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NAHOST/183: Syrien - Gezielte Angriffe auf Krankenhäuser


Amnesty International - Mitteilung vom 3. März 2016

Syrien: Gezielte Angriffe auf Krankenhäuser


3. März 2016 - Russische und syrische Streitkräfte haben in den vergangenen drei Monaten nach vorliegenden Informationen gezielt und systematisch Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen ins Visier genommen, um Bodentruppen den Vormarsch auf Nord-Aleppo zu ermöglichen. Dies belegt eine Untersuchung von Amnesty International zu den Luftangriffen in Syrien.


Selbst als bereits über die derzeitige fragile Waffenruhe verhandelt wurde, intensivierten die syrische Regierung und ihre Verbündeten ihre Angriffe auf medizinische Einrichtungen noch weiter.

"Syrische und russische Streitkräfte haben vorsätzlich Gesundheitseinrichtungen angegriffen und damit eklatant gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Aber wirklich ungeheuerlich ist, dass das Zerstören von Krankenhäusern mittlerweile Teil ihrer Militärstrategie zu sein scheint", erklärte Tirana Hassan, Direktorin des Krisenreaktionsteams von Amnesty International.

Hunderte medizinische Helferinnen und Helfer getötet

"Allem Anschein nach ist die jüngste Angriffswelle auf Gesundheitseinrichtungen nördlich von Aleppo Teil einer umfassenderen Strategie, medizinisches Personal und Krankenhäuser anzugreifen. Im Rahmen dieser Strategie wurden seit Ausbruch des Konflikts bereits zahlreiche medizinische Einrichtungen zerstört und Hunderte Ärztinnen und Ärzte und anderes medizinisches Personal getötet", so Tirana Hassan.

Amnesty International hat überzeugende Beweise für mindestens sechs gezielte Angriffe auf Krankenhäuser und Feldlazarette zusammengetragen, die in den vergangenen zwölf Wochen im nördlichen Teil des Gouvernements Aleppo verübt wurden. Bei diesen Angriffen wurden mindestens drei Zivilpersonen getötet, darunter auch ein Klinikmitarbeiter, und 44 weitere Menschen verletzt. Die Angriffe sind Teil einer umfassenderen Strategie gezielter Bombardements von Gesundheitseinrichtungen in ganz Syrien und kommen Kriegsverbrechen gleich.

"Krankenhäuser werden immer zuerst angegriffen"

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Amnesty International haben mit medizinischem Personal der sechs betroffenen Einrichtungen gesprochen, sowie auch mit mehreren humanitären Organisationen in der Türkei und in Syrien. Es wurde deutlich, wie schwierig es für sie ist, die hohe Zahl an Zivilpersonen zu versorgen, die nach den jüngsten Luftangriffen vom Februar 2016 medizinische Hilfe benötigt.

Einige medizinische Beschäftigte aus Anadan und Hreitan, zwei Städte nordwestlich von Aleppo, erklärten Amnesty International, es sei die Strategie der syrischen Regierung, eine gesamte Stadt bzw. Ortschaft zu leeren, indem sie Krankenhäuser und andere wichtige Infrastruktur unter Beschuss nehme. Dadurch solle der Vormarsch der Bodentruppen beschleunigt werden.

Ein Arzt aus Anadan berichtete: "Krankenhäuser sowie die Wasser- und Stromversorgung werden immer zuerst angegriffen. Danach haben die Menschen keine Grundversorgung mehr zum Leben. Genau das ist in Anadan passiert. Mitte Februar war ein großer Teil der Bevölkerung bereits aus der Stadt geflohen, nachdem am 2. Februar 2016 das Feldlazarett und die Klinik angegriffen wurden. Das Feldlazarett ist kaum noch funktionsfähig und die Klinik ist geschlossen. Das Problem ist, dass nicht alle die Stadt verlassen können. Oft bleiben ältere Menschen zurück, die dringend medizinische Versorgung benötigen."

Zivilbevölkerung zur Flucht gezwungen

"Krankenhäuser in Gebieten rund um Aleppo, die sich unter der Kontrolle der Opposition befinden, sind für russische und syrische Regierungstruppen zu einem wichtigen Ziel geworden. Der Beschuss dieser Einrichtungen führt dazu, dass die dort lebende Zivilbevölkerung lebenswichtige Versorgungsleistungen nicht mehr erhält und keine andere Wahl hat als zu fliehen", so Tirana Hassan.

Alle Personen, mit denen Amnesty International gesprochen hat, gaben an, dass es in der Nähe der angegriffenen Krankenhäuser keine Militärfahrzeuge, Kontrollpunkte oder Kampfhandlungen gegeben habe, sondern dass die Einrichtungen ausschließlich ihren humanitären Zweck erfüllten.

Angriffe sind Verstöße gegen das Kriegsrecht

Gezielte Angriffe auf Zivilpersonen, die nicht unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligt sind, sowie auf zivile Objekte wie beispielsweise Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen verstoßen gegen das humanitäre Völkerrecht (auch als Kriegsrecht bekannt) und sind als Kriegsverbrechen zu betrachten. Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen genießen unter dem Kriegsrecht besonderen Schutz gegen Angriffe.

Dieser Schutz ist nur dann aufgehoben, wenn sie zu einem anderen als ihrem humanitären Zweck benutzt werden, um "den Feind schädigende Aktivitäten" durchzuführen, wie zum Beispiel das Lagern von Waffen. Selbst in einem solchen Fall muss eine vorherige Warnung ausgesprochen und eine angemessene Frist festgesetzt werden. Angriffe dürfen erst dann erfolgen, wenn auf diese Warnung nicht reagiert wurde.

Tirana Hassan erklärt: "Wir haben die syrische und russische Regierung in der Vergangenheit wiederholt aufgefordert, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren, und von Russland gefordert, die Angriffe auf Krankenhäuser sowie andere schwere Verstöße glaubwürdig und unabhängig zu untersuchen. Wir fordern, dass alle medizinischen Beschäftigten und alle Gesundheitseinrichtungen geschützt und nicht ins Visier genommen werden. Verletzte und kranke Menschen sitzen an der Grenze zur Türkei fest oder sterben auf syrischem Boden, weil Krankenhäuser im Rahmen der Offensive auf den Norden des Gouvernements Aleppo als vorderstes Frontgebiet angesehen werden. Es gibt keine Entschuldigung für gezielte Angriffe auf Krankenhäuser."

Hintergrundinformationen

Die lokale Monitoring-Gruppe "Syrian Network for Human Rights" berichtet, dass seit September 2015 mindestens 27 Krankenhäuser von russischen oder syrischen Regierungstruppen angegriffen wurden, acht davon im Gouvernement Aleppo.

Die Nichtregierungsorganisation "Syrian American Medical Society" sagte gegenüber Amnesty International, dass seit Dezember 2013 mindestens 13 Krankenhäuser in Aleppo bombardiert worden seien. Eine Klinik sei am 15. Februar von einer Boden-Boden-Rakete getroffen worden. Bei diesen 14 Angriffen kamen offenbar insgesamt vier Angehörige des medizinischen Personals und 45 Zivilpersonen ums Leben.

Laut der Menschenrechtsorganisation "Physicians for Human Rights" wurden seit Ausbruch des Konflikts mindestens 346 Angriffe auf medizinische Einrichtungen verübt und 705 medizinische Beschäftigte getötet. Die meisten dieser Angriffe gingen auf das Konto von syrischen Regierungstruppen und ihren Verbündeten.

Die Untersuchung von Amnesty International konzentrierte sich auf sechs Angriffe, die zwischen Dezember 2015 und Februar 2016 im nördlichen Teil des Gouvernements Aleppo durchgeführt wurden.

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Quelle:
Mitteilung vom 3. März 2016
http://www.amnesty.de/2016/3/3/syrien-gezielte-angriffe-auf-krankenhaeuser?destination=node%2F2817
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2016

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