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FRAGEN/005: Roman Herre, Agrarexperte von FIAN - "Hunger ist kein Schicksal" (ai journal)


amnesty journal 01/2012 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Hunger ist kein Schicksal"

Ein Gespräch mit Roman Herre, Agrarexperte von FIAN - die Fragen stellte Anton Landgraf


FRAGE: Auf der Erde leben mittlerweile sieben Milliarden Menschen, wie die UNO kürzlich feststellte. Werden angesichts des rasanten Bevölkerungswachstums Hungerkatastrophen künftig zunehmen?

ROMAN HERRE: Die Debatte über das Bevölkerungswachstum halte ich für zweitrangig. Die UNO hat beispielsweise festgehalten, dass die Wurzel des Problems nicht ein Mangel von Nahrungsmitteln ist, sondern der mangelnde Zugang großer Teile der Weltbevölkerung zu verfügbaren Nahrungsmitteln.

FRAGE: Trifft das auch auf die aktuelle Krise am Horn von Afrika zu?

ROMAN HERRE: Da spielen natürlich sehr viele Faktoren eine Rolle. Wir glauben jedoch nicht, dass Hunger eine Naturkatastrophe ist, also eine Art Schicksal, das die Menschen regelmäßig überfällt. Verantwortlich sind vielmehr grundlegende strukturelle Probleme in diesen Ländern. Wir haben vor zwei Monaten Kenia bereist. Dort wurden in den vergangenen Jahren riesige Flächen fruchtbarstes Ackerland an Investoren veräußert, die für den Export produzieren wollen. Zudem werden die Nomadenvölker vertrieben und von ihren Wanderwegen abgeschnitten, von ihrem Zugang zu Wasser. Das ist ein wichtiger Teil dieser Gesamtproblematik.

FRAGE: Wer kauft das Land?

ROMAN HERRE: In Kenia zum Beispiel haben wir einen Fall dokumentiert, bei dem Politiker mit einem großen nationalen Konzern verbunden sind. In Äthiopien beispielsweise hat ein europäischer Investitionsfonds 8.000 Hektar Land über eine israelische Firma akquiriert. Es gibt also sehr viele unterschiedliche Akteure in diesem Kontext.

FRAGE: Nahrungsmittel sind also auch Gegenstand von Spekulationen?

ROMAN HERRE: In den vergangenen 15 bis 20 Jahren gab es nur geringe Preisschwankungen, die vor allem auf regionale Dürreperioden oder auf Ernteeinbußen zurückzuführen waren - sogenannte Fundamentalfaktoren. Dann wurde der Finanzmarkt stark dereguliert. Das Verhältnis zwischen den Akteuren, die tatsächlich Interesse an den physischen Waren haben, und jenen, die rein spekulativen Tätigkeiten nachgehen, hat sich seitdem umgekehrt. In den USA, auf der wichtigsten Weizenbörse weltweit, hat sich in den vergangenen sieben, acht Jahren die Zahl der Termingeschäfte mit Weizen ungefähr verdreißigfacht.

FRAGE: Besteht ein Zusammenhang mit dem Anbau von Agrartreibstoffen?

ROMAN HERRE: Auf jeden Fall. Sie nehmen natürlich Boden und Agrarfläche weg. Bis zu 500 Millionen Hektar Ackerland sollen in den nächsten zehn bis 20 Jahren für Agrartreibstoffe genutzt werden - das ist ein knappes Drittel des aktuell weltweit bewirtschafteten Agrarlandes. Diese Nachfrage ist künstlich erzeugt, beispielsweise durch die Beimischungsquoten in der Europäischen Union. Das bietet natürlich auch Spekulanten Futter, die dann sagen: Dieser Markt ist gesetzlich abgesichert, darauf setzen wir. Viele Akteure, die sich Land aneignen, zerstören damit die lokale Nahrungsmittelproduktion. In Kenia fließt ein großer Teil der Investitionen in den Bereich Agrartreibstoffe. Es gibt in diesem Bereich viele sogenannte schlafende Projekte. Das heißt, nach dem Kauf kann es passieren, dass die Investitionen erst einmal gestoppt werden, weil die Nahrungsmittelpreise stark gefallen sind, wie zuletzt 2008. Das heißt, es wird mit dem Hunger spekuliert.

FRAGE: Wer kann auf diese Entwicklung noch Einfluss ausüben?

ROMAN HERRE: Wir sollten uns zuerst an die eigene Nase fassen. Was kann in Deutschland, in Europa getan werden, um diesen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken? Das Thema Agrartreibstoffe ist sehr relevant. Nächstes Jahr will die Europäische Kommission untersuchen, welche Auswirkungen die Beimischungsquote auf Nahrungsmittelpreise, auf Landrechte, auf Vertreibung, auf Hunger hat. Unser Ziel wäre, dass diese Quote aufgehoben oder zumindest abgeschwächt wird. Ein anderer Faktor, den ich aus menschenrechtlicher Perspektive besonders relevant finde: Wir setzten uns seit 20 Jahren dafür ein, dass Menschen, deren Recht auf Nahrung verletzt wird, dieses Recht international einklagen können. Ein solches Zusatzprotokoll zum Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte gibt es zwar schon. Es tritt aber erst in Kraft, wenn die Regierungen es ratifizieren. Bis heute weigert sich Deutschland, dies zu tun. Das Menschenrechts system im Kontext der Globalisierung fit zu machen, ist für uns ein wichtiger Hebel, um Hunger zu bekämpfen.


FIAN

Die Menschenrechtsorganisation FIAN (FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk) setzt sich dafür ein, dass alle Menschen frei von Hunger leben und sich selber ernähren können. FIAN kämpft für das Recht auf angemessene Ernährung auf Basis internationaler Menschenrechtsabkommen, insbesondere des Sozialpaktes. FIAN International hat Mitglieder und Sektionen in 60 Staaten Afrikas, Amerikas, Asiens und Europas.


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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2011/Januar 2012, S. 35
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2012