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REZENSION/734: Bruno Kern - Das Märchen vom grünen Wachstum (SB)


Bruno Kern


Das Märchen vom grünen Wachstum

Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft



Mit seinem Buch "Das Märchen vom grünen Wachstum - Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft" wagt sich Bruno Kern an die brennendsten Probleme unserer Zeit. In Anbetracht des Klimawandels, der viel unberechenbarer ist und viel rascher vonstatten geht als bislang vorhergesagt, kommt er zu dem Schluß, daß eine radikale Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse dringend vonnöten ist. Der immer noch gültigen Ansicht, daß ein Wirtschaftswachstum unter allen Umständen aufrechterhalten bleiben muß, um das Funktionieren eines kapitalistischen, demokratischen Staates zu gewährleisten, setzt er die Notwendigkeit eines unumgänglichen Schrumpfungsprozesses der Industrie und Wirtschaft entgegen.

Nicht länger Wachstumsraten, sondern weitreichende Produktionsminimierungen sollen fortan die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen lenken. Erst dann ließe sich der Weg in eine ökosozialistische Gesellschaft durchsetzen.

In gut recherchierter und weitreichender Kritik an den vorherrschenden Produktionsweisen und den daraus erwachsenen Problematiken für Gesellschaft und Umwelt, lenkt Bruno Kern die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Ressourcen und deren Endlichkeit, sowie auf den hohen Energiebedarf, der mit den genannten Produktionsweisen einhergeht, die zum größten Teil aus fossilen Brennstoffen gespeist werden und damit den CO2-Ausstoß in die Höhe treiben. Die Gründlichkeit, mit der er die zur Herstellung eines Erzeugnisses nötigen Rohstoffe und die erforderlichen Energiemengen aufzeigt, macht die Dringlichkeit seines Vorhabens verständlich und nachvollziehbar.

Ein besonderes Augenmerk lenkt er auf die verschiedenen "alternativen" und "grünen" Strömungen in der Gesellschaft, die mehr oder weniger nachdrücklich suggerieren, daß es möglich wäre, an dem gewohnten Lebensstandard in den Industrienationen festzuhalten, wenn der dafür erforderliche Energiebedarf aus erneuerbaren Energiequellen stammen würde.

Um mit dieser Idee aufzuräumen, wendet Bruno Kern sich kritisch und sehr genau den verschiedenen erneuerbaren Energiequellen zu, wie beispielsweise der Photovoltaik, Windenergie, Wasserstoff, Holzpellets oder Biogasanlagen. Auch hier nennt er die Energie- und Rohstoffmengen, die zur Herstellung eben dieser Anlagen erforderlich sind und zeigt auf, daß die zuvor geleisteten Aufwände erheblich sind, so daß erst nach vielen Jahren des Betriebs eine positive Energiebilanz gezogen werden könnte. Dem interessierten Leser werden insbesondere in dem Kapitel "Das Märchen vom ,grünen Wachstum'" (S. 41-90) eine Vielzahl von weitreichenden kritischen Betrachtungen nahegebracht, die abermals die Dringlichkeit einer raschen Überwindung des Kapitalismus und die Hinwendung zu einer ökosozialistischen Gesellschaft verdeutlichen sollen.

Beim Lesen dieses Kapitels zeigt sich die Vergeblichkeit, mit dem Einsatz erneuerbarer Energien den Lebensstandard in den Industrienationen aufrechterhalten zu wollen. Doch welche Konsequenz ergibt sich daraus?

Zwar nimmt Bruno Kern für sich nicht in Anspruch eine Lösung parat zu haben, verschafft sich mit dieser Stellungnahme jedoch den Spielraum für das Formulieren seiner Ideen und Entwürfe einer Gesellschaftsordnung, in der bestimmte Schritte einzuleiten wären, damit die anstehenden Probleme sinnvoll in Angriff genommen werden könnten. Aufgrund seiner Annahme, daß die Menschheit heute erstmals in der Geschichte kurz davor steht, sich innerhalb von Dekaden selbst auszurotten, mahnt er an verschiedenen Stellen in seinem Buch an die Notwendigkeit zum Handeln. Die beste aller Möglichkeiten besteht seiner Meinung nach in der Errichtung einer ökosozialistischen Gesellschaft.

Wir müssen innerhalb der bestehenden ökonomischen Verhältnisse mit den jetzt schon zur Verfügung stehenden Mitteln (vor allem der Ordnungspolitik) entscheidende Weichenstellungen vornehmen, um uns überhaupt noch den Spielraum politischer Gestaltung zu erhalten. (S. 37) 

und weiter:

Die unverzichtbaren kurzfristigen Maßnahmen werden primär darauf abzielen, den absoluten Verbrauch an Energie und anderen Ressourcen mithilfe von Geboten und Verboten abzusenken. (...) Wir hingegen halten es für unverzichtbar, zu allererst zu fragen, worauf wir unmittelbar verzichten können und müssen, was wir schlichtweg nicht mehr produzieren dürfen und durch welche politischen Maßnahmen kapitalistischer Leerlauf und Verschleiß zu stoppen sind. (S. 37) 

Für den Leser könnten sich hier Fragen aufdrängen. Wer wäre beispielsweise das "wir", wenn nicht jene, die beanspruchen, die Gesamtlage beurteilen zu können und sich dementsprechend für kompetent halten, die Rolle eines Regulators oder einer Ordnungsinstanz einzunehmen? Wer wird entscheiden, auf welche Produkte verzichtet werden kann und muß? Wie sehen die Folgen für weite Bevölkerungsteile aus, wenn bestimmte Produktionsbereiche wegfallen? Und wie werden diese Ausfälle ökonomisch kompensiert? Für welche Länder sollen die Beschränkungen gelten? Wie kann eine Einsicht in die Notwendigkeit in der Bevölkerung erzielt werden?

Bruno Kern ist in dieser Hinsicht zuversichtlich:

Kluges politisches Handeln in diesem Sinne wird zunächst mit den Maßnahmen beginnen, bei denen eine entsprechende Akzeptanz breiter Bevölkerungsschichten vorausgesetzt beziehungsweise geschaffen werden kann, weil sie lediglich die Interessen einiger Banchenlobbys infrage stellen. Umgekehrt kann auch davon ausgegangen werden, daß mutige politische Maßnahmen einen Mobilisierungseffekt haben und soziale Bewegungen stärken. (S. 158) 

Genauer beschreibt er den oben genannten Schrumpfungsprozeß auf den folgenden Seiten. Ein erster Schritt zur industriellen Abrüstung sei die Streichung aller direkten beziehungsweise indirekten Subventionen von Produkten und Produktionsweisen, die ökologisch schädlich wirken. Und er nennt einige Beispiele für Streichungen in Deutschland:

Steuerbefreiung für Kerosin, die Befreiung von Flugtickets von der Mehrwertsteuer, die Steuerbegünstigung für Dieselfahrzeuge und für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge, die 'Prämien' für die Anschaffung eines - in ökologisch in jeder Hinsicht des desaströsen - Elektroautos, (...) und vieles mehr. (S. 159) 

Als einen weiteren Schritt für den Ausstieg aus der Wachstumsgesellschaft schlägt er die organisierte Verknappung des Energieangebots vor. Es sei gerade die Zeit, in der eine solche Maßnahme von vielen akzeptiert werden würde. Der Widerstand gegen Braun- und Steinkohleabbau zeigt die Bereitschaft eines großen Teils der Gesellschaft. Wie aber sieht es aus, wenn die Energieeinsparungen durch das Einschränken oder Abschaffen des Internets, dessen Betrieb wahre Unmengen an Energie verbraucht, vorgeschlagen werden würde? Oder wie sieht es mit der Idee aus, den gesamten Rüstungsbereich einzustellen, sowohl die Produktion der Waffen, wie auch den Betrieb der gesamten Bundeswehr? Auch hier werden enorme Energie- und Rohstoffmengen verbraucht.

All die Vorschläge, die vom Autor unterbreitet werden, scheinen doch nicht wirklich in ihren Folgen und Auswirkungen durchdacht, erwecken jedoch den Eindruck von möglichen und relativ einfach gangbaren Wegen, um den geforderten Schrumpfungsprozeß einzuleiten, der bei der Überwindung des Kapitalismus mitwirken soll. Eben dieser Schrumpfungsprozeß erweist sich hier als eine Art Schlagwort, als wohlklingende Parole, die lediglich an der Oberfläche Gleichgesinnte beeindrucken kann.

Jede Gesellschaftsform, auch eine ökologische, wird dem Überlebensinteresse jedes Individuums Rechnung tragen müssen. Solange für alle genug vorhanden ist, herrscht Ruhe im Land. Doch Wasser- und Nahrungsmangel weltweit führen bereits heute regional zu wirklichen Katastrophen, die für unzählige Menschen, Tiere und Pflanzen den Tod bedeuten.

Bruno Kerns Idee eines Ökosozialismus täuscht darüber hinweg, daß auch eine dergestalte Gesellschaftsordnung nicht ohne Verteilung von allen zum Leben notwendigen Dingen wie Nahrung, Energie, Ressourcen, Wohnraum und vielem mehr auskommen muß. Die Frage nach der gerechten Verteilung bleibt problematisch. Spätestens hier müßten dann Gesetzte und Verbote angewendet werden, um eine entsprechende Verteilungsregelung durchzusetzen.

Im Idealfall sollte eine Partei, vom Autor wird zum Beispiel "DIE LINKE" bevorzugt, oder eine geeignete Koalition diese Aufgabe übernehmen und eine entsprechende Politik verwirklichen. Selbst wenn eine Verwirklichung des Ökosozialismus nach den Vorstellungen des Autors in Deutschland möglich wäre, bleibt doch die Frage, wie ein globales Zusammenwirken ausgestaltet sein müßte, um als einzelnes ökosozialistisches Land bestehen zu können.

Die Probleme sind vielfältig und die Idee von Bruno Kern, eine ökosozialistische Gesellschaft zu gestalten, wirkt auf den ersten Blick verlockend. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch ein Unbehagen ein. Sicher läßt sich über viele seiner genannte Vorschläge zur Minimierung des Energieverbrauchs und zur Reduktion des Rohstoffverbrauchs ein breiter gesellschaftlicher Konsens herstellen, denn selbst ein Unternehmer würde dafür sein, weniger Rohstoffe zu verwenden, das würde seine Produktionskosten senken.

Ersetzen wir mit dem Aufbau einer ökosozialistischen Gesellschaft nicht ein in vielen Bereichen ungerechtes System der sogenannten freien Marktwirtschaft durch eine von vornherein restriktive Ordnung, die mit Verboten und Gesetzen ebenfalls Verteilungsmechanismen installiert, die Widerstand hervorrufen, der gegebenenfalls unterdrückt werden müßte? Der Begriff Sozialismus wurde bereits vielfach mißbraucht, da bedarf es lediglich eines Rückblickes auf unsere deutsche Geschichte. Wir stehen wahrlich vor einer Mammutaufgabe: Die Klimakatastrophe zurückdrängen, den Energieverbrauch reduzieren, die Weltmeere retten, die Arten schützen und vieles mehr. Was also tun?

An dieser Stelle möchte ich allerdings das vorliegende Buch "Das Märchen vom Grünen Wachstum" unbedingt empfehlen, denn eine umfassende Aufklärung über die momentan brennenden Probleme auf unserem Planeten kann vielleicht dazu beitragen, daß mehr und mehr Menschen sich der Situation bewußt werden und in der Folge ihre Interessen selbstkritisch neu ordnen und ihr Verhalten aus eigener Initiative ändern.

Bruno Kern engagiert sich seit Jahrzehnten in Sachen Umwelt und ist gemeinsam mit Saral Sarkar Gründer der "Initiative Ökosozialismus". Seit vielen Jahren befassen sie sich mit Alternativen zur Industriegesellschaft und Naturzerstörung. Bruno Kern lebt in Mainz und arbeitet als Lektor, Autor und Übersetzer. Sein aufrichtiges Engagement und die Jahrzehnte lange Beschäftigung mit Gesellschafts- und Umweltproblematiken wirken in dieser Veröffentlichung glaubwürdig und vermitteln den Eindruck eines in diesen Fragen kompetenten Forschers, der eine lange umfassende und kritische Auseinandersetzung mit den Problemen unserer Zeit schon hinter sich hat und für weitere Herausforderungen bereit ist.

1. Februar 2021


Bruno Kern
Das Märchen vom grünen Wachstum
Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft
rotpunktverlag, Zürich, 2019
240 Seiten
15,00 Euro
ISBN 978-3-85869-847-6


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