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AFRIKA/188: Libyen - Zwischen den Fronten (ai journal)


amnesty journal 10/11/2011 - Das Magazin für die Menschenrechte

Zwischen den Fronten

von Daniel Kreuz


Ein Amnesty-Bericht über den Bürgerkrieg in Libyen dokumentiert zahlreiche Kriegsverbrechen durch die Gaddafi-Truppen. Doch auch die Aufständischen begingen Menschenrechtsverletzungen.


Mo'ayed Boujlawi hatte keine Chance. Der 25-jährige Libyer demonstrierte am 17. Februar 2011 in Bengasi gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi und für die Freiheit. Er war friedlich und unbewaffnet. Ein Scharfschütze tötete ihn mit einem gezielten Schuss in den Unterleib. Die Demonstranten hatten zuvor noch in Sprechchören gerufen: "Das Volk und die Polizei sind Blutsbrüder." Mindestens 13 Demonstranten wurden an diesem Tag erschossen.

Der Mord an Boujlawi und die brutale Niederschlagung der friedlichen Proteste in Bengasi ist nur ein Beispiel für die schweren Menschenrechtsverletzungen durch Gaddafis Truppen, die der Mitte September veröffentlichte Amnesty-Bericht "Die Schlacht um Libyen" dokumentiert. Seit Ende Februar hatten Amnesty-Experten mehrere Monate lang im Land sowie in Flüchtlingslagern in Tunesien und Ägypten ermittelt. Sie sprachen mit Zeugen und Familienangehörigen, sichteten Handy-Aufnahmen und Obduktionsberichte, untersuchten Einschusslöcher und Munitionsreste.

Die 42 Jahre, die Gaddafi Libyen regierte, waren geprägt von schweren Menschenrechtsverletzungen. Dementsprechend brutal ging der selbsternannte "König der Könige" auch gegen die Proteste vor. Seine Sicherheitskräfte verschleppten und folterten mutmaßliche Oppositionelle und töteten Gefangene. Auch griffen sie wahllos die Zivilbevölkerung an, indem sie Wohngebiete mit Mörsern, Panzern und Artillerie unter Beschuss nahmen, was nach dem Völkerrecht als Kriegsverbrechen gilt.

Die Amnesty-Ermittler fanden aber auch - in geringerem Ausmaß - Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, die von den Rebellen begangen wurden. Der Bericht dokumentiert mehrere Fälle, in denen Angehörige der Gaddafi-Truppen nach ihrer Gefangennahme von den Aufständischen gefoltert und - an Händen und Beinen gefesselt - erschossen wurden. Während der Kämpfe verbreitete sich das Gerücht, dass Gaddafi vor allem Schwarze aus der Subsahara als Söldner angeworben habe. In einigen Städten kam es deshalb zu einer regelrechten Jagd auf Schwarze und dunkelhäutige Libyer. Die Amnesty-Ermittler fanden bei ihrer Recherche im Osten des Landes jedoch keine Belege für die Gerüchte über afrikanische Söldner. In Gesprächen mit inhaftierten Afrikanern gewannen die Ermittler hingegen den Eindruck, dass es sich um Arbeitsmigranten oder Flüchtlinge handelt. Amnesty hat den Nationalen Übergangsrat aufgefordert, weitere Racheakte gegen vermeintliche oder tatsächliche Gaddafi-Anhänger zu verhindern.

Zeitgleich mit dem Bericht veröffentlichte Amnesty Empfehlungen an den Nationalen Übergangsrat zur Neugestaltung Libyens. Die Organisation fordert, den Schutz der Menschenrechte ins Zentrum zu rücken. Oberste Priorität hat der Aufbau einer unabhängigen Justiz, die in der Lage ist, die Verantwortlichen für die Verbrechen der Vergangenheit zur Rechenschaft zu ziehen. Damit die Libyer wieder Vertrauen in ihren Staat fassen - und damit Mo'ayed Boujlawi und alle anderen nicht umsonst gestorben sind.


Den vollständigen Bericht finden Sie auf www.amnesty.de


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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2011, S. 12
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. November 2011