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RUSSLAND/054: Rußland blockiert Menschenrechtsgerichtsurteile der EU (ai journal)


amnesty journal 5/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Wachsendes Unbehagen
Die russische Regierung blockiert die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Von Frank Fitzner


Schachid Bassajew war am 2. März 2000 auf dem Weg zur Arbeit, als er in der Nähe von Grosny in eine Militärrazzia geriet. Seine Frau erhielt später ein Video, auf dem zu sehen ist, wie er auf dem Boden liegend von einem Soldaten getreten und dann abgeführt wird. Zudem wurde ihr eine Karte mit dem angeblichen Bestattungsort ihres Mannes zugeschickt. In Russland wurden die Ermittlungen verschleppt, eine Anklageerhebung fand nicht statt.

Rund sieben Jahre später entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass Russland für das Verschwinden von Schachid Bassajew verantwortlich ist. Außerdem habe die russische Regierung den Vorfall nicht ausreichend untersucht, stellten die Straßburger Richter Anfang April fest. Sie sprachen der Ehefrau des Vermissten Schadensersatz in Höhe von 52.000 Euro zu. Es handelt sich um das vierte Urteil des Gerichtshofes wegen des Konflikts in Tschetschenien. Alle zugrunde liegenden Fälle ereigneten sich im Jahr 2000 während des zweiten Tschetschenien-Krieges. Seit 1994 sind dem Konflikt mindestens hunderttausend Menschen zum Opfer gefallen, tausende werden vermisst.

Für Aufsehen sorgte vor allem die erste Entscheidung des Gerichtshofs im Juli vergangenen Jahres. Dabei ging es um den Fall von Chadschi-Murat Jandijew, der während des Tschetschenien-Konflikts "verschwunden" ist. Seine Mutter hatte im Fernsehen gesehen, wie General Alexander Baranow einem Soldaten befahl, ihren Sohn "auszuradieren". Dem General hat diese Veröffentlichung nicht geschadet, im Gegenteil: Inzwischen ist Baranow Oberbefehlshaber der russischen Truppen im Nord-Kaukasus. Ein Urteil im vergangenen Oktober betraf die Ermordung von fünf Mitgliedern der Estamirow-Familie, darunter eine schwangere Frau und ein einjähriger Junge. Insgesamt sind etwa 200 Verfahren, die im Zusammenhang mit dem Tschetschenien-Konflikt stehen, in Straßburg anhängig, etwa die Hälfte betrifft das "Verschwinden" von Menschen.

Russische Politiker drückten wiederholt ihr Missfallen gegenüber den Entscheidungen des Gerichtshofs aus. Präsident Wladimir Putin meinte Anfang dieses Jahres, einige seien politisch motiviert. Die russischen Abgeordneten haben diesem Unbehagen im vergangenen Dezember wirksam Ausdruck verliehen, indem sie in der Duma die Ratifizierung des Protokolls 14 des Europäischen Gerichtshofs mit 226 zu 27 Stimmen ablehnten.

Dieses Zusatzprotokoll besagt unter anderem, dass Mitgliedsstaaten, die die Umsetzung einer Entscheidung verweigern, vor den Gerichtshof gebracht werden können. Zudem soll es der Verfahrensbeschleunigung dienen. Diese ist dringend geboten, denn derzeit laufen 90.000 Verfahren vor dem EGMR. Davon sind über die Hälfte gegen Russland gerichtet. 46 Mitgliedstaaten müssen das Zusatzprotokoll ratifizieren, damit es in Kraft treten kann. Ratifiziert haben es alle, außer Russland.

Die russische Regierung hat das Protokoll 14 zunächst unterzeichnet und dem Parlament empfohlen, es zu ratifizieren. Ausgerechnet diese Abstimmung war einer der wenigen Fälle, in denen das kremltreue Parlament einer Vorgabe der Regierung nicht gefolgt ist.

"Es ist offensichtlich, dass die russischen Autoritäten die Aktivitäten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte blockieren wollen", sagt Karina Moskalenko, eine Rechtsanwältin, die viele russische Kläger vor dem EGMR vertreten hat. Dafür spricht auch die offenherzige Begründung des ultranationalistischen Abgeordneten Wladimir Schirinowsky für seine Ablehnung des Protokolls: "Wir dürfen dieses Dokument nicht ratifizieren, weil wir viele Probleme mit den Menschenrechten haben und sein Inkrafttreten uns nur schaden würde."

Der Autor ist Jurist und Journalist.


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Quelle:
amnesty journal, Mai 2007, S. 18-19
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2007