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GRUNDSÄTZLICHES/292: Internationaler Gerichtshof - Das Erbe von Nürnberg (ai journal)


amnesty journal 08/09/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

Das Erbe von Nürnberg
Künftig soll der Internationale Strafgerichtshof auch "Verbrechen gegen den Frieden" verfolgen können.
Die Neuregelung könnte den Gerichtshof jedoch schwächen.

Von Nils Geißler


Kurz nach Mitternacht war es vollbracht: Die Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) verabschiedeten am 12. Juni 2010 eine Resolution, nach der in Zukunft auch die Verantwortlichen für Angriffskriege vor Gericht gestellt werden können. Bislang ist der IStGH für Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig.

Bei der Ausweitung handelt es sich um einen mühsam ausgehandelten Kompromiss, mit dem sich die 111 Vertragsstaaten des "Erbes von Nürnberg" annehmen. Das Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal war bahnbrechend: 1946 wurden erstmals die Verantwortlichen für Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch ein internationales Gericht zur Rechenschaft gezogen.

Bei der Konferenz von Rom, die 1998 die Grundlagen für den IStGH schuf, befassten sich die Staaten daher auch mit den "Verbrechen gegen den Frieden" beziehungsweise "Aggressionsverbrechen", wie der Tatbestand inzwischen genannt wird. Man konnte sich jedoch nicht einigen und legte fest, diesen Punkt später erneut aufzugreifen. Dies geschah nun bei einer Konferenz im ugandischen Kampala, an der 85 Vertrags staaten teilnahmen, sowie zahlreiche Nichtregierungsorganisationen und Beobachter aus Staaten, die den IStGH nicht anerkennen, wie die USA, China, Russland, Israel oder der Iran.

Diplomaten und Wissenschaftler hatten die Konferenz jahrelang vorbereitet. Die von ihnen vorgeschlagene Definition des neuen Tatbestands, der unter anderem Invasionen, Blockaden oder Bombardements umfasst, wurde in Kampala ohne Diskussion angenommen. Äußerst strittig blieb dagegen bis zuletzt, welche Rolle der UNO-Sicherheitsrat spielen soll und wie Aggressionen von Staaten behandelt werden, die dem IStGH nicht beigetreten sind. Hierbei muss man nur an tatsächliche oder mögliche Konflikte zwischen Nord- und Süd-Korea, Russland und Georgien oder in Afghanistan denken oder sich an die umstrittenen Interventionen im Kosovo oder im Irak erinnern.

Die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats - China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA - drängten in Kampala darauf, dem Sicherheitsrat eine exklusive Rolle bei der Anklageerhebung zu sichern und dem Chefankläger des IStGH nicht die Befugnisse zu geben, die er bei Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen hat.

Am Ende einigte sich die Konferenz darauf, dass der UNO-Sicherheitsrat den Gerichtshof ohne weiteres mit der Untersuchung eines Aggressionsverbrechens beauftragen kann, während der Chefankläger des IStGH und die von einem Angriff betroffenen Staaten erst hohe Hürden überwinden müssen, ehe sie ein Verfahren einleiten können. Zudem können die Vertragsstaaten erklären, dass der IStGH nicht für Aggressionen zuständig sein soll, die durch ihre Staatsangehörigen begangen wurden oder von ihrem Staatsgebiet ausgehen - Fachleute nennen dies kritisch "Jurisdiktion à la Carte". Staaten, die nicht Mitglied des IStGH sind, können überhaupt nicht wegen eines Aggressionsverbrechens angeklagt werden. Inkrafttreten werden die neuen Regeln frühestens 2017.

Das Ergebnis der Verhandlungen ist unbefriedigend. Zum einen wird dem Gerichtshof ein sehr politisches Verbrechen zur Behandlung zugewiesen. Dadurch droht eine Überlastung und Politisierung des noch fragilen Gerichts. In Kampala wiesen nur Amnesty und andere NGOs auf diese Gefahr hin - letztlich erfolglos. Außerdem wird die Ungleichheit vor dem Völkerrecht fortgeschrieben, denn die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats stehen nun auch bezüglich des Aggressionsverbrechens über dem Recht, das für andere Staaten gilt. Schon jetzt wird dem IStGH vorgeworfen, sich einseitig gegen Afrika zu richten, denn alle laufenden Verfahren haben mit Staaten auf diesem Kontinent zu tun. Jetzt besteht die Gefahr, dass die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des IStGH weiter unterspült werden. Aber offenbar wollten viele Staaten um fast jeden Preis das Erbe von Nürnberg einlösen. Für die Zukunft des Strafgerichtshofs erscheint der Preis jedoch zu hoch.


Nils Geißler war Mitglied der Delegation von Amnesty International bei der Überprüfungskonferenz zum Internationalen Strafgerichtshof, die vom 31. Mai bis 12.Juni im ugandischen Kampala stattfand.


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Quelle:
amnesty journal, August/September 2010, S. 56
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2010