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REZENSION/754: Andrew Kliman - Die Rückgewinnung des Marxschen Kapital (Marxismus) (SB)


Andrew Kliman


Die Rückgewinnung des Marxschen Kapital

Eine Widerlegung des Mythos innerer Widersprüchlichkeit




Abbildung: After John Jabez Edwin Mayal, CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/], via Wikimedia Commons

Karl Marx (1818-1883) - Gemälde von P. Nasarow und N. Gereljuk (1920) nach einer Fotographie von John Jabez Edwin Mayal
Abbildung: After John Jabez Edwin Mayal, CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/], via Wikimedia Commons

Der Buchtitel dieses 2007 in der englischen Originalausgabe unter dem Titel "Reclaiming Marx's Capital" erschienenen Werks wirft Fragen auf. Wie kann "Das Kapital", bekanntlich das Hauptwerk zur Analyse des Kapitalismus von Karl Marx, "rückgewonnen" werden, so als wäre es - wie auch immer - verloren gegangen? Und was ist mit dem "Mythos innerer Widersprüchlichkeit" gemeint, der hier widerlegt worden sein soll? Tatsächlich handelt es sich um einen seit vielen Jahrzehnten schwelenden Disput unter Marx-Gelehrten. Unklar ist allerdings, wie viele Menschen, selbst wenn sie mit marxistischer Theorie auf mehr oder minder vertrautem Fuße stehen, von dieser Streitfrage je etwas gehört haben und, wenn ja, welchen Stellenwert sie ihr beimessen.

Der Autor, der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Prof. Andrew Kliman, glaubt, dass die Marx'schen Theorien angesichts der anwachsenden Bewegung gegen den globalen Kapitalismus wieder wichtig werden könnten. (S. 19) Als ein flammender Verfechter der Werttheorie, die seiner Einschätzung nach mit "zwingender Notwendigkeit falsch" wäre, sollten sich die Vorwürfe der inneren Widersprüchlichkeit erhärten, präsentiert er sich jedoch nicht. Ja, er räumt sogar ein, dass die von ihm behandelten Fragen "nicht die wichtigsten Themen in Das Kapital oder auch nur in der Werttheorie sind". (S. 11) Die sogenannten Inkonsistenzbeweise auszuräumen, was Kliman mit diesem Buch bewerkstelligt haben will, sei wichtig, weil ihr Einfluß über den "kleinen Kreis radikaler und marxistischer Ökonomen" hinausgehe, nämlich "in die Wirtschaftswissenschaften insgesamt, in andere Disziplinen, in das radikale Denken außerhalb der akademischen Welt, bis hinein in die öffentliche Meinung allgemein". (S. 15/16)

Sie [die Beweise, Anm. d. SB-Red.) disqualifizieren Marx bereits am Starttor der Wettbewerbsstrecke. Hierüber liefern sie nicht nur die grundsätzliche Rechtfertigung für die Unterdrückung seiner Theorie, sondern auch für die Unterdrückung der heutigen Forschung, die auf dieser Theorie beruht. Sie rechtfertigen damit auch die Verweigerung von Ressourcen, die für Durchführung einer solchen Forschung nötig wären. Das behindert in großem Maß deren weitere Entwicklung. (S. 12/13) 

Kliman und seine Mitstreitenden zufolge möge Das Kapital zur Gänze und in seiner ursprünglichen Form und Bedeutung wieder zur Geltung kommen. Ein Streit also um Wahrheiten im Elfenbeinturm höchster marxistischer Gelehrsamkeit, gepaart mit handfesten Interessen an Forschungsgeldern und universitärer Anerkennung?

Inhaltlich geht es bei dieser Kontroverse um die "richtige" Interpretation der Marx'schen Theorie - ein Widerspruch in sich, denn wenn ein Text der Interpretation, also Auslegung, bedarf, kann er schlechterdings klar und unmißverständlich sein. Wie aber will dann jemand - außer Marx und vielleicht seinem Weggefährten und Mitstreiter Friedrich Engels, der den 2. und 3. Kapital-Band herausgab - die Richtigkeit seiner Interpretation gegenüber anderen Deutungen beanspruchen können? Laut Kliman rühren "alle vermeintlichen Inkonsistenz- und Irrtumsbeweise" gegen die Marx'sche Werttheorie von einem einzigen Interpretationfehler her, nämlich dem "Simultanismus" (S. 29), bei dem es sich um Folgendes handelt:

Simultanismus vertritt den Gedanken, Marx habe behauptet, oder Marx' Theorie setze zwingend voraus, dass die Wertbestimmung der Inputs, die in die Produktion eingehen, und die Wertbestimmung der Outputs, die in der Folge aus der Produktion hervorgehen, simultan erfolge. (S. 12/13) 


Foto: George Lester, Manchester photographer, Public domain, via Wikimedia Commons

Friedrich Engels, Herausgeber des 2. und 3. Bandes von "Das Kapital"
Foto: George Lester, Manchester photographer, Public domain, via Wikimedia Commons

Die beinah banal anmutende Frage, ob Werte bzw. Preise produzierter Waren bereits im Moment des Beginns ihrer Herstellung bestimmt werden und deshalb mit den zu diesem Zeitpunkt bestehenden Werten und Preisen identisch sein müssen oder ob sie, wie die von Kliman bevorzugte "Temporale Einzelsystem-Interpretation" (TSSI) besagt, zu verschiedenen Zeitpunkten und damit unabhängig voneinander bestimmt werden, führt nach Ansicht des Autors in der Folge, nämlich durch die von den Simultanisten irrtümlich vorgenommenen "Korrekturen", zu gegensätzlichen und in wichtigen Aspekten miteinander unvereinbaren Versionen der Marx'schen Theorie. (S. 316) Für den Autor scheint es so zu sein, als stünden die Streithähne vor einem imaginären Gericht, spricht er doch, wenn er sich mit den Positionen und Argumentationen seiner Kontrahenten auseinandersetzt, von Schuld und Schuldigkeit. (S. 125) Am Ende des Buches schreibt er in juristischem Jargon:

Die Beweise innerer Widersprüchlichkeit werden also nicht mehr verteidigt. Die gesamte Anklage gegen Marx hat sich auf das Auslegungsproblem reduziert. Genauer gesagt, sie reduziert sich auf die Vorlieben der Marxkritiker für höchst unplausible Interpretationen seiner Texte. Es sei wiederholt, was ihre Interpretation unplausibel macht: Sie scheitern daran, die Marxschen Texte in ihrer Schlüssigkeit zu begreifen, obwohl stimmige Auslegungen möglich sind. Wenn eine Interpretation verfügbar ist, die den Anschein der Inkonsistenz beseitigt, dann sind Interpretationen, die diese scheinbaren Inkonsistenzen hervorrufen, nicht glaubhaft. Kurz, das Verfahren gegen Marx ist gar keine Anklage. Es fehlt die Anklageschrift. (S. 312) 

Bei der schlüssigen Interpretation, die den Widersprüchlichkeitsvorwurf angeblich widerlegt, handelt es sich um die besagte "Temporale Einzelsystem-Interpretation", die in den frühen 1980er Jahren entstanden ist. Wer im Detail nachvollziehen möchte, wie Andrew Kliman die gegen Das Kapital geltend gemachten Inkonsistenzvorwürfe Schritt für Schritt und Autorin für Autor widerlegt und die von den Kritikern und Kritikerinnen vorgenommenen "Korrekturen" aufgelöst haben will, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Unabhängig davon bietet es allen Interessierten die Gelegenheit - auch wenn es keine Einführung in den Marxismus sein will -, sich mit den Grundparametern der Marx'schen Werttheorie auseinanderzusetzen, allerdings auf die Gefahr hin, die dringende Bitte des Autors, sein Werk "so zu lesen und zu bewerten, wie es verstanden sein möchte", nämlich nach "allgemein anerkannten Interpretationsprinzipien", also so, "dass es Sinn macht" (S. x), zu ignorieren.

Nun werden Leserinnen und Leser ihre eigenen Vorstellungen davon haben, was "Sinn" macht und was nicht - egal, ob es nun um Marx' Werttheorie oder die hier vorgelegte Streitschrift geht. Leicht irritierend, um nicht zu sagen befremdlich wirken die Angaben des Autors darüber, was er mit seinem Buch alles nicht erreichen möchte. Es soll beispielsweise "nicht danach bewertet werden, ob man die Temporale Einzelsystem-Interpretation (TSSI) ansprechend, erhellend, nützlich oder was auch immer findet". Auch sollen Leserinnen und Leser das Buch nicht danach beurteilen, ob sie das Projekt der Widerlegung falscher Inkonsistenzvorwürfe mögen oder nicht; ebensowenig soll es eine Rolle spielen, "ob sie das Projekt einer Rückgewinnung des Kapital gut finden oder nicht", ja, es soll nicht einmal von Bedeutung sein, "ob sie die theoretischen, politischen oder anderen Implikationen der interpretativen Analyse billigen oder nicht" (S. x).

Bekanntlich besagt die angeblich durch die "simultanistische" Kritik disqualifizierte Werttheorie im wesentlichen, "dass der Wert einer Ware bestimmt wird durch den durchschnittlichen Aufwand an Arbeit, der aktuell zu ihrer Produktion benötigt wird" (S. 38). Was aber, wenn sich schon bei diesem marxistischen Kernelement Ungereimtheiten, um nicht zu sagen Widersprüche auftun, die alles Weitere, sprich das darauf beruhende theoretische Bauwerk mit all seinen Verästelungen, ins Wanken bringen könnten?


Foto: Zentralbibliothek Zürich, Public domain, via Wikimedia Commons

Titelblatt der Originalausgabe des ersten Bandes "Das Kapital" in einer Ausgabe von 1867 aus der Sammlung Saitzew in der Zentralbibliothek Zürich
Foto: Zentralbibliothek Zürich, Public domain, via Wikimedia Commons

Unnötig zu erwähnen, dass in einem kapitalistischen Produktionsprozess der Unternehmer, um den höchstmöglichen Profit zu erzielen, den Wert und den Preis seiner Ware möglichst hoch ansetzen und den geringstmöglichen Lohn zahlen wird, während die von ihm abhängig Beschäftigten eine möglichst hohe Bezahlung erwirtschaften wollen. Die Käufer der Ware wiederum haben gänzlich andere Wert-Vorstellungen, sie interessiert es nicht, wieviel Arbeit in der von ihnen gekauften Ware steckt. Ein Laie könnte sich da doch fragen, wie in einem solchen Konglomerat gegenläufiger Interessen ein einheitlicher "Wert" existieren und eine rechenbare Beziehung zwischen "Wert" und "Arbeit" postuliert werden könnte? Fehlt nicht bereits jede Basis für eine solche Vergleichbarkeit?

Marx stellt, dies mag erstaunen oder auch nicht, den Begriff "Arbeit" (etymologisch "schwere körperliche Anstrengung, Mühsal, Plage") nicht grundsätzlich in Frage, er bezeichnet sie in seiner Werttheorie als den einzigen wertschaffenden Faktor im kapitalistischen Produktionsprozess. Seine Erklärung, warum der Profit der Unternehmen ausschließlich auf Ausbeutung basiert, beruht auf seiner "Entdeckung" des Mehrwerts, wie er den Anteil des durch Arbeit geschaffenen Werts nennt, für dessen erzwungene Ableistung den Arbeitenden der Lohn vorenthalten wird, was die alleinige Quelle kapitalistischen Profits bildet. Um Ausbeutung zu kritisieren und abzulehnen, sind weder Mehrwert, Werttheorie oder die Perspektive auf eine klassenlose Gesellschaft erforderlich, genügt es doch vollkommen, die Zwangslage festzustellen, die Menschen dazu nötigt, zum Nutzen anderer zu arbeiten und sich mit einem Bruchteil des Gewinns zufrieden zu geben.

Mit Grundsatzfragen dieser oder ähnlicher Art hat der unter marxistischen Wirtschaftsweisen geführte Disput um die "richtige" Interpretation der Marx'schen Theorie aus Expertensicht nichts und von einem Laienstandpunkt aus bewertet vielleicht doch eine ganze Menge zu tun. Wenn die heiligste Kuh der marxistischen Theoriebildung, nämlich die Auffassung, Wert werde durch Arbeit geschaffen, als frag- und kritikwürdig bewertet wird, steht das Anliegen von Protagonisten wie Kliman, der das vorliegende Buch als einen Beitrag zur Widerlegung der Inkonsistenzvorwürfe begreift und von einer großen Aufgabe der gegenwärtigen Generation spricht, nämlich "die Sache Marx richtigzustellen" (S. 318), erst einmal hinten an.

Dies gilt umso mehr, wenn die politische Relevanz der gegensätzlichen und unvereinbaren Folgerungen, zu denen der Widerspruch zwischen der ursprünglichen Marx'schen Theorie und den von der simultanistischen Kritik mit Korrekturen versehenen Versionen geführt haben (S. 316), keineswegs klar ersichtlich ist. Bei dem "politisch wichtigsten Fall" geht es um das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, das Kliman zufolge von der richtigen, also temporalistischen Einzelsysteminterpretation abhängt. Es besagt, dass "Produktivitätsfortschritte unter kapitalistischen Bedingungen die Tendenz einer fallenden Profitrate hervorbringen" (S. 50), womit Marx nicht den Zusammenbruch des Kapitalismus vorhergesagt, sondern von unvermeidbaren und regelmäßig wiederkehrenden, aber vorübergehenden ökonomischen Krisen gesprochen habe (S. 54).

Marx selbst habe gesagt, wie Kliman schreibt, "es müssten gegenwirkende Einflüsse im Spiel sein, welche die Wirkung des allgemeinen Gesetzes durchkreuzen und aufheben" (S. 52), was, zumindest aus Laiensicht, Anlaß genug böte, dieses so wichtige Gesetz auf den Prüfstand zu stellen - zumal ungeklärt ist, inwiefern die aus dem Interpretationsdisput abgeleitete Streitfrage, ob im Kapitalismus unter bestimmten Voraussetzungen mit einer Tendenz zum Fall der Profitrate zu rechnen sei oder nicht, für Menschen von Belang sein könnte, die sich den herrschenden ökonomischen wie politischen Verhältnissen widersetzen wollen. Liegt die Frage nach der zukünftigen Entwicklung der Profitrate nicht vielmehr im Interesse der Unternehmen, um auf wirtschaftswissenschaftlich möglichst fundierter Basis Investitionsentscheidungen zur Profitmaximierung treffen zu können?


Abbildung: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Protagonisten der parteipolitisch organisierten frühen deutschen Arbeiterbewegung: August Bebel (oben links), Wilhelm Liebknecht (rechts daneben), Karl Marx als geistiger Vater (Mitte), Carl Wilhelm Tölcke (unten links), Ferdinand Lassalle (rechts daneben)
Abbildung: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Karl Marx indes hätte wohl kaum die sich in aller Welt ausbreitende und über inzwischen 150 Jahre fortbestehende Ideologie des Sozialismus respektive Kommunismus (mit)begründen können, hätte er den vielen unzufriedenen Menschen seiner und späterer Zeiten nichts zu sagen gehabt. Allein, es müssen nicht unbedingt die Theoriefragmente und -gerüste sein, schließlich war er auch ein Prophet in Sachen Revolution. Wie Kliman schreibt, habe Marx erwartet, dass "die Tendenzen des Systems in einer gesellschaftlichen Revolution münden", und zwar nicht wegen seines etwaigen Zusammenbruchs, sondern "wegen der Zentralisation des Kapitals und wegen des wachsenden Aufstands der Arbeiterklasse" (S. 54). Dass diese Zukunftsperspektive bislang nicht eingetroffen ist, könnte uns veranlassen, das Kapital, die Werttheorie, das Gesetz von tendenziellen Fall der Profitrate und was der theoretischen Dinge mehr sind, einer gründlichen Überprüfung und Infragestellung zu unterziehen - und sei es um des von Karl Marx formulierten Kategorischen Imperativs willen, der da lautet, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". (MEW 1: 385)


1. Dezember 2021



Andrew Kliman
Die Rückgewinnung des Marxschen "Kapital" -
Eine Widerlegung des Mythos innerer Widersprüchlichkeit
Mangroven Verlag, Kassel, 2021
Aus dem Englischen übersetzt von der RMC-Studiengruppe
341 Seiten
ISBN 9783946946182

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 170 vom 4. Dezember 2021


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