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NAHOST/166: Tod eines Querdenkers (ai journal)


amnesty journal 10/11/2014 - Das Magazin für die Menschenrechte

Tod eines Querdenkers

von Ramin M. Nowzad



Er war einer der Väter der ägyptischen Demokratiebewegung: Nachdem Ahmed Seif al-Islam im Gefängnis gefoltert worden war, widmete er sein Leben dem Kampf für die Menschenrechte. Nun ist er im Alter von 63 Jahren an einem Herzleiden verstorben.


Als der ägyptische Menschenrechtsaktivist Ahmed Seif al-Islam vor einigen Wochen im Sterben lag, fehlten an seinem Totenbett zwei wichtige Personen. Seine 20-jährige Tochter Sanaa war nicht im Krankenhaus erschienen, um sich von ihrem Vater zu verabschieden. Und auch ihr zwölf Jahre älterer Bruder Alaa blieb der Intensivstation fern. Nicht etwa, weil die beiden ihren Vater nicht verehrt hätten. Im Gegenteil, sie waren in seine Fußstapfen getreten: Die Geschwister sitzen derzeit in ägyptischen Gefängnissen, weil sie es gewagt haben, in ihrer Heimat für Demokratie und Menschenrechte auf die Straße zu gehen. Ahmad Seif al-Islam ist am 27. August im Alter von 63 Jahren an den Folgen einer riskanten Operation am offenen Herzen gestorben.

"Mors certa, hors incerta", sagt ein lateinisches Sprichwort: "Der Tod ist gewiss, allein sein Zeitpunkt ist ungewiss." Ägypten hat einen großen Kämpfer für die Menschenrechte verloren. Und der Zeitpunkt seines Todes hätte tragischer nicht sein können: Seine Stimme wird besonders jetzt schmerzlich vermisst, da wieder einmal eine Revolution ihre Kinder frisst. In Ägypten ist der ehemalige Militärchef al-Sisi der neue starke Mann - und er macht erbarmungslos Jagd auf seine Kritiker. Tausend politische Gegner ließ er erschießen, Hunderte wurden zum Tode verurteilt, Zehntausende landeten hinter Gittern.

Was es bedeutet, in einer Diktatur inhaftiert zu werden, musste Seif schon früh am eigenen Leib erfahren. Weil er sich als junger Mann dem Sozialismus verschrieben hatte, landete er mehrmals im Gefängnis. Was er dort erlebte, sollte sein Leben für immer prägen: Im Jahr 1983 verschwand er unter Präsident Hosni Mubarak in einer Gefängniszelle, wo ihn Offiziere schwer verprügelten und mit Elektroschocks folterten.

Es war ein Wendepunkt in seiner Biografie. Noch während seiner Haftzeit begann er, Jura zu studieren. Als er nach fünf Jahren freikam, hatte sein Dasein einen neuen Sinn bekommen: Seif al-Islam widmete sein Leben dem juristischen Kampf für die Menschenrechte. Als Anwalt setzte er sich für Ägypter ein, die willkürlich festgenommen worden waren oder denen ein unfaires Verfahren drohte - egal, ob es sich um Islamisten, Atheisten, Sozialisten, Terrorverdächtige oder Homosexuelle handelte.

Im Jahr 1999 gründete er eine Anwaltskanzlei, die sich für Folteropfer engagiert. Als sich das Volk vor drei Jahren gegen den Autokraten Mubarak zu erheben begann, wurde die Kanzlei rasch zu einer Schaltzentrale der Opposition. Sicherheitskräfte versuchten damals, den Aufstand mit Waffengewalt niederzuschlagen - doch vergebens: Mubarak musste abdanken.

Mohammed Mursi, der erste demokratisch gewählte Präsident des Landes, setzte eine Untersuchungskommission ein, um die Verbrechen von Polizei und Militär aufzuarbeiten. Auch Seif al-Islam wurde in die regierungsunabhängige Kommission berufen. Doch er ahnte früh, dass die alten Eliten ihren Machtverlust nicht hinnehmen würden. Und genau so kam es: Das Militär übernahm im Sommer 2013 erneut das Ruder. Seif al-Islam kämpfte drei Jahrzehnte für eine bessere Zukunft. Doch am Ende seines Lebens zeigte er sich resigniert. Als sein Sohn Alaa im Januar dieses Jahres festgenommen wurde, richtete er auf einer Pressekonferenz diese Worte an ihn: "Ich wollte dir eine demokratische Gesellschaft vererben, die deine Rechte achtet. Stattdessen vererbe ich dir nun die Zelle, in der einst ich saß und in der heute du gefangen bist." Ein halbes Jahr später wurde sein Sohn zu 15 Jahren Haft verurteilt.

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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2014, S. 13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2015


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