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REZENSION/643: V. Thurn, S. Kreutzberger - Harte Kost. Wie unser Essen produziert wird (SB)


Valentin Thurn, Stefan Kreutzberger


Harte Kost


Wie unser Essen produziert wird -

Auf der Suche nach Lösungen für die Ernährung der Welt


Wir alle wünschen uns friedlich grasende Kühe, Schweine, die bis zu ihrem sanften Ende ein glückliches Leben führen dürfen, und giftfreies Obst vom Bauern aus der Region. Massentierhaltung finden wir nicht in Ordnung, chemischen Dünger, Pestizide und Gentechnik auch nicht. Aber sind wir nicht naiv, wenn wir glauben ohne all das könne man 10 Milliarden Menschen ernähren, die bald unsere Erde bevölkern werden?

... faßt der Klappentext Inhalt und Intention eines Buches zusammen, das mehr als ein Nebenprodukt bei der Recherche zum Film von Valentin Thurn "10 Milliarden, wie werden wir alle satt?" [1] geworden ist, und stellt der potentiellen Leserschaft eine ähnliche Frage, die einen etwas anderen Schwerpunkt vorgibt: "Was essen wir morgen?"

Wer genau wird hier angesprochen? Mit wir - sind vor allem wir Menschen westlicher Industriestaaten gemeint, die "noch" reichlich und auf jeden Fall genug zu essen haben und angesichts der wachsenden Weltbevölkerung bestenfalls mit der Sorge schwanger gehen, daß dies auch ja so bleibt.

Der richtige Kurs zu ausreichender und vielleicht sogar noch besserer Nahrung als bisher scheint noch nicht festzustehen - auch dies läßt sich aus den wenigen Worten der Rückseite bereits ersehen und das Buch bestätigt es in größerer, wenn auch nicht gerade stringenterer Wortfülle. Viele Wege führen nach Rom, jeder davon hat seine Vor- und Nachteile, die von den Autoren des umfassenden Werks nur quantitativ erfaßt und vorgestellt werden.

Die Lebensrealität derjenigen, die bereits heute viel zu wenig haben, d.h. die der aktuell 800 Millionen Hungernden und zwei Milliarden Mangelernährten, läßt die Autoren zwar nicht unberührt, Fakten wie das "Schönrechnen von Hungerzahlen", also die bereits bekannt gewordenen, aber schnell wieder verdrängten Kniffe und kosmetischen Verschönerungen an den Methoden, den Berechnungsgrundlagen und der Definition von Hunger, die von den reichen Ländern mit Unterstützung der FAO seit dem Ernährungsgipfel 1996 in Rom vorgenommen wurden, um den ärmeren Ländern vorzumachen, sie würden sich um ihre Probleme kümmern, werden in ihrer skandalösen Breite durchaus genannt, das alles scheint jedoch nur ein Nebenaspekt in der thematischen Vielfalt des jüngsten Werks von Valentin Thurn und Stefan Kreutzberger zu bleiben.

Auch die mehrmals angeführte Erkenntnis, daß gerade der Einfluß der reichen Industrieländer vielerorts erst zu den verheerenden Zuständen von Hunger und Not geführt hat und daß massive private Wirtschaftsinteressen, aber auch politische Einflußnahme ganze landwirtschaftliche Regionen unterwerfen, um zu Lasten der "Ernährungssouveränität" der dort lebenden Menschen (d.h. ihrer Möglichkeit, eigene Nahrung zu erzeugen) Land zu beanspruchen oder den Anbau von landwirtschaftlichen Erzeugnissen vorzuschreiben, wird ebenfalls nur erwähnt.

Die Schlußfolgerung, die daraus gezogen wird, ist, die Politiker wie auch die großen Wirtschaftskonzerne darauf aufmerksam zu machen, daß solche Methoden und eine auf maximaler Ausbeutung basierende Landwirtschaft auch ihnen finanzielle Einbußen und weltweiten Verlust an Nahrungsmitteln bringen wird. Nicht thematisiert wird, wie sich dieser Raub auch durch vermeintliche Hilfsprogramme oder scheinbar bessere alternative Anbaumethoden subtil fortsetzt. Denn die Nutznießer des hier an vielen kleinen Beispielen propagierten Aufbaus einer klimaneutralen und robusten bäuerlichen Landwirtschaft, sollte er denn weltweit von der Gemeinschaft getragen und durchgesetzt werden, und die dadurch geschaffene Ernährungssicherheit bzw. -souveränität, werden auch an allererster Stelle unter Beibehaltung der heutigen marktwirtschaftlichen Produktionsbedingungen diejenigen sein, an die sich das Buch richtet.

Selbst wenn, wie der World Food Report der FAO bereits 2009 behauptete, weltweit genügend Nahrungsmittel produziert werden können, damit alle Menschen ausreichend zu essen haben, mit mindestens 2.700 Kilokalorien pro Tag versorgt werden und auch nicht vom versteckten Hunger (Mangelernährung) betroffen sind, bliebe es ohne grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen fraglich, ob diese Nahrung auch für alle Menschen gleichermaßen verfügbar sein würde. Denn wäre es tatsächlich "nur" eine Frage der Verteilung, so sollten dafür doch die auch in diesem Buch nicht angezweifelten "heiligen" Gesetze der Marktwirtschaft zumindest ein probates Mittel für die Versorgung sein, sollte man meinen. Das funktioniert jedoch nicht, weil der Bedarf hungernder und armer Menschen von Ökonomen gar nicht als "Nachfrage" wahrgenommen wird. Offen bleibt, ob eine Welt ohne Hunger als Folge einer "gerechteren Verteilung", auf die das Autorenteam auch im Nachwort des Buches, "Was haben wir gelernt? Unsere Erkenntnisse und Folgerungen" abhebt, und die sich nach wie vor auf marktwirtschaftlichen Kriterien wie Steigerung des Profits oder Wachstums als ausschlaggebende Anreize der Nahrungsmittelproduktion gründet, überhaupt erreichbar wäre. So heißt es in den letzten Seiten des Buchs, wörtlich begleitet von dem Appell an jeden Einzelnen, weniger zu verschwenden, weniger Fleisch zu essen und weniger Agrarsprit in das eigene Auto zu füllen, damit die derzeitige Ernte für das Doppelte der Weltbevölkerung reichen und somit eine faire Verteilung gewährleistet werden könnte:

Die Unternehmen der Agrarindustrie wirtschaften nur dort profitabel, wo die Abnehmer auch die gewünschten Preise für ihre Produkte bezahlen. Und so wird das Grundrecht auf Nahrung zu einer sozialen Frage von Reichtum und Armut. [Seite 295]

Anders als der Buchtitel vielleicht erwarten läßt, zeigen schon die ersten Lektürehappen: Von vorgesetzter schwerer oder "harter Kost" kann hier keine Rede sein. Das bewährte Autorenteam im Schreiben von Büchern zu Filmen von Valentin Thurn (wie bereits 2011 "Die Essensvernichter" zum Film "Taste the Waste") versteht es allerdings, seine Leser von der ersten Seite bis zur letzten auch mit gruselig spektakulären und etwas ekeligen Ernährungskonzepten wie "Super-Fast-Food und Nanolebensmitteln" oder "Insekten - Nahrung der Zukunft?", gepaart mit mutmachenden Lösungsvorschlägen oder Beispielen für einen nachhaltigeren Umgang mit Nahrung, Lebensmitteln, Natur und Landwirtschaft, bestens zu unterhalten. In einem fortwährenden Zickzackkurs werden einerseits kritische Fragen aufgeworfen, um sie anschließend wieder einzuschränken. Sicher nicht unbeabsichtigt von den Autoren soll der Leser gar nicht erst durch eine bedrückende Realität, die sich allein bei naheliegenden Schlußfolgerungen aus der derzeitigen klimatischen Entwicklung für die weltweite Landwirtschaft ergeben könnte und die sich durch zunehmende Mißernten, Dürren, Überflutungen oder andere Naturkatastrophen bereits vielerorts abzeichnet, gelähmt oder paralysiert werden, sondern trotz alledem Lust zur Initiative bekommen und sich in Bewegung setzen. Dafür werden zahlreiche Beispiele widerständischer Protagonisten und "jede Menge Alternativen" geboten, die zum Nachahmen vom eigenen Anbau in den Städten bis zur Förderung solidarischer Landwirtschaftsprojekte in der Region anregen.

Wohl daher läßt sich der gebotene Lesestoff mühelos verdauen, selbst wenn die mitunter schwer zu schluckenden Brocken von Kapitelüberschriften, wie "Dem Untergang geweiht?", "Ernteausfälle und Vertreibung", "Normierte Gennahrung", "Gift auf dem Acker", "Kriege ums Wasser", "Brudermord im Hühnerstall" oder "Das Geschäft mit dem Hunger", mit denen das umfassende Thema in zahlreiche Aspekte zerteilt und "portioniert" wird, Fragen aufwerfen, die jede für sich eine umfassende gesellschaftliche Debatte auslösen könnte.

Dem Leser wird jedoch die Auseinandersetzung damit durch den durchgängigen Wechsel der Standpunkte von Akteuren gegnerischer Lager nicht gerade leicht gemacht, muß er sich doch mühsam durch die "wertfreien" Argumente von Verbreitern hoffnungsloser Tatsachen ("Wir steuern auf einen globalen Kollaps zu!") wie von bekennenden Optimisten, die in jeder "noch so kleinen Verhaltensänderung" die Möglichkeit sehen, daß sie sich "zu einer mächtigen Welle" addiert, "der auf Dauer Machtstrukturen, Unterdrückung und Gier nicht standhalten können", durchfressen wie der Schlaraffe durch den Griesberg.

Zudem läßt das Buch leider einiges an Struktur vermissen, wiederholt sich in den verschiedenen Beiträgen der beiden Autoren scheinbar unkoordiniert, wechselt zwischen sachlich nüchterner Argumentation und plaudernder Erzählweise eines Reisetagebuchs, dem es um jedes unterhaltsame Detail geht, was wiederum in keinem Verhältnis zu der Kürze steht, in der andere Problemkreise (wie eben die Bedeutung des Klimawandels) nur oberflächlich angerissen werden. Das stört vielleicht manchen, der sich eine stärkere Auseinandersetzung mit den gängigen Diskursen von dem Buch verspricht. Für den leichten, yellowpressmäßigen Einstieg in das umfangreiche Thema begrüßen andere Leser aber genau seinen "aufgelockerten" Stil und seine somit leichte Verdaulichkeit.

Ebenso wie der Filmemacher sein Publikum mit seinem Film nicht schockieren, sondern nach eigener Aussage [1] auf eine nachdenklich machende Weltreise in Sachen Ernährung mitnehmen möchte, stellt er gemeinsam mit seinem Coautor für eingefleischte Bücherwürmer die passende Reiselektüre zur Verfügung, mit der aber auch ein durch den Film noch ungesättigter oder erst auf den Geschmack gekommener Kinogänger das cineastische Erlebnis noch einmal in Buchstaben Revue passieren lassen kann, um dann auf geduldigen 303 Seiten Papier noch eine Fülle weiterer Details zu erfahren. Zwar sollen Bauchschmerzen bewußt vermieden werden, Alpdrücken und eine gewisse Magenschwere können aber auch nicht völlig ausgeschlossen werden, wenn der Konsument angesichts der zahlreichen Anregungen nicht müde wird, weiterzustochern und zu fragen. Wohl bekomm 's!


Anmerkung:

[1] Einen Bericht zum Film sowie ein Interview mit dem Filmemacher und Buchautoren Valentin Thurn finden Sie hier:
http://www.schattenblick.de/infopool/medien/report/mreb0006.html
http://www.schattenblick.de/infopool/medien/report/mrei0007.html

18. Juni 2015


Valentin Thurn, Stefan Kreutzberger
Harte Kost
Wie unser Essen produziert wird - Auf der Suche nach Lösungen für die
Ernährung der Welt
Ludwig Verlag, München 2014
320 Seiten, 16,99 Euro
ISBN: 978-3-453-28063-2


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