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RUSSLAND/055: Tscheschenien - Im Feld des Krieges (ai journal)


amnesty journal 5/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Im Feld des Krieges
Sainap Gaschajewa setzt sich seit den neunziger Jahren gegen die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien ein.

Von Rebekka Rust


Es ist ein Leben wie die Inneneinrichtung eines Puppenhauses: liebevoll sortiert, aufgeräumt, die Möbel fein arrangiert. Sainap Gaschajewa ist eine resolute Geschäftsfrau mit einem blühenden Lebensmittelhandel. Sie will das Geschäft ausbauen, Geld verdienen, ihren vier Kindern Wohlstand und Sicherheit bieten. Doch im Jahr 1991 reißt General Dschochar Dudajew die Macht an sich und erklärt Tschetschenien für unabhängig von Russland. Aus Angst vor einer Destabilisierung der Region lässt Boris Jelzin Ende 1994 seine Soldaten in die Kaukasusrepublik einmarschieren. Mit einem Anruf ihres Bruders bricht der Krieg in Gaschajewas geordnetes Leben: "Hast du nicht gehört, dass die Russen Grosny angreifen?" Sie muss sich in einem modrigen Keller verstecken, während russische Soldaten die Stadt bombardieren. Als Gaschajewa nach dem ersten Angriff aus dem Keller kriecht, hat sich etwas in ihr verändert. Sie glaubt nicht mehr an das Leben im Puppenhaus.

Der erste Tschetschenienkrieg dauert 18 Monate. Gaschajewa organisiert Antikriegsdemonstrationen gegen die russische Intervention. Drei Jahre später, 1997, finden Wahlen in Tschetschenien statt, die von der OSZE beaufsichtigt werden. Aslan Maschadow wird Präsident, doch die Situation in der Kaukasusrepublik stabilisiert sich nicht. Im gleichen Jahr gründet Gaschajewa die Organisation "Echo des Krieges", in der russische und tschetschenische Frauen zusammenarbeiten. Während des zweiten Tschetschenienkrieges sprechen sie mit Opfern, filmen und fotografieren die Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung. Ihre Arbeit ist gefährlich. Die russischen Soldaten brechen in Wohnungen ein, suchen nach Foto- und Filmmaterial. Viele Menschen verbrennen ihre Bilder aus Angst, sie könnten falsch ausgelegt werden. "Wir waren in Lebensgefahr", sagt Gaschajewa. Über die Jahre verstecken die Frauen tausende Fotoaufnahmen und hunderte Videokassetten und schmuggeln sie ins Ausland. Dort hält Gaschajewa Vorträge, zeigt die Aufnahmen aus Tschetschenien. Organisationen wie die "Gesellschaft für bedrohte Völker" in der Schweiz, Caritas Frankreich und das Rote Kreuz unterstützen sie finanziell.

Ende der neunziger Jahre wird der Schweizer Regisseur Eric Bergkraut auf die Arbeit der Organisation aufmerksam und dreht den Dokumentarfilm "Coca: die Taube aus Tschetschenien" über Gaschajewa, die von ihren Eltern "Coca" (Taube) genannt wurde. Sie wurde 1953 geboren. Wie viele andere Tschetschenen ihrer Generation in der Verbannung in Kasachstan. 1944 waren die Menschen auf Befehl Stalins deportiert worden und durften erst 1957 wieder nach Tschetschenien zurückkehren.

Bergkrauts Film zeichnet das Bild einer mutigen Frau, die mit einer Handkamera die Opfer des Krieges filmt und interviewt. Im Zentrum des Films steht das Leid der Tschetschenen. Doch der Regisseur wehrt sich gegen den Vorwurf, einseitig die Gräueltaten zu zeigen, die russische Soldaten begangen haben. Er habe versucht, beide Seiten zu verstehen. So zeigt der Film den russischen Justizminister Juri Tschaika. Ihm stellt Bergkraut die Frage, wie er einem Kind in drei Sätzen den Konflikt in Tschetschenien erklären würde. Die Antwort des Ministers: "Ich brauche nur zwei Worte: Internationaler Terrorismus." Bergkraut und Gaschajewa verurteilen diese Sichtweise des Kreml. Sie betonen aber, dass der Krieg auch auf tschetschenischer Seite mit äußerster Grausamkeit geführt wurde.

Gaschajewas Arbeit geht über das Bild, das der Film von ihr zeichnet, hinaus. Sie versucht, die Fronten zwischen Russen und Tschetschenen einzureißen, schickt tschetschenische Kriegswaisen während des Krieges in russische Gastfamilien nach Moskau. "Kapital anlegen für die Zukunft", nennt Gaschajewa das. Die Kinder sollten lernen, dass nicht alle Russen Soldaten sind. "Und nicht alle Tschetschenen Terroristen", fügt sie hinzu.

Auf der Berlinale 2007 wird Gaschajewa mit dem "International Human Rights Film Award" ausgezeichnet. Stolz nimmt sie den Preis entgegen, den ihr Antonio Banderas überreicht. Später sagt sie: "Mir geht es nicht um die Auszeichnung, sondern darum, dass die Welt endlich auf Tschetschenien schaut." Der Krieg in Tschetschenien sei lange unbekannt gewesen - ein Krieg, für den es keine Öffentlichkeit gab.

Sie versinkt in einem breiten Ledersessel, will über sich und über den Krieg berichten. Als sie auf die Gewalt zu sprechen kommt, stockt ihre Stimme. Ihr Bruder sei im Tschetschenienkrieg ermordet worden. Gaschajewa weint, als sie das sagt.

"Im Namen der Terrorismusbekämpfung" beginnt Ende 1999 unter Vladimir Putin der zweite Tschetschenienkrieg. Gaschajewa fährt fort, Videomaterial aus Tschetschenien ins Ausland zu senden. Unterstützt in ihrem Einsatz für die Menschenrechte wird sie von Anna Politkowskaja, die in Moskau für die Tageszeitung "Novaja Gazeta" arbeitet. Regelmäßig informiert sie die Journalistin über die politische Situation in Tschetschenien. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich eine Freundschaft. Als Tschetschenen, deren Dörfer von russischen Einheiten umstellt sind, sie um Hilfe bitten, wendet sich Gaschajewa an Anna Politkowskaja. "Wir sind in die Dörfer gefahren, um mit den Menschen zu sprechen. Anna hat wie besessen alles aufgeschrieben", erzählt Gaschajewa. Die Russen hätten die Kinder entführt, Männer verschleppt, Menschen seien in Erdlöchern gehalten, mit Elektroschocks gefoltert und geschlagen worden. Einige hätten sich mit Geld oder Waffen aus der Folter freikaufen können. "Sainap, ich bin Journalistin", habe Anna Politkowskaja zu ihr gesagt. "Ich muss auch die andere Seite anhören und mit den Russen sprechen." Ihr tschetschenischer Fahrer, dessen zwei Söhne vor seinen Augen umgebracht worden waren, habe sie gebeten: "Geh nicht in die militärische Zone der russischen Besatzer." "Was redet ihr, natürlich geh ich", habe Anna Politkowskaja entgegnet und ihre Aufzeichnungen mitgenommen.

Gaschajewa schweigt, bringt Ordnung in das Chaos ihrer Erinnerungen. Sie habe auf Anna Politkowskaja gewartet. Viele Stunden, die ganze Nacht. "Am nächsten Morgen informierte ich die Novaja Gazeta, dass man sie inhaftiert hat", sagt sie. Nachdem die Zeitung den Fall veröffentlicht habe, sei Anna Politkowskaja freigelassen worden. "Viele der Menschen, die sich Anna anvertraut hatten, wurden erschossen, auch der Fahrer." Gaschajewas Gesicht verzieht sich vor Schmerz. "Das Schreckliche an der Rolle eines Journalisten oder Menschenrechtsverteidigers ist, dass man sich für die Menschen einsetzt, sie aber letztlich nicht schützen kann."

Sie nicht - und sich selbst auch nicht. Anna Politkowskaja wurde am 7. Oktober 2006, am Geburtstag des russischen Präsidenten Putin, ermordet. "Womöglich muss auch ich meine Arbeit mit dem Leben bezahlen", sagt Gaschajewa. "Aber ich möchte für Demokratie in Russland kämpfen. Im Exil kann ich das nicht." Das sei auch der Grund, warum Anna Politkowskaja nicht ins Exil gegangen ist.

"Was wird aus uns, wenn du gehst?" habe ihr Mann einmal zu Gaschajewa gesagt. Ihre Augen glänzen, als sie von ihm spricht. Die beiden sehen sich nur selten. Denn Ramsan Gaschajewa lebt in Inguschetien und züchtet Bienen, während sie zwischen ihrer Wohnung in Moskau und Tschetschenien hin- und herpendelt. Ob sie jemals wieder Zeit füreinander haben werden? Seit 2005 ist der Krieg beendet - doch in der Region herrscht noch lange kein Frieden. Erst im vergangenen Jahr hat Gaschajewa ein Waisenhaus in Grosny eröffnet.


Bildunterschrift:

Sainap "Coca" Gaschajewa, ist Menschenrechtsaktivistin und Leiterin der Organisation "Echo des Krieges". Sie setzt sich für die humanitäre und soziale Situation der Familien und Kriegswaisen in Tschetschenien ein. 2005 erhielt sie den Lew-Kopelew-Preis für ihren mutigen Einsatz für die Menschenrechte. 2006 gründete sie ein Waisenhaus in Grosny.


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Quelle:
amnesty journal, Mai 2007, S. 16
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2007