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GRUNDSÄTZLICHES/260: Mangelndes Wissen über Menschenrechte (ai journal)


amnesty journal 02/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte

Die großen Unbekannten
Die Menschenrechte findet jeder irgendwie wichtig - doch nur die wenigsten wissen, was sich dahinter verbirgt. Auch die Schule ist keine große Hilfe.

Von Sandra Reitz und Jens Wetzel


In der Bevölkerung scheint es ein größeres Bewusstsein für die Menschenrechte zu geben als noch vor einigen Jahren. Die Menschenrechte kommen häufiger in den Medien vor, die Zahl an Publikationen ist deutlich gestiegen, zahlreiche Organisationen arbeiten zu dem Thema. "Die Mehrheit der Deutschen erachtet die Menschenrechte als sehr wichtig", stellte eine Studie der Universität Leipzig im Jahr 2003 fest. Ein voller Erfolg? Oberflächlich betrachtet, ja. Schaut man genauer hin, wird schnell deutlich, dass das Wissen über die Menschenrechte mangelhaft ist. Nur wenige der Befragten konnten drei Rechte aufzählen, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben sind. Jeder Sechste konnte nicht einmal eins nennen.

Dieses mangelnde Wissen erschüttert. Die Menschenrechte können nicht durch staatliches Handeln allein verwirklicht werden. Jeder Einzelne, mit seinen Einstellungen, mit seinem Handeln, ist gefragt. Darauf basierend verabschiedeten die Kultusminister der Länder in den Jahren 1980 und 2000 eine Empfehlung zur Menschenrechtserziehung in Deutschland ("KMK-Empfehlung"). In dieser heißt es: Die Schule trägt die Verantwortung, durch entsprechende Persönlichkeitsbildung der Schüler dazu beizutragen, bei diesen ein Bewusstsein für die zentrale Bedeutung der Menschenrechte zu schaffen.

Was ist seitdem geschehen? Auf bildungspolitischer Ebene eher wenig. In vielen Lehrplänen ist die Menschenrechtsbildung eine Querschnittsaufgabe, ohne inhaltlich deutlich verankert zu sein. Die Umsetzung wird den Lehrenden überlassen - ohne dass ihnen Hilfestellung gegeben wird. Erhebliche Defizite können auch hinsichtlich der Lehrmittel festgestellt werden. Eine Schulbuchanalyse in Baden-Württemberg, durchgeführt von Volker Druba, offenbart zahlreiche Mängel. So komme die Menschenrechtsthematik, wenn überhaupt, überwiegend als freiwilliger, nicht als verpflichtender Lerninhalt vor. Noch dazu seien die Inhalte teilweise falsch dargestellt. Zudem deckten die meisten Schulbücher nur einen Teil des Spektrums ab. Druba spricht von einer "Menschenrechtsbildung light". Aber Menschenrechte sind nicht einzeln zu denken, sondern stellen eine Gesamtheit dar. Das Recht auf Bildung kann nicht in vollem Umfang gewährt werden, ohne dass gleichzeitig das Recht auf Gesundheit umgesetzt wird - Menschenrechte sind unteilbar. Sie stehen in engem Zusammenhang und bedingen sich wechselseitig. Nur in ihrer Gesamtheit können sie die Würde des Menschen schützen.

Ähnlich zwiespältig wie die KMK-Empfehlung und die vorhandenen Schulbücher muss die UNO-Dekade für Menschenrechtsbildung (1994-2005) bewertet werden. Bis heute ist es ein Kreis Eingeweihter geblieben, der von der Existenz dieser oder ähnlicher UNO-Dekaden weiß. Statt einer möglichen zweiten Dekade beschloss die UNO-Generalversammlung ein "Weltaktionsprogramm", dessen erste Stufe zur Primar- und Sekundarbildung inzwischen bis 2009 verlängert wurde - hier stehen entsprechende Evaluationen noch aus. Doch nur Optimisten versprechen sich davon große Fortschritte. Dennoch, die Bemühungen sind nicht erfolglos: Das Forum Menschenrechte, in dem auch amnesty international mitarbeitet, veröffentlichte "Standards der Menschenrechtsbildung in Schulen". Nichtregierungsorganisationen dürfen aber mit der Herkules-Aufgabe Menschenrechtsbildung nicht allein gelassen werden. Neben den Hochschulen und den Schulen müssen vor allem auch staatliche Institutionen in die Pflicht genommen werden.

Der französische Philosoph Voltaire antwortete einmal auf die Frage, was es heiße frei zu sein: "Es heißt die Menschenrechte zu kennen, denn kennt man sie einmal, so verteidigt man sie von selbst." Voltaire ist einerseits zuzustimmen: Ohne das Wissen über die Menschenrechte, kann man sich nicht für diese einsetzen. Andererseits scheint die Annahme verfehlt, dass allein das Wissen die Basis ist für gesellschaftliches Engagement. Hierfür bedarf es eines Bewusstseins für die eigene Verantwortung und entsprechende Fähigkeiten und Kompetenzen, um sich für die Menschenrechte einzusetzen. Denn die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte bedarf einer "Kultur der Menschenrechte", in der sich jeder Mensch über seine Rechte und seine Verantwortung für diese bewusst ist. Menschenrechtsbildung zielt auf die Förderung jener Menschenrechtskultur, die dazu befähigt, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und einzufordern. "Menschenrechtsbildung ist für die Umsetzung und Entwicklung der Menschenrechte unverzichtbar", wie Karl-Peter Fritzsche, Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Menschenrechtserziehung, feststellt.

Schon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verweist die Generalversammlung deutlich auf die besondere Bedeutung der Bildungs- und Erziehungsarbeit bei der Verwirklichung der Menschenrechte. In diesem Sinne ist auch "Artikel 26 Absatz 2" zu verstehen: "Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziel haben. Sie soll Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Völkern und allen rassischen oder religiösen Gruppen fördern."

Menschenrechtsbildung darf sich nicht auf die Vermittlung von Wissen beschränken. Schüler müssen die Achtung des Mitmenschen im täglichen Umgang in der Schule erleben und üben. Dementsprechend darf die Behandlung menschenrechtlicher Themen nicht in den Ethik-, Religions- oder Politikunterricht abgedrängt werden, sondern sollte fächerübergreifend realisiert werden. Gleiches gilt für die Erwachsenenbildung, insbesondere die Ausbildung bei der Polizei und beim Militär, aber auch in sozialen, juristischen und journalistischen Berufen. Menschenrechtsbildung ist präventiv und handlungsorientiert und verbindet drei miteinander verknüpfte Lernfelder: Lernen über, lernen durch und lernen für die Menschenrechte. Dabei wird den Lernenden verdeutlicht, dass sie Verantwortung tragen - für sich selbst, aber auch für andere Menschen. Mit ihrem Handeln können die Lernenden zum Schutz der Menschenrechte beitragen - in ihrer direkten Umwelt und in entfernten Regionen der Erde.


Die Autoren sind Mitglieder der ai-Themengruppe Menschenrechtsbildung.

Weitere Informationen unter:

www.ai-mrb.de (Seite der ai-Themengruppe Menschenrechtsbildung)
www.wissen-gegen-willkuer.de (Internetseite der neuen ai-Kampagne)
www.amnestystudents.org (Internetseite des ai-Studierenden-Netzwerks)
www.amnesty-jugend.de (Internetseite der ai-Jugendgruppen)


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E-LEARNING-KURS ZU MENSCHENRECHTSBILDUNG

Menschenrechtsbildung am Computer - kann das funktionieren? Etwa 80 Lernende zwischen 16 und 22 Jahren aus den USA, der Dominikanischen Republik, Marokko, der Mongolei und Deutschland ließen sich auf dieses Abenteuer ein - mit Erfolg. Im "Dilemma-Forum" diskutierten die Teilnehmer beispielsweise über das Thema Sicherheit und den Schutz der Privatsphäre, oder darüber, ob es angesichts zunehmender Gewalt an Schulen Bodyguards geben sollte. Ebenso arbeiteten die "E-Learner" in Kleingruppen und führten eine Internet-Recherche durch. Die Ergebnisse wurden den Mitlernenden anschließend als Lektion zur Verfügung gestellt. Der Kurs fand von Oktober bis Dezember 2007 im Rahmen einer Doktorarbeit am UNESCO-Lehrstuhl für Menschenrechtserziehung statt und wurde in Kooperation mit ai entworfen. Wer Interesse an einem E-Learning-Kurs oder einer Multiplikatoren-Schulung hat, kann sich bei ai-mrb@gmx.de melden.


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Quelle:
amnesty journal, Februar 2008, S. 16-17
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30
E-Mail: info@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2008