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AKTION/223: Türkei - Wulff soll beim Staatsbesuch von Gül deutliche Worte sprechen


Presseerklärung vom 16. September 2011

OFFENER BRIEF
an Bundespräsident Christian Wulff

Bitte nehmen Sie kein Blatt vor den Mund:
Fordern Sie vom türkischen Präsidenten deutliches Engagement für die Rechte der Kurden und Christen in der Türkei


Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

am Montag werden Sie den Präsidenten der Republik Türkei Abdullah Gül empfangen. Im Namen der Gesellschaft für bedrohte Völker, aber auch im Namen von 800.000 Kurden und 100.000 Christen aus der Türkei, die in Deutschland leben, bitte ich Sie dringend, bei Ihrer Unterredung nicht nur Höflichkeiten auszutauschen, sondern auch klare Worte zur Menschenrechtslage der Kurden und Christen in der Türkei zu sprechen. Wir appellieren dringend an Sie, den hohen Gast aus Ankara darum zu bitten, sich stärker für eine friedliche und demokratische Lösung der seit der Gründung der Republik Türkei nicht gelösten Kurdenfrage einzusetzen.

Während sich Präsident Gül in Deutschland aufhält, gehen die türkische Luftwaffe und Bodentruppen unvermindert hart gegen die kurdische Zivibevölkerung in der Türkei und im Irak vor. Wir erinnern nur an die Tragödie der irakisch-kurdischen Familie Hasan, die sich am 21. August bei dem Dorf Golle im iranisch-irakischen Grenzgebiet in zwei Autos in Sicherheit bringen wollte, jedoch durch einen türkischen Luftangriff ausgelöscht wurde: Hasan Mustafa Hasan (Vater), Mer Haci Mam (Mutter), Rezan Hussein Mustafa (34 Jahre), Oskar Hussein (10 Jahre), Sonya Shemal Hasan (4 Jahre), Solin Shemal Hasan (6 Monate) und Zana Hussein Mustafa (11 Jahre).

Die Bekämpfung der verbotenen kurdischen Rebellenorganisation PKK und deren Anschläge auf türkische Sicherheitskräfte dürfen nicht länger als Grund für den andauernden bewaffneten Konflikt mit den mehr als 15 Mio. Kurden in der Türkei hingenommen werden. Ein Ende der Gewalt auf beiden Seiten ist unaufschiebbar. Dieser Konflikt, der seit mehr als 27 Jahren mindestens 45.000 Opfer, Kurden und Türken, gefordert hat, kann keine Seite gewinnen, weder das türkische Militär noch die PKK.

Das Schicksal von rund 17.000 Kurden, die während des Bürgerkrieges in Südostanatolien verschleppt und ermordet wurden, ist noch immer nicht aufgeklärt. Erst in jüngerer Zeit wurden Augenzeugenberichte ausgewertet und bereits 120 Massengräber mit den Leichen von mehr als 1.500 Menschen lokalisiert. Sie zeugen von der Grausamkeit und den Kriegsverbrechen an der kurdischen Bevölkerung durch die türkische Armee und Polizei. Seit mehr als zehn Jahren bemühen sich die Samstags- und Friedensmütter, Menschenrechtsvereine und Angehörigenorganisationen unter schwersten Bedingungen um eine Aufklärung der Morde der türkischen Armee in den Regionen Siirt, Bitlis, Diyarbakir, Van, Batman, Hakkari, Bingöl, Sirnak, Mardin, Elazig, Agri, Dersim, Igdir und Antep.

Auch das seit Oktober 2010 in der Türkei andauernde sogenannte KCK-Verfahren ist ein politischer und juristischer Skandal. Das Verfahren ist der größte Massenprozess seit dem Militärputsch in der Türkei von 1980 gegen kurdische Politiker, Parlamentarier, Bürgermeister, Journalisten und Menschenrechtler und richtet sich so gegen die gesamte kurdische Zivilgesellschaft. Seit Beginn einer Verhaftungswelle im April 2009 sind inzwischen nahezu 2000 Kurden in türkischen Gefängnissen inhaftiert, allein weil sie beispielsweise an Kundgebungen teilgenommen, Reden gehalten oder ihrer journalistischen Arbeit nachgegangen sind. Der Fortgang dieses Massenprozess ist für viele ein Gradmessen dafür, ob der türkische Staat bereit ist, die kurdische Frage friedlich zu lösen. Die türkische Justiz hat sich bereits deutlich positioniert: Den Angeklagten wurde verboten, im Gericht kurdisch zu sprechen.

Auch die 100.000 in Deutschland lebenden christlichen Assyro-Aramäer aus der Türkei setzen große Hoffnung in Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident. Bitte fordern Sie Präsident Gül dazu auf, sich für die Wahrung des Landbesitzes des Klosters Mor Gabriel einzusetzen. Die Gerichtsverfahren mit denen Mor Gabriel um große Teile seiner Ländereien gebracht werden soll, müssen eingestellt werden. Das Kloster ist das Zentrum der in der Türkei verbliebenen syrisch-orthodoxen Christen. Jegliche religiöse und ethnische Diskriminierung von Christen in der Türkei muss endlich beendet werden.

Mit herzlichem Gruß

Tilman Zülch


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Quelle:
Presseerklärung Göttingen, den 16. September 2011
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen
Tel.: 0551/49906-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2011