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AKTION/765: Urgent Action - Großbritannien - Drohende Zwangsräumung


ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-245/2011-1, AI-Index: EUR 45/015/2011, Datum: 5. September 2011 - ns

Großbritannien
Drohende Zwangsräumung


86 FAMILIEN

Bis zu 86 nicht sesshaften Familien (Travellers), die derzeit in der Siedlung Dale Farm in Cray's Hill in Essex leben, könnte die unmittelbare Zwangsräumung bereits am 19. September bevorstehen. Sollte die Räumung stattfinden, würden viele der bislang dort lebenden Menschen obdachlos oder blieben ohne eine angemessene Unterkunft.

Die Aufforderung der zuständigen Behörde des Bezirks Basildon an die in der Siedlung Dale Farm lebenden Familien, die von ihnen bewohnten Grundstücke zu verlassen, lief am 31. August ab. Von der Aufforderung waren zwischen 300 und 400 Personen betroffen, die sich ohne Genehmigung dort angesiedelt hatten. Am 31. August hatte der High Court of England and Wales (oberster Gerichtshof) den Eilantrag einiger BewohnerInnen, die eine Klage gegen die Zwangsräumung einreichen wollten, auf eine gerichtliche Überprüfung abgelehnt. Am 5. September bestätigte die Behörde des Bezirks Basildon, dass die Stromversorgung am 19. September eingestellt wurde und dass das Unternehmen dann konkrete Maßnahmen ergreifen werde, um die Grundstücke zu räumen. Dies geschah obwohl der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung die britischen Behörden dazu aufgefordert hatte, die Zwangsräumungsaufforderung aufzuheben und vor der Räumung für angemessene Ersatzunterkünfte zu sorgen in Übereinstimmung mit internationalen und regionalen Menschenrechtsnormen.

Die Zwangsräumung würde dazu führen, dass die BewohnerInnen von Dale Farm über keine angemessene Ersatzunterkunft verfügen würden und auch keinen Zugang zu Grundleistungen wie Schulen oder eine angemessene medizinische Versorgung für Kranke hätten. Viele der BewohnerInnen fürchten, obdachlos zu werden. Angehörige der ethnischen Gruppe der Irish Travellers beklagten, auf breiter Front diskriminiert zu werden, und sind in Sorge, keine ihren kulturellen Gepflogenheiten gerecht werdende Unterkunft zu finden, falls es auf dem Verhandlungsweg zu keiner Einigung kommt. Mit den von der angedrohten Räumung betroffenen Menschen haben keine Beratungen über etwaige alternative und ihrer Kultur gemäße Wohnmodelle stattgefunden. Einigen sind konventionelle Wohnungen angeboten werden, die zu beziehen sie jedoch abgelehnt haben. Bislang hat die Behörde nicht allen der von Räumung betroffenen Menschen eine ihrer Kultur entsprechende Unterkunft angeboten.


HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Laut Völkerrecht dürfen Zwangsräumungen nur als letztes Mittel eingesetzt werden, wenn sämtliche Alternativen ausgeschöpft sind und eine wirkliche Konsultation mit den betroffenen Gemeinschaften stattgefunden hat. Die Behörden sind verpflichtet, ausreichende Fristen zu wahren, Rechtsmittel zuzulassen, angemessene und den kulturellen Besonderheiten der betroffenen Gemeinschaften Rechnung tragende Ersatzunterkünfte bereit zu stellen sowie Entschädigungen zu leisten. Sie müssen sicherstellen, dass keine Person infolge der Räumung obdachlos oder anderweitig in ihren Menschenrechten verletzt wird.

Dale Farm ist die größte Traveller-Siedlung in Großbritannien. Sie befindet sich auf Ländereien, bei deren EigentümerInnen es sich um Travellers, Roma und Gypsies handelt. Das Gelände darf als Wohnraum genutzt werden und ist von der Behörde Basildon Council als Wohngebiet ausgewiesen worden. Demjenigen Teil von Dale Farm, aus dem nun bis zu 400 irische Travellers die Zwangsräumung droht, ist aufgrund örtlicher Bebauungsbeschränkungen die Nutzung als Wohngebiet versagt geblieben. Einige Menschen leben dort schon seit mehr als elf Jahren. Sie berichteten Amnesty International, niemals zuvor an einem Ort derart lange gewohnt zu haben. VertreterInnen von Amnesty International hielten sich im April und erneut im Mai in Dale Farm auf, nachdem die Behörde Basildon Council im März eine "Ortsbegehung" beschlossen hatte. Die Delegierten sprachen mit mehreren in Dale Farm wohnenden Travellers, Mitgliedern örtlicher Nichtregierungsorganisationen, VertreterInnen der Vereinigung Dale Farm Housing Association und Mitgliedern von Verbänden der Gypsies und Travellers. Die GesprächspartnerInnen gaben ihrer Befürchtung Ausdruck, dass die Zwangsräumung von Dale Farm den Kindern die Möglichkeit nehmen wird, weiterhin ihre seit Jahren bestehende Schule zu besuchen. Unter Umständen müssten sie sich in ein ganz neues Schulumfeld einleben, in dem die Gefahr der Diskriminierung gegeben sein könnte. An schweren Krankheiten leidende BewohnerInnen von Dale Farm äußerten die Befürchtung, in anderer Umgebung sei möglicherweise ihre medizinische Versorgung nicht mehr gewährleistet. Familien mit Kleinkindern wiederum treibt die Sorge um, dass sie zukünftig von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten sein könnten. Mehrere BewohnerInnen von Dale Farm erklärten, ihnen sei keine ihren kulturellen Bedürfnissen gerecht werdende Wohnalternative angeboten worden. Sie fürchten um den Zusammenhalt ihrer Großfamilien, wenn einige von ihnen nicht mehr in Wohnwagen, sondern in Häusern leben.


EMPFOHLENE AKTIONEN

SCHREIBEN SIE BITTE FAXE ODER LUFTPOSTBRIEFE MIT FOLGENDEN FORDERUNGEN

- Bitte geben Sie Ihr Vorhaben auf, die Siedlung Dale Farm zu räumen und schneiden Sie die Wohnwagen nicht von der Wasser- und Stromversorgung ab.

- Ich fordere Sie hiermit auf, regionalen und internationalen Menschenrechtsstandards zum Schutz vor Zwangsräumungen gerecht zu werden und sicherzustellen, dass geplante Räumungen nicht den internationalen und innerstaatlichen Verpflichtungen der örtlichen Behörden zur Verhinderung von Diskriminierung zuwiderlaufen.

- Ich bitte Sie, mit den BewohnerInnen von Dale Farm auf dem Verhandlungsweg eine Einigung anzustreben, die ihnen wirkliche Mitspracherechte zugesteht. Im Fall einer nicht abzuwendenden Räumung muss sichergestellt sein, dass die BewohnerInnen angemessene und ihrer kulturellen Identität gerecht werdende Ersatzunterkünfte beziehen können.


APPELLE AN

LEITER DER BEHÖRDE BASILDON COUNCIL
Bala Mahendran, Basildon Borough Council
The Basildon Centre, St. Martin's Square
Basildon, Essex SS14 1DL, GROSSBRITANNIEN
(korrekte Anrede: Dear Mr. Mahendran / Sehr geehrter Herr Mahendran)
Fax: (00 44) 1268 294 747
E-Mail: bala.mahendran@basildon.gov.uk

RATSVORSITZENDER
Tony Ball, Basildon Borough Council
The Basildon Centre, St. Martin's Square
Basildon, Essex SS14 1DL, GROSSBRITANNIEN
(korrekte Anrede: Dear Councillor Ball / Sehr geehrter Herr Ball)
Fax: (00 44) 1268 294 350
E-Mail: membersupport@basildon.gov.uk


KOPIEN AN

PARLAMENTARISCHER UNTERSTAATSSEKRETÄR
Bob Neill MP, Department for Communities and Local Government, Eland House
Bressenden Place, London SW1E 5DU
GROSSBRITANNIEN
Fax: (00 44) 303 444 3986
E-Mail: bob.neill@communities.gsi.gov.uk

BOTSCHAFT DES VEREINIGTEN KÖNIGREICHS GROßBRITANNIEN UND NORDIRLAND
S.E. Herrn Simon Gerard McDonald
Wilhelmstr. 70, 10117 Berlin
Fax: 030-2045 7579
E-Mail: info@britischebotschaft.de


Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 17. Oktober 2011 keine Appelle mehr zu verschicken.


PLEASE SEND APPEALS IMMEDIATELY

- Urging the local authority to stop the planned forced evictions at Dale Farm and to refrain from cutting off water and electricity supplies to those caravans identified for eviction.

- Calling on the authorities to comply with regional and international human rights standards on evictions; and to ensure that any proposed enforcement is in accordance with the local authority's anti-discrimination obligations under domestic and international law.

- Calling on the authorities to work towards a negotiated settlement with those living at Dale Farm which includes genuine consultation and, if an eviction is unavoidable, to ensure they have adequate alternative housing which allows them to express their cultural identity.


HINTERGRUNDINFORMATIONEN - FORTSETZUNG

Die Irish Travellers sind eine aus Irland stammende Volksgruppe, die nach britischem Recht als ethnische Gruppe anerkannt und geschützt ist. Viele der Irish Travellers leben in Wohnwagen - entweder mit offizieller Genehmigung auf dafür vorgesehenen Plätzen oder ohne behördliche Erlaubnis auf anderen Grundstücken. Gesetzesänderungen Mitte der 1990er Jahre, mit denen örtliche Behörden aus der Pflicht zur Bereitstellung von Plätzen für die Wohnwagen der Travellers entlassen wurden, haben dazu geführt, dass viele Travellers nun auf dafür nicht autorisiertem Gelände oder in dauerhaft angemieteten Wohnungen leben. Mit der Gesetzesnovelle wurden zudem die Befugnisse der Polizei erweitert, Travellers aus einem breiten Spektrum von Ländereien wie etwa Gemeindeland oder Autobahnrastplätzen zu vertreiben. Ähnlich wie Angehörige der in Großbritannien lebenden Roma und Gypsies sehen sich Travellers weitreichender Diskriminierung und erheblichen Hindernissen bei der umfassenden Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte wie die auf Wohnraum, Schulbildung und Gesundheit ausgesetzt. Die Regierung plant nun neue Richtlinien einzuführen, die den örtlichen Behörden mehr Handlungsmacht zusprechen, um nicht genehmigte Räumungen zu stoppen. Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung machte in seiner abschließenden Beurteilung vom 5. September auf die weitreichende Diskriminierung der Gypsies und der Travellers in Großbritannien und den Mangel an Aufenthaltsorten aufmerksam. Außerdem rief er Großbritannien dazu auf, sicherzustellen, dass die betroffenen Travellers und Gypsies angemessen beraten werden, bevor weitere Schritte eingeleitet werden, wie es in den neuen Richtlinien vorgeschlagen wird.

Am 5. August 2011 riefen der UN-Sonderberichterstatter über das Recht auf angemessenes Wohnen und die Unabhängige Expertin für Minderheitenfragen zum Abschluss einer an internationalen Menschenrechtsstandards orientierten Vereinbarung über die Umsiedlung der bis zu 86 Familien auf. Beide UN-ExpertInnen wiesen ausdrücklich auf die besonderen Bedürfnisse der schätzungsweise 110 betroffenen Kinder sowie der schwer erkrankten oder unter einer Behinderung leidenden Menschen hin. Einige Religions- und GlaubensführerInnen in Großbritannien riefen ebenfalls dazu auf, die Räumungen aus humanitären Gründen zu stoppen. Am 2 September bezeichnete der Menschenrechtskommissar des Europarates die drohende Zwangsräumung als voreilige und unkluge Handlung und forderte die örtlichen Behörden auf, eine Lösung mit den betroffenen BewohnerInnen auszuhandeln.


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Quelle:
ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-245/2011-1, AI-Index: EUR 45/015/2011, Datum: 5. September 2011 - ns
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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Fax: 030/42 02 48 - 330
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Internet: www.amnesty.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2011