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REZENSION/680: Stefan Bollinger - Oktoberrevolution (SB)


Stefan Bollinger


Oktoberrevolution

Aufstand gegen den Krieg 1917-1922



Wenn sich im Herbst die Oktoberrevolution zum hundertsten Male jährt, werden wir uns vor Rückblenden und Bilanzen kaum retten können. Die allermeisten, so steht zu befürchten, dürften dem ambivalenten Zweck geschuldet sein, die Totgesagten aus der Gruft zu zerren, um sie abermals zu Grabe zu tragen. Die Revolution sei ein Irrweg, der Sozialismus gescheitert, heißt es. Und doch scheint selbst die borniertesten Kritiker in ihrem Hohn, die Ewiggestrigen feierten anachronistische Kulte der Unbelehrbarkeit, ein Restzweifel zu beschleichen. Anders ließe sich schwerlich erklären, warum noch Jahrzehnte nach dem proklamierten Sieg im Kampf der Systeme nach Kräften auf die Leiche eingeprügelt und die Abrechnung in alle Ewigkeit fortgesetzt wird. Wäre es nur irrelevanter Schnee von gestern, den der Lauf der Geschichte ein für allemal abgeschmolzen hat, bedürfte es keiner Tiraden und Predigten, keiner Revanchen und Rachezüge mehr.

Ist die Welt besser geworden, seit ihr widerspenstiges Drittel aus den Angeln gehoben und sie zu einer unipolaren Entität erklärt wurde? Hat das westliche Modell vorgeblich freier Märkte, für nichtexistent befundener Klassengesellschaften und nunmehr ungezügelter Expansion zu weniger Hunger und Tod, Not und Flucht, Krieg und Ausbeutung geführt, den Schmerz der Menschheit und der Natur gemildert? Die multiplen Krisen sprechen eine andere Sprache: Klimawandel und schwindende Ressourcen, Waffengänge und Konflikte, Wirtschaftseinbrüche und Sozialabbau, Arbeitsregime und Elendsregionen - die Ultima ratio von Verbrauch und Zerstörung, die das eigene Überleben aus der Drangsalierung und Vernichtung anderer speist, droht jegliche Kurskorrektur aus dem Feld zu schlagen.

Was könnte demgegenüber bedeuten, aus der Geschichte zu lernen? Mit Wehmut und Nostalgie, Glorifizierung und Heldenverehrung, Rechthaberei und Wahrheitsanspruch ist diesem Vorhaben nicht gedient. Sich den Siegern anzubiedern und fortan im Gestus neutraler Objektivität ihr Lied zu singen, aber am allerwenigsten. Wie wollte man auch nur daran denken, Geschichte in einer anderen Richtung fortzuschreiben, ohne Partei zu ergreifen für jene, die der Herrschaftssicherung und Verwertungsmaschinerie unablässig zum Opfer fallen? Und da es das Schicksal ganz gewiß nicht richten wird, stellt sich vordringlich die Frage nach den Machtmitteln, dem eigenen Vorhaben zur Durchsetzung zu verhelfen. Das führt uns zurück zur Russischen Revolution, sofern man sie nicht als historisch abgeschlossenen Vorgang auffaßt, an dem sich allenfalls akademisches Interesse entzünden mag. Liegt sie auch ein Jahrhundert zurück, sind ihre Folgen doch weitreichend und durchaus virulent. Ihre letztendliche Niederlage, so verheerend sie sein mag, bringt weder die Gründe der Erhebung in Mißkredit, noch schreibt sie das unwiderrufiche Ende der Geschichte fest, so sehr dies die Protagonisten des Schlußstrichs auch zu diktieren und zu beschwören versuchen.

Wenngleich noch sehr vieles ungesagt und ungeschrieben ist, was bis in die Novembertage zu dieser Thematik über uns hereinbrechen wird, geht man doch nicht fehl in der Annahme, daß der Philosoph, Politikwissenschaftler und Historiker Dr. sc. Stefan Bollinger mit seinem aktuellen Buch "Oktoberrevolution. Aufstand gegen den Krieg 1917-1922" einen substantiellen Beitrag zur Debatte vorgelegt hat, der die Spreu vom Weizen trennt. In aller Nüchternheit, wie sie inzwischen im Umgang mit dieser Thematik möglich ist, untersucht er auf Grundlage heutiger Erkenntnisse die damaligen Auseinandersetzungen, wobei er insbesondere die Rezeption der russischen Revolution durch die Linke einbezieht. Wie immer in seinen Publikationen kompetent ausgeforscht und mit sachdienlichen Zitationen versehen, verwahrt er sich gegen die Auffassung, daß alles sinnlos und umsonst gewesen sei. Zum einen habe diese gewaltige Zäsur in der Menschheitsgeschichte zu weiteren Aufständen gegen den Krieg und für soziale und nationale Selbstbestimmung geführt. Zum anderen hätte ohne den Sowjetstaat das "sozialdemokratische Jahrhundert" (Ralf Dahrendorf) nicht das Licht der Welt erblickt, die Lage der arbeitenden Menschen verbessert und den Kapitalismus über mehrere Jahrzehnte gebremst.

Der Autor geht von einem Prozeßverlauf der Russischen Revolutionen von 1917 bis 1922 aus, nämlich der Februar- und der Novemberrevolution 1917, der Wende zur Neuen Ökonomischen Politik 1921 und schließlich der weitgehenden Beendigung des Bürgerkriegs und vor allem der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken am 30. Dezember 1922, die heute so umstritten wie und je seien. Man habe es mit einer revolutionären Welle im Gefolge des Ersten Weltkriegs zu tun, die nicht zu übermenschlichen Dimensionen verklärt werden dürfe, woran alle Weltereignisse zu messen seien. Andererseits waren Zeitgenossen wie der britische Kriegspremier David Lloyd George, obgleich gewiß kein Freund der Revolution, so tief beeindruckt, daß er von einem gewaltigen Faktum der Weltgeschichte sprach. Der Umbruch im geographisch größten Land der Erde stellte für das 20. Jahrhundert ein so zentrales Ereignis dar wie es die Französische Revolution für das 19. Jahrhundert gewesen war. Dreißig bis vierzig Jahre nach Lenins Ankunft in Petrograd befand sich ein Drittel der Menschheit in einem Gesellschaftssystem, das aus den "Zehn Tagen, die die Welt erschütterten" (John Reed, 1919) hervorgegangen war.

Wie Bollinger darlegt, wurden die eher tastenden Positionen Lenins später zu allgemeingültigen Gesetzen der sozialistischen Revolution und des Aufbaus stilisiert, deren Einhaltung im von der Sowjetunion geführten Lager eigentlich zwingend vorgeschrieben, wenn auch keineswegs überall umgesetzt worden war. Obgleich Lenin bestimmte Attribute wie das Ringen um die Macht, die Diktatur des Proletariats und die Führungsrolle der Kommunistischen Partei für unverzichtbar hielt, hütete er sich doch davor, diese Auffassung zu übertreiben und sie auf mehr als einige Grundzüge der russischen Revolution auszuweiten. Auch ging er davon aus, daß nach der Revolution in einem fortgeschritteneren Land Rußland bald wieder ein im sozialistischen Sinne rückständiges Land sein würde. Dieser dialektische Blick sei seinen Nachfolgern verlorengegangen, so der Autor. Allerdings muß man berücksichtigen, daß die von Lenin und Trotzki erhoffte Unterstützung der internationalen Arbeiterbewegung ausblieb und es nirgendwo sonst zur erfolgreichen Revolution kam. Die notwendige Entscheidung für den Sozialismus in einem Land, der als sowjetisches Modell den Kommunisten in aller Welt ein Vorbild und Leuchtfeuer war oder sein sollte, brachte Errungenschaften wie etwa im Kampf gegen den Faschismus, aber auch Greueltaten größten Ausmaßes hervor.

Ohne Berührungsängste befaßt sich der Autor mit verschiedenen kritischen Forschungsansätzen zur sowjetischen Geschichte, wobei er insbesondere auf jene verweist, die Lenin nicht vergöttern, sondern als Realpolitiker der Revolution einordnen. Die verschiedenen Phasen sowjetischer Entwicklung, die Versuche einer Erneuerung des Sozialismus, die Perestroika und das Ende der Sowjetunion, schließlich auch die weitere Entwicklung Rußlands unter Jelzin und Putin prüft Bollinger stets unter der Maßgabe, sich mit aller gebotenen Nüchternheit und möglichst unverstelltem Blick die damaligen Verläufe im Lichte heutigen Wissens zu entschlüsseln. Er setzt zugleich Grenzen gegen all jene, die das Kind mit dem Bade ausschütten, indem sie Lenin, Stalin und Hitler in einen Topf werfen oder gar Marx und Engels als Urheber allen Übels bezichtigen. Auch verwahrt er sich gegen Konvertiten, die sich in den Dienst der postmortalen Vernichtung des Sozialismus sowjetischer Prägung stellen und bei dieser Gelegenheit jeden Kampf für eine bessere Gesellschaft oder die Utopie derselben entsorgen.

Der Untertitel des Buches "Aufstand gegen den Krieg 1917-1922" verweist auf die außerordentliche Bedeutung des Ersten Weltkriegs, der die nationalen und sozialen Widersprüche extrem verschärft hatte, für das Selbstverständnis und die Entwicklung der Russischen Revolutionen. Sie setzten im Februar das erste Friedenssignal, und die Oktoberrevolution führte zu Brest-Litowsk, dem Diktatfrieden unter beträchtlichen Gebietsverlusten, doch Zeitgewinn für den Aufbau der Roten Armee. Abermals standen die russischen Revolutionäre allein, da die deutsche Sozialdemokratie mehrheitlich die Soldaten im Schützengraben und die Arbeiter an der Werkbank hielt. Welchen Konter das sich herausbildende Sowjetrußland auf den Plan gerufen hatte, zeigt der Umstand, daß neben den ohnehin im Lande stehenden deutschen und türkischen Truppen zwölf weitere Mächte aus dem Lager der Entente militärisch intervenierten. Wenngleich sich ihre Wirkung in Grenzen hielt, kam vor allem die britische Unterstützung der weißen Konterrevolution im erbittert geführten Bürgerkrieg zugute.

Was sich vom Ergebnis her gesehen wie eine naheliegende oder gar zwingende Abfolge von Ereignissen darstellen mag, war in seiner historischen Genese alles andere als absehbar, stringent und widerspruchsfrei. Die Bolschewiki waren eine vergleichsweise kleine und halblegale Fraktion neben Menschewiki, Sozialrevolutionären, Anarchisten und diversen weiteren Kräften, um nur das Spektrum der Strömungen zu nennen, die gegen das Zarentum oder auch nur für eine konstitutionelle Monarchie kämpften. Rußland war zwar nach außen hin eine Großmacht, aber im Inneren so rückständig, daß nach Meinung vieler allenfalls eine bürgerliche Revolution möglich sei. Lenin zufolge bedurfte eine revolutionäre Situation zweier Voraussetzungen: Erst wenn die Unterschichten das Alte nicht mehr wollen und die Oberschichten in der alten Weise nicht mehr können, sei eine siegreiche Revolution möglich. Er hielt dies 1917 für gegeben, stellte aber in der Folge angesichts der sich auftürmenden Schwierigkeiten und Verwerfungen mit Marx die Frage, ob die Produktivkräfte in Rußland tatsächlich weit genug entwickelt seien, um den Übergang zu neuen, höheren Produktionsverhältnissen zu ermöglichen.

Die Auseinandersetzung darüber, ob die Umwälzungen der Jahre 1917 bis 1922 mit ihren teils blutigen Kämpfen und neuen Zwängen prinzipiell heilbare Kinderkrankheiten der Revolution oder vielmehr der dauerhafte Geburtsfehler des Sozialismus in einem Land waren, der den Auswüchsen von Parteimacht und Bürokratisierung, Säuberungen und Gulags, den Weg bereitete, ist so alt wie die Sowjetunion selbst. Der Autor greift die Kontroversen im Kontext der damaligen Verhältnisse auf und kreuzt sie immer wieder mit späteren Entwicklungen wie auch einer Diskussion aus gegenwärtiger Perspektive. Wenngleich dabei Redundanzen nicht ausbleiben und man sich mitunter eine straffere Chronologie gewünscht hätte, arbeitet diese Vorgehensweise doch dem erklärten Ziel zu, nicht nur eine geschichtswissenschaftliche Abhandlung vorzulegen, sondern auch aktuelle Debatten zu befruchten und mögliche Handlungskonsequenzen zu erörtern.

Bollinger führt mit diesem Buch keinen abstrakten Historikerstreit, sondern wendet sich seinem Gegenstand in aller Offenheit und stets mit Blick auf mögliche Lehren aus der Geschichte zu. Wer sich wie er nicht in das Mausoleum rückwärtsgewandter Dogmen verkriecht, sondern das Erbe einer alten und noch längst nicht entschiedenen Auseinandersetzung mit all seinen Zweifeln, Widersprüchen und Unwägbarkeiten zum Zweck seiner Nutzung annimmt, wird sich bestärkt finden, fragend voranzuschreiten.

8. August 2017


Stefan Bollinger
Oktoberrevolution
Aufstand gegen den Krieg 1917-1922
edition ost im Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2017
224 Seiten, 14,99 Euro
ISBN 978-3-360-01882-3


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