Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → AMNESTY INTERNATIONAL

NORDAMERIKA/090: Ab nach Albanien (ai journal)


amnesty journal 08/09/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte

Ab nach Albanien
Das Gefangenenlager Guantánamo Bay steht nach sechs Jahren vor dem Aus. Der Oberste Gerichtshof der USA fordert faire Prozesse für die Inhaftierten. Doch selbst wenn sie Recht bekommen - am Ende bleiben hunderte Gefangene übrig, die niemand aufnehmen will.

Von Sumit Bhattacharyya


Seine beiden Kinder hat Maher Rafat al-Quwari seit sieben Jahren nicht mehr gesehen. In dieser Zeit war er ununterbrochen in US-Gefangenschaft, zunächst in Afghanistan, seit nunmehr sechs Jahren im berüchtigten Lager Guantánamo. Sein Problem: Er ist staatenlos.

Al-Quwari wurde im Gazastreifen geboren, seine Eltern zogen in den Südlibanon, starben aber, als er noch minderjährig war. Dadurch erhielt er nie eine Staatsbürgerschaft. Er entschloss sich, das Problem mit Hilfe der UNO in Pakistan zu lösen. Dort angekommen, wurde er festgenommen und an die USA ausgeliefert. Terrorverdächtig ist er längst nicht mehr: Seinen Anwälten wurde schon Anfang 2007 mitgeteilt, dass man ihn gerne freilassen würde. Aber da er staatenlos ist, nimmt ihn kein Land auf.

Al-Quwari ist kein Einzelfall. "Das Thema ist nicht ganz so leicht, wie es auf den ersten Blick aussieht", gibt auch US-Präsident George W. Bush zu.

Ahktar Qassim Basit, Mitglied der muslimischen Minderheit der Uighuren aus China, kam ebenfalls lange nicht frei: "Wir haben in Guantánamo sehr gelitten, doch wir leiden hier weiter. Andere Gefangene hatten ihre Länder, wir haben keinen Ort, wo wir hingehen können", sagte er seinem Anwalt. Schon seit Jahren waren die inhaftierten Uighuren von den USA als harmlos eingestuft worden, allerdings befürchtete man, dass sie bei ihrer Rückkehr nach China gefoltert würden. Albanien, eines der ärmsten Länder Europas, erklärte sich bereit, fünf Uighuren aufzunehmen - 13 weitere sind immer noch inhaftiert, auch nach Meinung der US-Behörden unschuldig, und doch ohne Möglichkeit einer Freilassung.

Damit zeigt sich ein Dilemma, das die US-Administration nicht bedachte, als sie wahllos Menschen nach Guantánamo brachte, die während des "Krieges gegen den Terrorismus", zumeist in Afghanistan und Pakistan, festgenommen worden waren. Die USA selbst lassen keine ehemaligen Guantánamo-Insassen ins Land, und viele der Heimatländer der Gefangenen wollen diese gar nicht mehr aufnehmen. "Einige Länder bestreiten sogar, dass diese Personen ihre Staatsbürger sind", erläutert der Rechtsberater im US-Außenministerium, John Bellinger. Darum verhandeln die USA mit den Ländern um die Rückführung der Gefangenen.

In vielen dieser Staaten ist die Menschenrechtslage katastrophal, Folter und Misshandlungen sind an der Tagesordnung. Die USA fordern daher eine humane Behandlung der Rückkehrer. "Es ist schon ironisch, dass die US-Regierung gegenüber anderen Ländern Bedingungen stellt, die sie für sich selbst in Guantánamo oder Abu Ghreib nicht gelten lässt", kritisierte ein arabischer Diplomat in der "New York Times".

In den letzten Monaten seiner Präsidentschaft erlebt George W. Bush, wie das von ihm geschaffene System Guantánamo in sich zusammenbricht. Die öffentliche Meinung hat sich längst gedreht. Selbst der mehrheitlich von konservativen Richtern besetzte Oberste Gerichtshof der USA urteilte jüngst, dass die auf Kuba Inhaftierten Anspruch auf ein Haftprüfungsverfahren vor ordentlichen amerikanischen Gerichten haben. Dieses Urteil steht am Ende eines langen juristischen Prozesses. Ursprünglich gab es überhaupt keine Haftprüfung, und die US-Regierung befand, dass dies kein Bruch der US-Verfassung sei, da sich das Lager in Kuba und nicht in den USA befinde.

Im Sommer 2004 entschied der Oberste Gerichtshof, dass das Recht auf Haftprüfung sehr wohl auch für Guantánamo-Häftlinge gelte. Die Administration reagierte mit der Einrichtung sogenannter "Combattant Status Review Tribunals", die mit minimalen juristischen Standards die Gefährlichkeit der Insassen feststellen sollen. Dabei haben viele der Inhaftierten keine Anwälte, können die gegen sie vorliegenden Beweise nicht einsehen und keine eigenen Zeugen aufrufen.

Der "Military Commissions Act", der 2006 erlassen wurde, entzog den Gefangenen jede Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit ihrer Haft von ordentlichen US-Gerichten überprüfen zu lassen. "Eine schlechte Praxis wird zu einem schlechten Gesetz", argumentierte Amnesty International damals.

Mitte Juni entschied nun der Oberste Gerichtshof der USA, dass Guantánamo-Gefangene ihre Inhaftierung vor einem US-Zivilgericht anfechten können - was den Insassen bisher verweigert worden war. Das Urteil ebnet nunmehr den Weg zu einer ordentlichen und unabhängigen Justiz. Damit ist dem System Guantánamo - eine rechtliche Grauzone ohne juristische Kontrolle - teilweise die Grundlage entzogen.

Ohnehin wird das Gefangenenlager die nächste Legislaturperiode kaum überleben - beide Präsidentschaftskandidaten haben angekündigt, es schließen zu wollen. John McCain möchte die Gefangenen in den USA vor Gericht stellen, womit der Verfassung Geltung verschafft werden würde. Sein Kontrahent Barack Obama stellt fest: "Unsere Verfassung und die Militärjustiz bieten eine ausreichende Grundlage, um mit Terroristen fertig zu werden."

Das System Guantánamo ist nach sechs Jahren gescheitert. Dem immensen politischen Schaden stehen hunderte Freilassungen und eine Verurteilung zu neun Monaten Haft gegenüber.


*


Quelle:
amnesty journal, August/September 2008, S. 30
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30, E-Mail: info@amnesty.de
Redaktionanschrift: Amnesty International, Redaktion amnesty journal,
Postfach 58 01 61, 10411 Berlin, E-Mail: ai-journal@amnesty.de,
Internet: www.amnesty.de

Das amnesty journal erscheint monatlich.
Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
Nichtmitglieder können das amnesty journal für
30 Euro pro Jahr abonnieren.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2008