milizen, welche seit drei Jahren vornehmlich die USA, Saudi-Arabien, Katar und die Türkei finanziell, logistisch und waffentechnisch in der Hoffnung unterstützen, daß sie das "Regime" Baschar Al Assads in Damaskus stürzen, sind zum Islamischen Staat (IS) mutiert und haben in dem von ihnen kontrollierten Gebiet, etwa der Osthälfte Syriens und dem Nordwesten des Iraks, das Kalifat ausgerufen. Dort herrscht nun die schlimmste Auslegung des Schariagesetzes. Nicht-Muslime werden vertrieben oder getötet, gefangene irakische und syrische Soldaten hingerichtet und die Bilder ihrer verstümmelten Leichen im Internet veröffentlicht. Vor wenigen Tagen hat der IS die Aufnahme der Enthauptung des amerikanischen Journalisten James Foley ins Internet gestellt.

Die Gewalttat, die als explizite Warnung an die Adresse Washingtons sowie als Vergeltung für die Entscheidung Barack Obamas gedacht war, zwei Wochen zuvor der US-Luftwaffe den Befehl zum Angriff auf IS-Stellungen zwecks Unterstützung der irakischen Kurden und der Zentralregierung in Bagdad erteilt zu haben, hat hohe Wellen geschlagen. Obama hat den IS als ein zu beseitigendes "Krebsgeschwür" bezeichnet, Pentagonchef Chuck Hagel sprach gar von einer akuten Bedrohung der nationalen Sicherheit Amerikas. Weil der maskierte Henker Foleys in dem Videomitschnitt mit Cockney-Akzent spricht, unterbrach Großbritanniens Premierminister David Cameron in demonstrativer Reaktion auf die Veröffentlichung seine Sommerferien und begab sich eiligst in die Downing Street 10, um dort eine Krisensitzung des Sicherheitskabinetts zu leiten. Inzwischen schreit die Boulevardpresse auf der Insel nach der baldmöglichsten Entsendung des Special Air Service (SAS) an den Euphrat, damit die königliche Spezialtruppe von Elizabeth II. jedes britische IS-Mitglied liquidiert und so verhindert, daß einer von ihnen in die Heimat zurückkehrt und dort vielleicht Anschläge verübt bzw. andere Muslime radikalisiert.

Die Großoffensive des IS im Irak hat im politischen Berlin eine Aufweichung des Ausfuhrverbots deutscher Waffen in Krisengebiete bewirkt. Unter Verweis auf die zahlreichen Massaker des IS an Christen und Yesiden, die im Nordirak eine gewaltige Flüchtlingswelle ausgelöst haben, setzt sich Kanzlerin Angela Merkels große Koalition inzwischen über die bisher geltende Richtlinie hinweg, um "die Kurden" mit Waffen und Munition zu versorgen. Gemeint sind jedoch nicht jene Kurden im syrischen Nordosten, die sich seit mindestens zwei Jahren erbittert gegen die sunnitischen Mudschaheddin zur Wehr setzen und wegen der Abriegelung der Grenze durch die Türkei praktisch keine Hilfe aus dem Ausland bekommen, sondern die Regierung des Kurdischen Autonomiegebiets im Irak, die sich immer mehr in Richtung Eigenständigkeit bewegt. Sie hat die Einnahme Mossuls durch den IS im Juni geschickt genutzt, um die strategisch wichtige Ölstadt Kirkuk von den eigenen Peschmergas erobern zu lassen, und vor einigen Wochen gegen den Willen Bagdads über eine türkische Pipeline mit dem Energieexport nach Israel begonnen. An einer Aufrüstung der bedrängten syrischen Streitkräfte, die in den letzten Jahren mehr Blutzoll als jede andere Institution geleistet hat, um die religiösen Minderheiten der Levante vor den Halsabschneidern des IS zu schützen, denkt im Westen offenbar niemand. Warum auch. Schließlich halten die "Freunde Syriens", zu denen auch Deutschland gehört, nach wie vor an dem erklärten Ziel eines Regimewechsels in Damaskus fest.

Zu den Ländern, in denen die Politik des Westens am undurchsichtigsten ist, gehört Ägypten. Als der "Arabische Frühling" 2011 ausbrach, haben die westlichen Großmächte, allen voran die USA, Hosni Mubarak einfach fallengelassen. Unvergeßlich die Bilder, wie Tage nach dem Rücktritt des langjährigen ägyptischen Machthabers nacheinander US-Außenministerin Hillary Clinton und ihr deutscher Amtskollege Guido Westerwelle über den Kairoer Tahrir-Platz spazierten, um dort vor den laufenden Kameras der internationalen Medien den Duft der Freiheit und der Demokratie einzuatmen. Nach zwei Jahren innenpolitischen Hickhacks haben die Militärs am Nil unter Fatah Al Sisi die Macht wieder an sich gerissen, den ersten gewählten Präsidenten des Landes, Mohammed Mursi, gestürzt und Tausende Mitglieder seiner Moslem-Bruderschaft entweder getötet oder verhaftet. 2014 gilt Ägypten für die NATO-Staaten erneut als verläßlicher Partner, der das Austeritätsdiktat des IWF ohne Rücksicht auf die Bevölkerung umsetzt und sich als Vermittler im Gaza-Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern engagiert. Am demokratischen "Übergangsstadium" in Ägypten gibt es sicherlich viel zu kritisieren, dennoch würden die meisten Menschen im Nachbarland Libyen vermutlich eine Diktatur à la Sisi dem blutigen Chaos vorziehen, das sie dank mörderischer Milizen wie der Ansar Al Scharia seit der Ermordung Muammar Gaddhafis ertragen müssen.

Es eignet sich kaum ein Publizist besser dazu, den Leser durch das Wirrwarr konkurrierender kultureller, militärischer, politischer, religiöser und wirtschaftlicher Interessen in den Gebieten Nordafrika, Nahost und Zentralasien zu führen, als Marc Thörner, der einst Geschichte und Islamwissenschaft studierte und seit 20 Jahren als freier Journalist aus jener Region berichtet. Die Bücher "Der falsche Bart - Reportagen aus dem Krieg gegen den Terror" (2007), "Afghanistan-Code - Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie" (2010) und "Die arabische Revolution und ihre Feinde" (2012) zeugen vom Kenntnisreichtum Thörners, der 2009 mit dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus ausgezeichnet wurde.

Drei Brandherde stehen im Mittelpunkt des neuen Buchs Thörners, "Ein sanfter Putsch - Wie Militärs Politik machen", nämlich Afghanistan, Pakistan und Bahrain. Gerade der tiefe Einblick in die bahrainischen Verhältnisse ist sehr zu begrüßen. Angesichts der noch dramatischeren Entwicklungen in Ägypten, Tunesien, Syrien, Irak und Jemen sind die Ereignisse in dem kleinen Inselstaat am Persischen Golf an der hochempfindlichen Bruchlinie zwischen den Einflußsphären Saudi-Arabiens und des Irans in der westlichen Berichterstattung der vergangenen Jahren etwas kurz gekommen. In Bahrain wurden die demokratischen Proteste der schiitischen Bevölkerungsmehrheit gegen die sunnitische Monarchie der Al-Khalifa-Familie im Frühjahr 2011 mit saudischer und pakistanischer Militärhilfe brutal niedergeschlagen. Thörner, der sich in Bahrain mit Vertretern der Regierung und der Opposition sowie Opferfamilien getroffen hat, zeichnet ein düsteres Bild der Lage dort. Unter dem Vorwand der "Terrorbekämpfung" wird die schiitische Mehrheit unterdrückt, während man in nicht geringer Anzahl Sunniten als Soldaten, unter anderem aus Pakistan, ins Land holt, um langfristig die Macht des regierenden Klans auf demographischem Wege zu festigen. Um sich medial gegen Vorwürfe zu wappnen, hat das "Regime" Al Khalifa ehemalige britische und amerikanische Polizeichefs als Berater engagiert, die sämtliche Unterdrückungsmethoden als im Einklang mit rechtsstaatlicher Praxis im Westen zu verkaufen wissen.

Mit Verweis auf Bahrain behandelt Thörner auch das brisante Thema des geplanten milliardenschweren Verkaufs von 200 Kampfpanzern des Typs Leopard 2 durch das deutsche Rüstungsunternehmen Krauss-Maffei an Saudi-Arabien. Die Beteuerungen Riads sowie von Vertretern des Herstellers und der Bundesregierung, die hochmodernen Panzer sollten das Königreich im Falle eines Krieges mit dem Iran schützen, entlarvt Thörner als Humbug und weist deren eigentliche Verwendung nicht nur gegen innenpolitische Gegner in den Metropolen im schiitisch dominierten Osten Saudi-Arabiens, sondern gegebenenfalls auch in Bahrain, überzeugend nach.

Ähnlich verlogen erweist sich die Mission der Bundeswehr im kriegsgeplagten Afghanistan. Dort zeigt Thörner, wie die NATO-Armeen der "force protection" zuliebe alle hehren Ziele wie Wiederaufbau und Demokratieexport unterlaufen, indem sie sich auf lokaler Ebene auf dubiose Deals mit Verbrechern und Warlords einlassen. Aufgrund eigener Recherchen unter anderem im Irak und in Afghanistan steht Thörner aus pragmatischen und ideologischen Gründen der westlichen Aufstandsbekämpfung skeptisch bis ablehnend gegenüber. In den Buch beschreibt Thörner an einer Stelle, wie die US-Streitkräfte 2007 vergeblich den Versuch unternahmen, den Ölschmuggel aus der irakischen Raffinerie Beidschi zu unterbinden. Aktuell versucht die irakische Armee, jene Raffinerie, die größte des Zweistromlands, den dort verschanzten Kämpfern des IS zu entreißen.

In den Grenzprovinzen Nordpakistans geht Thörner den verheerenden Auswirkungen der CIA-Drohnenangriffe nach, die bekanntlich viele Opfer unter der Zivilbevölkerung fordern und deshalb von Kritikern als Kriegsverbrechen bezeichnet werden. Für die These der Befürworter von Drohnenangriffen in den USA, Deutschland und den anderen westlichen Industriestaaten, durch den Einsatz der ferngesteuerten Flugzeuge hätte man einen "Quantensprung in der Moral des Krieges" (S. 77) erzielt, hat der Autor nichts übrig. Für die Richtigkeit seines Urteils spricht der von ihm behandelte Drohnenangriff am 17. März 2011, bei dem 45 Dorfälteste bei einer Loya Jirga in Nordwasiristan getötet wurden.

Anfangs hieß es, die CIA hätte die Versammlung mit einem Taliban-Treffen verwechselt. Den meisten Pakistanern fiel auf, daß der Angriff nur wenige Stunden später erfolgte, nachdem der CIA-Agent Raymond Davis, der einige Wochen zuvor zwei Männer auf offener Straße erschossen hatte und sich seitdem - sehr zum Unmut Obamas und seiner Außenministerin Hillary Clinton - in Untersuchungshaft befand, gegen Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen ausreisen durfte. Am 22. August desselben Jahres hieß es in einem Bericht der Nachrichtenagentur Associated Press, US-Verteidigungsminister Leon Panetta hätte den Raketenangriff auf die Loya Jirga in Nordwasiristan persönlich angeordnet. Dazu zitierte AP anonym einen Mitarbeiter der Obama-Administration mit der Aussage: "Es war Vergeltung für Davis. Die CIA war zornig." Den Verantwortlichen einer solchen Aktion fehlt jede moralische Grundlage, sich über die Kopfabschneider vom IS zu erheben, denn sie bewegen sich in genau denselben menschlichen Untiefen aus Ignoranz und verächtlicher Machtpolitik.

22. August 2014


Marc Thörner
Ein sanfter Putsch
Wie Militärs Politik machen
Edition Nautilus, Verlag Lutz Schulenberg, Hamburg, 2014
150 Seiten
ISBN: 978-3-89401-792-7