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SÜDAMERIKA/045: Kolumbien - Friede ohne Rache (ai journal)


amnesty journal 06/07/2014 - Das Magazin für die Menschenrechte

Friede ohne Rache

von Matthias Schreiber



Kolumbien steht vor einem historischen Moment: Seit mehr als 60 Jahren bekämpfen sich paramilitärische Verbände, Guerrilleros, Polizei und Militär. Nun zeichnet sich nach zähen Friedensgesprächen eine Einigung zwischen Regierung und der größten Guerrilla-Gruppe FARC ab.


Juan Manuel Santos Calderón war wütend. Der kolumbianische Präsident hatte gerade grünes Licht vom Verfassungsgericht für ein Gesetz Kabinetts erhalten, das dem Parlament erlaubt, Gefängnisstrafen für Menschenrechtsverbrecher nach einem Friedensschluss mit den FARC komplett auszusetzen. Nun wurde bekannt, dass die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes, Fatou Bensouda, in einem Brief an die obersten Verfassungshüter just diese Klausel als Verstoß gegen internationales Recht kritisiert und indirekt mit einer Intervention Den Haags gedroht hatte. Im Radio polterte Calderón, dass er sich eine Einmischung aus dem Ausland in den nationalen Friedensprozess verbitte.

Das war im September 2013. Mittlerweile hat sich die Aufregung um den Brief aus Den Haag wieder gelegt. An Aktualität hat er nichts eingebüßt. Sollten FARC und Kolumbiens Regierung demnächst tatsächlich Frieden schließen, drängen sich grundsätzliche Fragen auf: Wie umfassend klären die Konfliktparteien die von ihnen begangenen Verbrechen auf? Werden die Täter unter den Guerrillas und bei Polizei, Militär und Paramilitärs zur Rechenschaft gezogen? Schützt der Staat seine Bevölkerung künftig vor neuer Gewalt?

Die Skepsis der Chefanklägerin, dass die Beteiligten den Anspruch der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit nicht allzu ernst nehmen, ist berechtigt. Seit der "Demobilisierung" 2003 legten rund 32.000 Paramilitärs die Waffen nieder - so stellt es zumindest die Regierung dar. Ein vom damaligen Präsident Álvaro Uribe Vélez und seinem Verteidigungsminister Santos 2005 auf den Weg gebrachtes Gesetz 975 sah bei Geständnissen Sondergerichtsverfahren und Haftstrafen von höchstens acht Jahren vor, selbst bei schwersten Menschenrechtsverletzungen.

Bis heute wurden erst 22 Paramilitärs verurteilt, nur 1.700 haben sich überhaupt zu Straftaten bekannt. Nachfolgeorganisationen, geführt von früheren Kommandeuren meist mittleren Ranges, operieren seit 2007 im ganzen Land. Von ihren Vorläufern unterscheiden sie sich allenfalls dem namen nach. Sie verfügen über Tausende Mitglieder, sind militärisch bewaffnet und haben klare Kommandostrukturen. Ihre Interessen verfolgen sie mit altbekannter Brutalität.

Für die Regierung Calderón sind diese "kriminellen Banden", so die offizielle Sprachregelung, kein Teil des Konflikts. Sie werden dem "gewöhnlichen" organisierten Verbrechen zugeordnet. Doch verlängerte die Regierung das Amnestie-Gesetz 975 für die angeblich bereits längst bis Mitte 2012. Noch zurückhaltender verhalten sich die Behörden, wenn es darum geht, Verbrechen von Polizei und Militär aufzuklären: Rund 4.800 Fälle außergerichtlicher Hinrichtungen von Zivilisten, verübt zumeist von Soldaten zwischen 2004 und 2008, liegen derzeit bei der Generalstaatsanwaltschaft vor. Urteile wurden bisher in weniger als 300 Fällen gesprochen.

Gleichzeitig gab sich die Regierung alle Mühe, die Zuständigkeit von Militärgerichten, die eigentlich geringfügige Dienstvergehen von Soldaten sanktionieren sollen, per Gesetz auf Fälle von Menschenrechtsverstößen auszudehnen. Nur das Verfassungsgericht verhinderte im Oktober 2013 eine entsprechende gesetzliche Regelung, weil es Verfahrensfehler bei der Verabschiedung im Parlament feststellte.

Auch der Armee ist kaum an Aufklärung gelegen: Mitte Februar entließ Präsident Calderón den Generalkommandeur der Streitkräfte. Er hatte in einem abgehörten Telefonat zu einem Komplott gegen Staatsanwälte aufgerufen, die wegen zweifachen Mordes gegen einen Oberstleutnant ermittelten. Zuvor hatte die Zeitschrift Semana aufgedeckt, dass Abhörspezialisten der Armee Regierungsvertreter, NGOs und Journalisten während der Friedensgespräche mit Vertretern der Guerrilla auf Kuba bespitzeln. Das Programm startete 2012, kaum ein Jahr nachdem der Inlandsgeheimdienst wegen zahlloser illegaler Überwachungsaktionen komplett aufgelöst worden war.

Immerhin, mit dem Amtsantritt von Präsident Calderón 2010 leugnet die Regierung nicht mehr, dass es einen bewaffneten Konflikt im Land gibt. Ein Forschungszentrum soll ihn nun historisch aufarbeiten. Die Regierung hat zudem mit dem seit 2012 gültigen "Opfer- und Landrückgabe-Gesetz" konkrete Maßnahmen zur Entschädigung der Opfer ergriffen. Die Zivilbevölkerung besser schützen konnte sie nicht: Jedes Jahre werden mehr als 15.000 Menschen ermordet und etwas 250.000 vertrieben. Jene, die geraubtes Land zurückfordern, werden seit Beginn der staatlichen Restitutionsinitiative zunehmend bedroht: Kürzlich räumte die Regierung ein, dass trotz mehr als 900 gerichtlich verfügten Rückgaben nur wenige Familien zurückgekehrt sind. Gleichzeitig sind bei den Behörden mehr als tausend Anträge auf Schutz von Menschen eingegangen, die sich für Landrückgabe einsetzen. Die NGO "Forjando Futuros" dokumentierte in solchen Fällen 64 Morde seit 2008, während die Justiz die Tötung von mehr als 7.000 Vertriebenen untersucht.

Ob ein Friedensschluss zwischen den FARC und der Regierung diese Menschenrechtskrise beendet? Bisher haben sich die Parteien in zwei von sechs Punkten geeinigt. Was genau die Vereinbarungen über eine "umfassende Landreform" und die "politische Teilhabe" ehemaliger Guerrilleros vorsehen, bleibt bis zum Abschluss der Verhandlungen geheim. Die strittigsten Fragen wurden bisher vertagt, etwa wie Menschenrechtsverbrecher der Guerrilla bestraft werden sollen.

Ein Frieden mit den FARC oder der kleineren Guerrilla-Gruppe ELN, mit der die Regierung ebenfalls Gespräche führen will, zerschlägt allerdings nicht die paramilitärischen Verbände im Land. Er entschärft auch nicht den grundlegenden gesellschaftlichen Konflikt, der seit jeher alle bewaffneten Gruppen nährt: Die extreme soziale Ungleichheit; verursacht von den feudalen Herrschaftsverhältnissen und dem Klientelgeflecht aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft in einzelnen Regionen Kolumbiens. Landbewohnern, Behörden sowie nationale und internationale Konzernen streiten sich über die Nutzung besonders rohstoffreicher, fruchtbarer oder zentral gelegener Flächen.

Ob das Land Frieden findet, hängt vor allem davon ab, ob diese Konflikte gelöst werden können. Dafür wäre eine umfassende Untersuchung aller Menschenrechtsverbrechen wichtig.

Ende September 2013 erläuterte Präsident Calderón der UN-Vollversammlung seine Vorstellungen einer Lösung: "Wir können nicht das Ziel haben, jedes einzelne Vergehen, das während eines halben Jahrhundert der Gewalt begangen wurde, zu untersuchen. Und wir können nicht jeden einzelnen Verantwortlichen belangen". Die internationale Gemeinschaft und ihre Institutionen sollten respektieren wie Kolumbien seinen Friedensprozess gestalte.

Angesichts von hunderttausendfachem Mord, Vertreibung, Folter, Vergewaltigung und Verschwindenlassens in mehr als 60 Jahren sind Gerichtssaal und Gefängnis schon aus praktischen Gründen nur bedingt als Ort und Instrument des Aufklärens und Strafens geeignet. Gerichtliche Strafverfolgung auszusetzen, auch Straferlasse für Täter zu gewähren, darf deshalb im Einzelfall kein Tabu sein. Das bedeutet aber auch, dass die Bevölkerung nicht länger Zuschauer im Friedensprozess sein darf, sondern in die Entscheidungen mit einbezogen werden muss. Den Unterhändlern per Internetforum, Konferenzen oder durch runde Tische Vorschläge für ein Abkommen zu machen, über ausgewählte Vertreter auf Kuba Forderungen an sie herantragen oder an der Wahlurne über einen Friedensvertrag abstimmen zu dürfen, ist nicht genug. Für einen Frieden ohne Rache müssen die begangenen Verbrechen aufgeklärt werden.

Mit Kolumbien stellt sich erstmals ein Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofes einem Friedensprozess. Wie es diesen rechtlich ausgestaltet, wird Präzedenzcharakter für kommende Fälle haben. Deshalb steht das Land unter besonderer Beobachtung aus Den Haag. Wie es den Konflikt gesamtgesellschaftlich aufarbeitet, damit kann Kolumbien jenseits dieser juristischen Dimension ebenfalls Maßstäbe setzen.


Der Autor ist Sprecher der Kolumbien-Ländergruppe der deutschen Amnesty-Sektion.

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Quelle:
amnesty journal, Juni/Juli 2014, S. 58-59
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Oktober 2014


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