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REZENSION/760: Robert Kagan - The Jungle Grows Back (Geopolitik) (SB)


Robert Kagan


The Jungle Grows Back



America and Our Imperiled World

Robert Kagan, Sachbuchautor, Senior Fellow der renommierten Denkfabrik Brookings, Mitglied des Beratergremiums des State Department und Kolumnist für die Washington Post, dessen zahlreiche Artikel u. a. bei der New York Times, dem Wall Street Journal, Foreign Affairs, dem Weekly Standard und der New Republic erschienen sind, gehört zu den einflussreichsten Publizisten der USA. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert betätigt sich der 1958 geborene Kagan als Chefideologe einer übermächtigen Allianz aus republikanischen Neokonservativen und demokratischen Liberal-Interventionisten, die Amerikas angeblich gottgewollte militärische Überlegenheit anhimmeln und die wegen ihres äußerst rigiden Gruppendenkens Präsident Barack Obamas Berater und Redenschreiber Ben Rhodes 2016 abfällig "the Blob" in Anlehnung an das gleichnamige Science-Fiction-B-Movie aus dem Jahr 1958 (deutscher Titel "Blob - Schrecken ohne Namen") genannt hat.


Robert Kagan im Porträt beim Auftritt 2008 in Warschau - Foto: Mariusz Kubik, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

Robert Kagan
Foto: Mariusz Kubik, CC BY 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/3.0], via Wikimedia Commons

Bereits 2004 hat der damalige US-Außenminister Colin Powell bei einem Telefongespräch mit dem britischen Amtskollegen Jack Straw seine neokonservativen Kabinettskollegen in der Regierung George W. Bush, allen voran Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, dessen Vize Paul Wolfowitz und den Staatssekretär im Außenministerium John Bolton, als "the crazies" ("die Verrückten") bezeichnet, weil sie mittels "Regimewechsel" alle nicht-expliziten Partnerstaaten der USA in der islamischen Welt politisch und wirtschaftlich neu gestalten wollten. Powell, der unter George Bush sen. als Generalstabschef der USA beim ersten Golfkrieg 1991 gedient hatte, sollte bis an sein Lebensende 2021 nie darüber hinwegkommen, dass ihn die Neocons mit nachweislich fingierten Geheimdiensterkenntnissen zu seiner berühmt-berüchtigten Rede vor dem UN-Sicherheitsrat am 5. Februar 2003 über die Begründung des bevorstehenden, völkerrechtlich illegalen anglo-amerikanischen Einmarsches in den Irak - Stichwort Massenvernichtungswaffen - geschickt und damit vorgeführt haben.

Obwohl nicht Mitglied der Regierung von Bush junior hat Robert Kagan eine prominente und unrühmliche Rolle bei der propagandistischen Vorbereitung der Irak-Invasion gespielt. In einem Artikel, der im Januar 2002 - nur wenige Monate nach den welterschütternden Flugzeuganschlägen auf die Zwillingstürme des New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Arlington - in Rupert Murdochs Weekly Standard erschienen ist, behaupteten Kagan und sein ideologischer Gesinnungsgenosse Bill Kristol erstens, dass Saddam Hussein im Irak ausländische "Terroristen" in der Entführung von Passagiermaschinen ausbilden lasse, und zweitens, dass sich der Ägypter Mohammed Atta, der mutmaßliche Leiter der 9/11-Selbstmordoperation, einige Monate vor dem 11. September 2001 in Prag mit einem Mitglied des irakischen Geheimdiensts getroffen habe. Zwar entbehrten beide Behauptungen jeder sachlichen Grundlage, doch passten sie perfekt zur damaligen Hysterie rund um den "Global War on Terrorism", den Bush jun. ein halbes Jahr zuvor auf den Trümmern der eingestürzten Twin Towers verkündet hatte.


Frontalansicht des siebenstöckigen Brookings-Gebäudes - Foto: Gryffindor, This image was created with Hugin., Public domain, via Wikimedia Commons

Die Denkfabrik Brookings im Herzen von Washington, D.C.
Foto: Gryffindor, This image was created with Hugin., Public domain, via Wikimedia Commons

Robert Kagan, dessen Vater Donald Kagan Professor für klassische Geschichte an der Universität Yale und Autor eines vielbeachteten vierbändigen Werks über den Peleponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta war, hat ganz im Sinne von Leo Strauss, dem antimodernen Philosophen und geistigen Urvater der neokonservativen Bewegung in den USA, recht früh mit der Geschichtsverdrehung und der Verbreitung von Lügen und Halbwahrheiten im Dienste der "amerikanischen Sache" begonnen. In den achtziger Jahren arbeitete er in der Regierung Ronald Reagans, zuerst als Redenschreiber für Außenminister George Schultz und später in der Abteilung für inter-amerikanische Angelegenheiten des Außenministeriums, wo er am Rande der Iran-Contra-Affäre, bei der es um die illegale Bewaffnung und Ausbildung der rechtsgerichteten nicaraguanischen Contras im Kampf gegen die Sandinista-Regierung in Managua ging, PR-technisch aktiv wurde.

Robert Parry, der als Reporter der Associated Press und von Newsweek in Sachen Iran-Contra mehr als jeder andere Licht in die dunklen Machenschaften von Oliver North, Robert McFarlane, Caspar Weinberger und Konsorten geworfen hat, berichtete später von einer denkwürdigen Begegnung mit Kagan. Bei einem Pressebriefing im State Department wollte dieser den anwesenden Journalisten weismachen, die Sandinisten stellten eine inakzeptable Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA dar, denn sie planten den Einmarsch in Panama und eine Übernahme der Kontrolle über die für den Handel enorm wichtige gleichnamige Kanal-Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik. Nachdem sich Parry als einziger in der Runde mit Zweifeln an der Räuberpistole zu Wort gemeldet hatte, knüpfte ihn sich Kagan im Anschluss an die Versammlung vor, verurteilte ihn wegen seiner angeblich unpatriotischen Haltung und drohte ihm mit nicht näher erläuterten Konsequenzen. Später sollte Parry den Mainstream-Medien den Rücken kehren und sein eigenes, regierungskritisches Onlineportal Consortium News gründen.


Ronald Reagan am Rednerpult, hinter ihm eine Attrappe des Raumfahrzeugs, das die Laserkanone in den Weltraum befördern sollte - Foto: Reagan White House Photographs, Public domain, via Wikimedia Commons

Ronald Reagan macht Werbung für US-Laserkanonen in der Erdumlaufbahn beim Besuch einer Fabrik des Rüstungsunternehmens Martin Marietta in Waterton, Colorado am 24. Februar 1987
Foto: Reagan White House Photographs, Public domain, via Wikimedia Commons

Erst während der Präsidentschaft des Demokraten Bill Clinton sollte sich der Noch-Republikaner Robert Kagan einen Namen als neokonservativer Stichwortgeber und Polemiker machen. 1997 gründeten er und Bill Kristol das Project for a New American Century. Die Denkfabrik der Militaristen eröffnete ihr Büro im selben Washingtoner Gebäude, in dem das neokonservative American Enterprise Institute (AEI) zu Hause ist, bei dem später Kagans Bruder, der Militärhistoriker Frederick Kagan, eine einträgliche Stelle erhielt. Die erklärte Aufgabe des Projekts für ein Neues Amerikanisches Jahrhundert bestand darin, "für eine globale Führung Amerikas zu werben", weil so etwas angeblich "gut für Amerika und gut für die Welt" sei. Gefordert wurde, dass Washington eine "reaganistische Politik der militärischen Stärke und der moralischen Klarheit" verfolgen müsse. Worin diese "moralische Klarheit" besteht, ist bis heute für all jene, die keine Anhänger des Messianismus amerikanischer Prägung - auch amerikanischer Exzeptionalismus genannt - sind, ein Rätsel geblieben.

Dessen ungeachtet richtete das PNAC 1998 mittels einer einseitigen Anzeige in der New York Times einen offenen Brief an Clinton, in dem die neokonservative Führungsriege dringend den gewaltsamen Sturz Saddam Husseins sowie militärische Strafmaßnahmen gegen das Taliban- "Regime" in Afghanistan, das "Mullah-Regime" im Iran sowie das "Regime" Hafiz Al-Assad in Syrien forderte. Unterzeichnet wurde dieser Brief unter anderem von dem älteren Kagan und seinen beiden Söhnen, Kristol, Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz, Bolton, Ex-CIA-Chef James Woolsey und Richard Perle, der als Vizeverteidigungsminister Reagans wegen seines unerbittlichen Einsatzes für ein nationales Raketenabwehrsystem der USA, das Washington im Falle eines bevorstehenden Atomkriegs gegen Moskau oder Peking den schadlosen Ersteinsatz von Nuklearwaffen ermöglichen sollte, den Spitznamen "Fürst der Finsternis" erhielt.

Im Jahr 2000 veröffentlichte das PNAC den aufsehenerregenden Bericht "Rebuilding America's Defenses". In dem von Kagan mitverfassten Dokument beklagte man die fehlende Opferbereitschaft der amerikanischen Bevölkerung angesichts der historischen Herausforderungen, die auf die USA im 21. Jahrhundert bei der Aufrechterhaltung und Durchsetzung ihrer "wohlmeinenden Hegemonie" zukomme. Ohne ein "katalysierendes Ereignis" wie ein zweiter Überraschungsangriff à la Pearl Harbor sei das Land nicht aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken, so damals die Neocons. Welch ein Glück für sie, dass sich im darauffolgenden Jahr in New York und Arlington ein solch welthistorischer Vorfall mit 3000 Todesopfern zutrug. Ganz oben auf der Liste der im Dokument enthaltenen Forderungen stand der Aufbau eines amerikanischen Raketenabwehrsystems. Mit dessen Aufbau konnte Rumsfeld im Juni 2002 beginnen, nachdem Bush jun. Ende 2001 zu diesem Zweck den ABM-Vertrag mit Russland aus dem Jahr 1972 aufgekündigt hatte.


Die Kagans - er in blauem Hemd und Jeans, sie im Tarnanzug mit Kamera in der Hand - spazieren lächelnd durch das Zentrum Basras - Foto: Sgt. Tim Ortez, Public domain, via Wikimedia Commons

Frederick und Kimberly Kagan besichtigen zu Fuß die südirakische Stadt Basra im Juli 2008
Foto: Sgt. Tim Ortez, Public domain, via Wikimedia Commons

Damals, in den Monaten zwischen den 9/11-Flugzeuganschlägen und dem Einmarsch in den Irak im März 2003, wähnten sich die Neokonservativen in einem wahren Siegesrausch angesichts der einmaligen Gelegenheit zur Neuentfaltung amerikanischer Macht. Mit dem Einfall in Afghanistan und der Eröffnung eines Foltergefängnisses für "Terroristen" auf dem Gelände des US-Marinestützpunkts Guantánamo Bay auf Kuba Ende 2001 unterstrichen die USA einerseits ihre globale Reichweite und andererseits ihre Missachtung internationaler Menschenrechtsnormen. Bei seiner Rede zur Lage der Nation im Januar 2002 erklärte George W. Bush den Irak, den Iran und Nordkorea zur "Achse des Bösen". Alle Nicht-Amerikaner müssten sich entscheiden, ob sie auf der Seite der USA oder der "Terroristen" stünden. Als sich im Unterschied zu Großbritannien die EU-Führungsmächte Deutschland und Frankreich weigerten, am Mesopotamien-Feldzug Washingtons teilzunehmen, kanzelte Rumsfeld sie als "altes Europa" ab und lobte dafür die demonstrative Unterstützung der osteuropäischen Staaten. Fast gleichzeitig verhöhnte Robert Kagan die Alte Welt mit dem Buch "Of Paradise and Power", in dem er die Art Amerikas, seinen Einfluss auf die Welt auszuüben, als entscheidungsfreudig, martialisch und zielgerichtet lobte, die der ehemaligen Kolonialmächte dagegen als zögerlich, pazifistisch und bürokratisch der Lächerlichkeit preisgab.

Doch das Bürgerkriegschaos, das nach dem erfolgreichen Sturm auf Bagdad im Frühjahr 2003 den Irak der Nach-Saddam-Hussein-Ära erfasste, und der scheinbar niemals endende Krieg gegen die Taliban in Afghanistan führten recht schnell dazu, dass die amerikanische Bevölkerung weniger empfänglich für die Verheißungen des westlichen "Demokratieexports" wurde. Ihre wachsende Ablehnung gegenüber weiteren militärischen Abenteuern im Ausland, die sowohl zur Wahl Barack Obamas 2008 als auch Donald Trumps 2016 maßgeblich beitrug, steht im Mittelpunkt des jüngsten Buchs von Robert Kagan, "The Jungle Grows Back: America and Our Imperiled World". In dem 2018 erschienenen Manuskript werden vor allem die geopolitischen Entwicklungen der letzten Jahre für allerlei Ermahnungen aufgegriffen, warum die Hegemonie der USA für die Welt und ihre Bewohner die beste aller denkbaren Lösungen sei und weshalb nicht nur die Amerikaner, sondern der gesamte Westen, Japan und Südkorea eingeschlossen, die "liberale Ordnung", den zivilisatorischen "Garten" vor dem ständigen Vordringen des barbarischen "Dschungels" verteidigen müsse.

Dabei bedient sich Kagan trotz aller wohldosierten Kritik an den außenpolitischen Fehltritten der USA seit 1945 im Verlauf seines gut lesbaren Narrativs einer reichlichen Geschichtsklitterung. Wie er es formuliert, hätten die USA beispielsweise die gewaltsame Absetzung demokratischer Regierungen 1953 im Iran, 1954 in Guatemala, 1973 in Chile und 2013 in Ägypten lediglich zugelassen. Die maßgebliche Finanzierung und Leitung durch die CIA in allen vier Episoden blendet Kagan einfach aus. Völlig unerwähnt bleibt gerade in dieser geschichtlichen Aneinanderreihung von CIA-Putschen der Sturz Sukarnos 1965 und die Ermordung von rund einer Million mutmaßlicher oder tatsächlicher Kommunisten in Indonesien - eine gruselige Aktion, die zur Blaupause der Operation Condor in Lateinamerika der sechziger und siebziger Jahre wurde. Der aus Kagans Sicht bedauerliche Vietnamkrieg kommt zwar im Buch vor, nicht jedoch die gleichzeitige illegale Bombardierung Kambodschas durch die US-Luftwaffe, die nach Schätzung von König Sihanouk 600.000 Menschen das Leben kostete. Über die rund eine Million getöteten Iraker infolge der von ihm mitzuverantwortenden Besetzung durch ausländische Truppen verliert Kagan kein Wort.

Was die fehlende Objektivität betrifft, so feiert sie Kagan im vorliegenden Buch geradezu. Er, der 2016 als außenpolitischer Berater Senator John McCain im Kampf um die Präsidentschaft gegen Barack Obama zur Seite stand, kritisiert letzteren dafür, dass er die US-Bodentruppen 2011 aus dem Irak abgezogen und angeblich dem Pentagon so strenge Vorgaben in Afghanistan gemacht hat, dass die Truppenaufstockung unter General Stanley McChrystal im Jahr 2009 nicht denselben Erfolg wie der "Surge" im Irak unter General David Petraeus von 2007 und 2008 zeitigte. Indessen dürfte den wenigsten bekannt sein, dass Kagans Bruder Frederick und dessen Frau Kimberly, Gründerin der Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW), als externe Berater beide Befriedungsmaßnahmen begleitet haben. Zudem gibt es auch in den USA namhafte Militärexperten, welche die Berichte über den vermeintlichen Erfolg Petraeus' im Irak und McChrystals angeblich verpasste Chance in Afghanistan für einen neokonservativen Mythos halten.


Petraeus in Uniform am Stehpult, hinter ihm eine blaue Werbewand mit dem Namen des CNAS mehrfach in weißer Schrift - Foto: Williamjohn.shields at English Wikipedia, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

David Petraeus, damals CENTCOM-Chef, bei einer Rede am Center for a New American Security 2009
Foto: Williamjohn.shields at English Wikipedia, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Ab 2011 führte Kagan diejenigen Kommentatoren an, die von Obama die Verhängung einer Flugverbotszone in Syrien durch die USA forderten. In "The Jungle Grows Back" beschreibt Kagan den Bürgerkrieg und den daraus resultierenden Flüchtlingsstrom, der später die EU destabilisieren sollte, wie eine Naturkatastrophe: Dieser Krieg sei schlicht "metastasiert" und Obama, als Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte aus Kaganscher Perspektive der eigentlich zuständige Arzt, habe die Behandlung verweigert. Dabei war es die CIA, die im Rahmen der großangelegten Operation Timber Sycamore eine Reihe dschihadistischer Gruppen mit eindeutiger Nähe zum Al-Kaida-"Netzwerk" Osama Bin Ladens mit Waffen überhäuft und die ursprünglichen Bürgerproteste in ein großes Abschlachten verwandelt hat. Mit solchen unappetitlichen Details verschont Kagan die Leserschaft natürlich.

Was ihn jedoch so richtig in Rage versetzte war die Entscheidung Obamas, nach einem Vorfall mit chemischen Waffen im Sommer 2013 in Syrien dort nicht militärisch einzugreifen. Dies sei ein Zeichen der Schwäche gewesen, das dem Ansehen Amerikas schwer geschadet habe, behauptete er damals wie auch im vorliegenden Buch. Im Gegensatz zu Kagan war Obama zum fraglichen Zeitpunkt seines umstrittenen Entschlusses überhaupt nicht klar, dass das "Regime" Baschar Al Assads den tödlichen Angriff zu verantworten habe. Viele Anzeichen und Erkenntnisse sprachen für eine Falsche-Flagge-Aktion der Rebellen mit Hilfe des türkischen Geheimdienstes, um die Lage im Sinne der Scharfmacher auf westlicher Seite eskalieren zu lassen. Deshalb hat Obama dem Vorschlag Russlands zugestimmt, sämtliche Chemiewaffenbestände des syrischen Staats unter internationaler Aufsicht außer Landes zu schaffen und zu vernichten.


Ausgebombte Wohn- und Geschäftsgebäude und verzweifelte Bewohner der syrischen Stadt Azas im August 2012 - Foto: Voice of America News: Scott Bob report from Azaz, Syria., Public domain, via Wikimedia Commons

Folgen des Versuchs der USA, in Syrien einen Regimewechsel mit Hilfe von Dschihadisten herbeizuführen, nach einem Jahr Bürgerkrieg deutlich sichtbar
Foto: Voice of America News: Scott Bob report from Azaz, Syria., Public domain, via Wikimedia Commons

Wie einst für seinen 2018 verstorbenen Kameraden im Geiste, den notorischen Kriegstreiber McCain, ist auch für Kagan Russland ein rotes Tuch. Aus seiner Sicht müsse zwingend der internationale Einfluss sowohl der Russischen Föderation als auch der Volksrepublik China zurückgedrängt werden. Kagan hält beide Länder für äußerst aggressive Feindstaaten, die früher oder später niedergerungen und am besten in kleinere, kontrollierbarere Einheiten zerlegt werden sollen. Deshalb setzt er - ganz wie Hillary Clinton, die er wegen ihrer vermeintlich staatsmännischen Weitsicht 2016 im Wahlkampf gegen den "Isolationisten" Donald Trump unterstützte - den russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Adolf Hitler gleich, während er in Chinas Staatschef Xi Jinping einen zweiten Joseph Stalin sieht.

Nach der Einverleibung der Krim durch Russland im Sommer 2014 sollte Washingtons Geduld mit Moskau ein Ende haben, so Kagan. Nur die wenigsten wissen, dass dessen Frau, Victoria Nuland, in die damaligen Vorgänge in der Ukraine zutiefst verstrickt war. Nuland, die unter Bill Clinton im Stab von Strobe Talbotts im Außenministerium mit den Beziehungen zu Russland befasst war, wechselte unter George W. Bush in den Beraterstab von Vizepräsident Cheney. Nach einem kurzen Intermezzo als Vorsitzende des Center for a American Security, angeblich die Washingtoner Denkfabrik mit den engsten Verbindungen zur US-Rüstungsindustrie, wurde Nuland unter Obama Staatssekretärin im State Department mit Verantwortung für europäische Angelegenheiten. In dieser Position koordinierte sie in Absprache mit Außenminister John Kerry und Vizepräsident Joe Biden sowie mit der offenen Unterstützung John McCains ab Ende 2013 jene CIA-Operation, mittels derer aus den Anti-Korruptionsprotesten auf dem Kiewer Maidan Anfang 2014 ein mörderischer Putsch gegen die Russland-freundliche Regierung Wiktor Janukowytchs wurde.


Blick auf den Maidan mit dem Hinterkopf McCains im Vordergrund und einer größeren Menschenmenge vor ihm stehend - Foto: United State Senate - the Office of Chris Murphy, Public domain, via Wikimedia Commons

US-Senator John McCain mischt sich am 15. Dezember 2013 mit einer flammenden Rede in die ukrainische Innenpolitik ein
Foto: United State Senate - the Office of Chris Murphy, Public domain, via Wikimedia Commons

Nuland war es auch, die 2015 nachweislich die Umsetzung des von Russland, Frankreich und Deutschland angestoßenen Minsk-II-Abkommens zur Beilegung des Konflikts zwischen der neuen pro-westlichen Regierung in Kiew und den pro-russischen Rebellengebieten in der Donbass-Region gezielt torpedierte. Dass Nuland keine hohe Meinung von den diplomatischen Bemühungen der Westeuropäer um partnerschaftliche Beziehungen zu Russland hat, weiß man spätestens seit Bekanntwerden ihres notorischen Telefon-Ausrutschers "Fuck the EU" auf dem Höhepunkt der Maidan-Unruhen. Kagans Frau und jahrelange Lektorin kommt im Buch nicht vor, dafür wird dort die ganze Schuld für die Ukraine-Krise, die seit Februar 2022 in einen großangelegten Bodenkrieg unter Beteiligung regulärer russischer Streitkräfte ausgeartet ist, schlicht dem Expansionsstreben des Kremls und Putins Großmannssucht angelastet. Wie sollte es angesichts eines derart manichäischen Weltbildes, dessen sich Robert Kagan befleißigt, auch anders sein.

Im Grunde hat Kagan den Sinn für die geopolitische Wirklichkeit längst verloren. Er schreibt so, als seien die USA immer noch die mit Abstand dominierende Wirtschaftsmacht wie einst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als Europa und Ostasien in Schutt und Asche lagen. Für den rasanten Aufstieg Chinas hat er keine Erklärung, außer dass es sich um eine negative und destabilisierende Entwicklung handeln müsse. Auf den wirtschaftlichen Niedergang der USA infolge des Exports unzähliger gut bezahlter Arbeitsplätze in Billiglohnländer, der jahrzehntelangen Vernachlässigung der zivilen Infrastruktur bei gleichzeitiger Ressourcenverschwendung durch unnötige Kriege im Ausland sowie die Aufrechterhaltung eines irrsinnig aufgeblähten Militärapparats samt Rüstungssektors geht er gar nicht erst ein.

Und wie, bitte sehr, soll Amerika, wie von Kagan gewünscht, weiterhin als demokratisches Modell für die übrige Welt herhalten angesichts einer innenpolitischen Polarisierung, die das Land an den Rand eines Bürgerkriegs - siehe die gewaltsamen Proteste am Kapitol gegen die Abwahl Trumps am 6. Januar 2021 und die aufgeflammte Kontroverse um das Recht auf Abtreibung - geführt hat? Kagan und seinesgleichen im Washingtoner "Blob" halten sich bekanntlich für schlauer als die weniger gebildeten Mitbürger Amerikas, die sie mit mit ihren geostrategischen Formeln zu blenden versuchen. Doch mit Büchern wie "The Jungle Grows Back", dessen Quintessenz nicht über das Niveau des bekannten Spruchs aus der TV-Fantasyserie "Highlander" - "Am Ende kann es nur einen geben" - hinausreicht, erweisen sich die Neocons ungeachtet aller Belesenheit als die wahren Höhlenbewohner.

Vor diesem Hintergrund mutet der Umstand, dass das bereits erwähnte neokonservative Institute for the Study of War (ISW) für die Leitmedien des Westens wie die New York Times und die BBC als bevorzugte Quelle für Nachrichten und Einschätzungen über das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine fungiert, mehr als bedenklich an.


Putin empfängt das US-Diplomatenduo in einem prunkvollen Saal des Kremls - Foto: U.S. Department of State from United States, Public domain, via Wikimedia Commons

US-Außenminister John Kerry stellt Staatssekretärin Victoria Nuland Wladimir Putin beim Treffen mit dem russischen Präsidenten am 15. Dezember 2015 im Kreml vor
Foto: U.S. Department of State from United States, Public domain, via Wikimedia Commons

27. Juni 2022

Robert Kagan
The Jungle Grows Back
America and Our Imperiled World
Alfred A. Knopf, New York, 2018
192 Seiten
ISBN-13: 978-1-0525563570


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 175 vom 2. Juli 2022


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