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GRUNDSÄTZLICHES/300: Kein Frieden ohne Gerechtigkeit (ai journal)


amnesty journal 10/11/2011 - Das Magazin für die Menschenrechte

Kein Frieden ohne Gerechtigkeit

von Dr. Leonie v. Braun


Am 26. Februar 2011 beauftragte der UNO-Sicherheitsrat den Internationalen Strafgerichtshof damit, den Fall Libyen zu: untersuchen. Es lagen Berichte vor, dass Staatschef Gaddafi mit Scharfschützen auf demonstrierende Zivilisten schießen ließ. Der Sicherheitsrat machte mit seiner Entscheidung deutlich, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen den Weltfrieden gefährden. Die Überweisung des Falls an den Gerichtshof in Den Haag war ein starkes Signal gegen die Straflosigkeit für Menschenrechtsverbrechen.

Menschenrechtsorganisationen begrüßten diesen Schritt. Doch als der Widerstand Gaddafis und seiner Anhänger anhielt, wurden die Stimmen derjenigen lauter, die ihm Straffreiheit und den Gang ins Exil anbieten wollten, um die Kämpfe zu beenden. Es sei ein probates Mittel zur Friedenssicherung, einem scheidenden Machthaber den Abgang zu erleichtern, wurde argumentiert. Eine drohende Inhaftierung und Anklage sei kein Anreiz, sich an Verhandlungen zu beteiligen. Über ein Jahrzehnt nach der Verabschiedung des Statuts von Rom sehen noch immer viele - auch ranghohe Diplomaten - das Prinzip der Strafverfolgung schwerster Menschenrechtsverletzungen als hinderlich für den Frieden an.

Inzwischen ist Gaddafi militärisch besiegt. Doch was wäre gewesen, wenn es weiterhin ein Patt gegeben und der Konflikt angedauert hätte? Hätte man dennoch dafür eintreten sollen, dass Gaddafi und andere Mitglieder des Regimes sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten müssen? Ja, sagt Amnesty International. Nachdem die Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats den Fall an den Gerichtshof überwiesen haben, müssen sie nun unnachgiebig und geschlossen dafür eintreten, dass die Menschenrechtsverletzungen nicht straflos bleiben - Amnestien für Menschenrechtsverbrechen sind völkerrechtswidrig.

Dabei geht es nicht nur um die Einhaltung menschenrechtlicher Prinzipien an sich. Eines der wichtigsten Ziele des Völkerstrafrechts ist es, Frieden zu schaffen. Damit ist zum einen Rechtsfrieden gemeint, also Wahrheitsfindung und Genugtuung für die Opfer. Andererseits ist damit tatsächlicher Frieden gemeint, der über die Stigmatisierung der Täter und ihren damit verbundenen politischen und militärischen Machtverlust den Weg für einen Neuanfang ohne Gewalt ebnen kann. Ein nachhaltiger Frieden ist in den allermeisten Fällen undenkbar, ohne dass Täter, Militärführer, Politiker oder Rebellengruppen vor ein Gericht - sei dieses national oder international - gestellt werden, das in einem rechtsstaatlichen Verfahren ihre Schuld klärt.

Amnestien - ob de facto oder de jure - senden dagegen ein falsches Signal: Sie zeigen Despoten und ihren Handlangern, dass die massenhafte Tötung von Zivilisten und andere Verbrechen folgenlos bleiben. Eine Amnestie gegenüber Gaddafi wäre zudem keine Garantie dafür, dass sich der scheidende Despot auch tatsächlich aus dem politischen Leben zurückzieht. Er würde ein Machtfaktor bleiben und mit einer starken Anhängerschaft sowie ausreichenden finanziellen Mitteln weiter destabilisierend wirken. Amnestien für die Hauptverantwortlichen erschweren zudem eine strafrechtliche Verfolgung der mittleren Führungsebene. Dies führt letztlich zu einer allgemeinen Straflosigkeit und fördert den Erhalt des alten Systems. Ein mit Straflosigkeit erkaufter Frieden ist nicht von Dauer, wenn er mit Despoten wie Slobodan Milosevic, Charles Taylor, Omar al-Bashir oder Muammar Gaddafi geschlossen wird.

Amnesty setzt sich daher dafür ein, dass Gaddafi im Falle seiner Verhaftung an den Internationalen Strafgerichtshof überstellt wird, wo ihn ein faires und unabhängiges Strafverfahren erwartet. Das legitime Bedürfnis der libyschen Bevölkerung, auch Menschenrechtsverletzungen des Gaddafi-Regimes aufzuklären und zu ahnden, die nicht in die Zuständigkeit des Gerichts in Den Haag fallen, wird dadurch nicht übergangen. Um nachhaltigen Frieden in Libyen zu schaffen, sollte die internationale Gemeinschaft unnachgiebig und kompromisslos die Ahndung der begangenen Menschenrechtsverletzungen fordern und die Justizsysteme bei dieser Aufgabe unterstützen.


Dr. Leonie v. Braun, Staatsanwältin und Sprecherin der Themengruppe gegen Straflosigkeit der deutschen Sektion von Amnesty International.


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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2011, S. 19
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2011