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ASIEN/218: Der Traum vom freien Indien (ai journal)


amnesty journal 01/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte

Der Traum vom freien Indien
Vor 60 Jahren wurde Mahatma Gandhi erschossen. In seinem Handeln orientierte er sich vor allem an den Menschenrechten und dem Prinzip völliger Gewaltlosigkeit.

Von Michael Gottlob


Die Szene aus Richard Attenboroughs Film "Gandhi" ist weltberühmt: Am späten Nachmittag des 30. Januar 1948 sinkt Mohandas Karamchand "Mahatma" Gandhi von einer Kugel getroffen zu Boden. Er war gerade auf dem Weg zu einem öffentlichen Gebet, als er im Garten seines Gastgebers Birla in Neu Delhi erschossen wird. Menschenmassen geleiten Gandhis Leichnam einen Tag später zum Ufer des Jamuna-Flusses, wo er eingeäschert wird. Das Ufer ist heute ein Ort des Gedenkens an jenen Politiker, von dem Albert Einstein sagte: "Künftige Generationen werden es nicht für möglich halten, dass ein Mensch wie dieser jemals in Fleisch und Blut auf dieser Erde einher wandelte."

Am 15. August 2007 feierte Indien das 60. Jubiläum seiner Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Großbritannien. Gandhi hatte den Freiheitskampf, der die Engländer dazu brachte, Indien in die Unabhängigkeit zu entlassen, entscheidend geprägt. In seinem politischen Handeln orientierte sich Gandhi am Prinzip der Gewaltlosigkeit ("ahimsa") und an den Menschenrechten. Schon 1931, auf der 45. Sitzung des Indischen Nationalkongresses in Karachi, hatte Gandhi eine Erklärung der Grundrechte eingebracht und die Briten mit ihren eigenen Werten konfrontiert. Zu seinen Forderungen gehörten nicht nur politische und bürgerliche, sondern auch soziale und kulturelle Rechte. Sie gingen später als Leitprinzipien staatlichen Handelns in die indische Verfassung ein. Menschenrechtsorganisationen kritisieren allerdings, dass diese Prinzipien nicht einklagbar sind.

Einfluss auf die Politik des unabhängigen Indiens hatte Gandhi nicht mehr. Sein gewaltsamer Tod ließ schlagartig die Gegenkräfte erkennen, die sich in Teilen der indischen Gesellschaft formiert hatten. Nathuram Godse, Gandhis Mörder, war Mitglied des Nationalen Freiwilligen-Verbands ("Rashtriya Swayamsevak Sangh"), der für ein hinduistisches Indien kämpfte. Der Verband verurteilte Gandhi wegen seiner angeblich zu großen Zugeständnisse an die Muslime im Land. Nach dem Attentat blieb der Hindunationalismus lange aus der indischen Politik verbannt. In den neunziger Jahren erlebte er aber eine Renaissance, als die Indische Volkspartei ("Bharatiya Janata Party", BIP) zur dominierenden politischen Kraft aufstieg. Im Bundesstaat Gujarat, der Heimat Gandhis, kam es im Jahr 2002 zu schweren Pogromen an der muslimischen Bevölkerung. amnesty international hat dazu einen ausführlichen Bericht vorgelegt (AI Index: ASA 20/001/2005). Bis heute sind die Morde an tausenden Muslimen nicht aufgeklärt, und die Behörden in Gujarat verhindern die juristische Aufarbeitung nach Kräften.

Dissenz bestand aber auch zwischen Gandhi und seiner eigenen Kongresspartei, die mit kurzer Unterbrechung von 1947 bis 1998 regierte und seit 2004 den Ministerpräsidenten stellt. Die Kongresspartei folgte einem westlichen Entwicklungsmodell, das eine massive Industrialisierung Indiens befürwortete. Gandhi hatte diese Pläne für das postkoloniale Indien immer abgelehnt. Seine Vorstellung von Basisdemokratie und nachhaltiger Wirtschaft lebt heute in den Graswurzelbewegungen und indischen Nichtregierungsorganisationen fort. So können sich auch die lokalen Gemeinschaften in Orissa und Westbengalen auf Gandhi berufen, die sich gegenwärtig gegen eine Zwangsumsiedlung zugunsten großer Wirtschaftsprojekte wehren. amnesty international unterstützt sie dabei, ihre Rechte gegenüber den Interessen indischer und internationaler Investoren zu verteidigen.

Der Autor ist Mitglied der ai-Ländergruppe Indien.


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Quelle:
amnesty journal, Januar 2008, S. 23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Februar 2008