Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → AMNESTY INTERNATIONAL

GRUNDSÄTZLICHES/262: Schule als Menschenrechtsraum (ai journal)


amnesty journal 02/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Schule als Menschenrechtsraum - das ist meine Devise"

Ein Gespräch mit Prof. Karl Peter Fritzsche über die Fallstricke von amnesty international, universelle Bedürfnisse und die Sprengkraft der Menschenrechtsidee.


FRAGE: Auch 60 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte werden die Menschenrechte weltweit in unterschiedlichem Maße verletzt. Hat die Idee der Menschenrechte versagt?

KARL PETER FRITZSCHE: Viele Menschen klagen über die Menschenrechtsverletzungen weltweit. Aber ich drehe die Perspektive um: Was wäre die Welt denn ohne die Menschenrechte? Die Menschenrechte haben die Welt zweifellos nachhaltig verändert und sie haben bis heute eine unendliche Sprengkraft.

FRAGE: Liefern die Menschenrechte auch im Zeitalter des "Kriegs gegen den Terrorismus" eine Grundlage zum Handeln?

KARL PETER FRITZSCHE: Die Menschenrechte sind für ein ziviles Zusammenleben unverzichtbar. Um es ein bisschen pathetisch zu sagen: Sie sind die letzte große Erzählung der Freiheit. Seit dem 11. September sehen einige in den Menschenrechten ein Hindernis im Krieg gegen den Terrorismus. Im Wertekonflikt zwischen Freiheit und Sicherheit stellen sich viele auf die Seite der Sicherheit. Hingegen kann gerade die Verwirklichung der Menschenrechte dem Terrorismus sogar den Zulauf abgraben. Diese Interpretation gilt es aber immer wieder politisch stark zu machen.

FRAGE: Kann Menschenrechtsbildung beispielsweise etwas gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ausrichten?

KARL PETER FRITZSCHE: Wir können von der Menschenrechtsbildung keine kurzfristige Veränderung der Welt erwarten. Menschenrechtsbildung hat vor allem eine präventive Funktion, indem sie die Menschen darauf vorbereitet, die Welt durch eine "Menschenrechtsbrille" zu sehen. Potentielle Opfer von Menschenrechtsverletzungen lernen, sich für ihre Rechte einzusetzen. Potentielle Verletzer lernen die Menschenrechte als Mindeststandards kennen, an die sie sich halten müssen.

FRAGE: Kann Menschenrechtsbildung auch dort stattfinden, wo das Recht auf Bildung nicht verwirklicht ist?

KARL PETER FRITZSCHE: Allgemeinbildung ist eine Grundvoraussetzung, um die Menschenrechte zu leben. Daher fordere ich: Kein Schulgeld und Grundbildung für alle. Das Recht auf Bildung ist ein grundlegendes Menschenrecht. Habe ich keine Bildung, kenne ich auch meine Rechte nicht. Ich kann sie weder für mich einfordern, noch die Rechte der anderen achten.

FRAGE: Gelten die Menschenrechte in allen Kulturen gleichermaßen?

KARL PETER FRITZSCHE: Ich glaube, dass es universelle Bedürfnisse gibt, Leid und Unrecht zu überwinden und selbstbestimmt und gleichberechtigt zu leben. Diese Idee der Menschenrechte ist in allen Kulturen zu transportieren. Sicherlich muss man die Praxis der Menschenrechtsbildung an den jeweiligen kulturellen Kontext anpassen. Das heißt aber nicht, dass der Kern der Menschenrechtsidee - gleichberechtigte individuelle Selbstbestimmung - aufgegeben werden muss.

FRAGE: Welche Kenntnisse der Menschenrechte sind unverzichtbar?

KARL PETER FRITZSCHE: Ich könnte jetzt sagen, dass man die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kennen muss. Wir können aber nicht aus allen Menschen Menschenrechtsexperten machen. Es ist nicht ein spezielles Wissen, das zählt. Viel wichtiger ist es, den Geist der Menschenrechte zu verstehen: Dass ich Rechte habe, die ich auch einfordern kann. Dass es keine egoistischen Rechte sind, die nur mir zustehen, sondern auch dem Nachbarn, der Freundin, dem Arbeitgeber. Dass ich mich solidarisch für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen einsetzen sollte. Zu diesem Basiswissen gehört für mich auch die Kenntnis, dass es ai gibt.

FRAGE: Wie beurteilen Sie die durchschnittliche Menschenrechtsbildung? Ist beispielsweise bekannt, dass es amnesty international gibt?

KARL PETER FRITZSCHE: Wahrscheinlich ist ai der bekannteste Player im Raum der Menschenrechte. Das Problem ist bloß: danach hört es schon auf Die Freude über die Bekanntheit von ai sollte uns nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass auch die Menschenrechte bekannt und verstanden sind. Aber wir sollten nicht jammern, denn es bewegt sich etwas. Noch nie gab es so viel Material zur Menschenrechtsbildung, so viele Onlineangebote und Weiterbildungsveranstaltungen. Menschenrechtsthemen werden immer häufiger in den Unterricht integriert.

FRAGE: Bemühen sich Lehrer heute mehr als früher, die Menschenrechte im Unterricht zu behandeln?

KARL PETER FRITZSCHE: Viele Lehrer sind bereit dazu - gleichzeitig zögern sie, denn die Menschenrechte sind ein schwieriges Thema. Immer spielen auch die Kontroversen der Menschenrechtsdebatte, wie beispielsweise die Abtreibungsfrage, eine Rolle. Geht es um die Selbstbestimmung der Frau oder um den Schutz des ungeborenen Lebens? Lehrer müssen sehr gut vorbereitet sein, um die Menschenrechte im Unterricht behandeln zu können. Hier ist besonders die Lehrerbildung gefordert.

FRAGE: Was halten Sie von den Menschenrechten als Unterrichtsfach?

KARL PETER FRITZSCHE: Da bin ich skeptisch. Zu leicht könnte man sagen "in dieser Unterrichtsstunde wurde darüber gesprochen" und das war's. Die Menschenrechte müssen ein Querschnittsthema sein und sich in den Schulverfassungen und in den Schulordnungen wiederfinden. Kinder, die meinen, in ihren Kinderrechten verletzt worden zu sein, sollten an der Schule einen Ansprechpartner haben, an den sie sich wenden können. Es geht nicht nur darum, über die Menschenrechte zu sprechen, sondern sie in der Schulwirklichkeit zu verankern. Schule als Menschenrechtsraum - das ist meine Devise.

FRAGE: Wie würden Sie Schülern die Menschenrechte vermitteln?

KARL PETER FRITZSCHE: Wahrscheinlich würde ich über einen Fall von Unrechtserfahrung sprechen, der relativ schnell Empathie auslöst. Darüber würde ich versuchen, den Menschenrechtsgedanken zu entwickeln. Ich würde die Kinder fragen, ob es Bedürfnisse gibt, die so wichtig sind, dass man sie unbedingt schützen muss. Darüber würde ich auf Rechte zu sprechen kommen und dann versuchen, die Schüler selbst so etwas wie eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte entwickeln zu lassen. Wichtig ist auch, dass die Kinder schon die Erfahrung machen können, dass sie gleiche Rechte haben.

FRAGE: Welche Bedeutung hat ai für Ihre Arbeit?

KARL PETER FRITZSCHE: Im ersten Moment erscheint ai als Falle - dann nämlich, wenn die Organisation den Jahresbericht herausgibt. Bei meinen Studenten stellt sich angesichts der weltweiten Menschenrechtsverletzungen schnell ein Gefühl der Ohnmacht ein. Ich sage dann zu ihnen: Die Welt sähe noch viel schlimmer aus, wenn es ai nicht gäbe. Für mich ist ai ein Mutmacher.


Interview: Rebekka Rust

Prof. Dr. Karl Peter Fritzsche ist seit 2002 Inhaber des UNESCO-Lehrstuhl für Menschenrechtsbildung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Menschenrechtsbildung ist dort Teil des "Studium General", eine Säule im Masterstudiengang Friedens- und Konfliktforschung sowie ein Modul im Bachelorstudiengang Sozialwissenschaften. Weitere Infos unter: www.menschenrechtserziehung.de


*


Quelle:
amnesty journal, Februar 2008, S. 20-21
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30
E-Mail: info@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de

Das amnesty journal erscheint monatlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
Nichtmitglieder können das amnesty journal für
30 Euro pro Jahr abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2008