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EUROPA/546: Offener Brief - Erdogan tritt Menschenrechte mit Füßen und hat Steiger Award nicht verdient


Presseerklärung vom 15. März 2012

OFFENER BRIEF
an die Oberbürgermeisterin der Stadt Bochum Frau Dr. Scholz

Erdogan tritt Menschenrechte mit Füßen und hat den Steiger Award nicht verdient!


Sehr geehrte Frau Dr. Scholz,

am 17.03.2012 soll zum 8. Mal der Steiger Award an eine Persönlichkeit verliehen werden, die sich durch Geradlinigkeit, Offenheit, Menschlichkeit und Toleranz auszeichnet.

Sie haben sich dafür entschieden, dieses Jahr den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan auszuzeichnen. Im Namen der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) fordere ich Sie dringend dazu auf, diese Entscheidung zu revidieren. Eine Verleihung an Erdogan, der für massive Menschenrechtsverletzungen in der Türkei verantwortlich ist, ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der Opfer von willkürlicher Haft und Folter in der Türkei, sondern schadet dem Renommee Ihres Preises auch nachhaltig.

Seit 2009 hält die Verhaftungswelle in der Türkei an, die sich gezielt gegen kurdische Journalisten, Politiker, Menschenrechtler und Oppositionelle richtet. Im Moment befinden sich 103 Journalisten, 13 Mitglieder und Führungskräfte der türkischen Menschenrechtsorganisation IHD, 52 Führungspersonen der KESK Handelsgewerkschaft und tausende Mitglieder der demokratischen kurdischen Partei BDP in Untersuchungshaft. Ohne jegliche Beweise wird ihnen vorgeworfen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK anzugehören oder das Türkentum abzuwerten.

Das Anti-Terror Gesetz dient der türkischen Regierung als Grundlage für die massive Einschränkung der Pressefreiheit. Öffentliche pro-kurdische Äußerungen, unter anderem auf friedlichen Demonstrationen der Oppositionellen, stellen für die Justiz eine häufige Verhaftungsgrundlage dar.

In den vergangenen Tagen wurde zudem bekannt, dass in den Jahren 2006 bis 2010 mehr als 4000 kurdische Jugendliche verurteilt wurden. Den Zwölf- bis Siebzehnjährigen wurde vorgeworfen, sich auf einer Demonstration pro-kurdisch geäußert bzw. Steine geworfen zu haben. Kinder die freigelassen wurden, berichteten von Folter und Misshandlungen. Immer noch befinden sich tausende Kinder und Jugendliche als "Terroristen" verurteilt in türkischen Gefängnissen. Sie sind häufig ungeschützt der Willkür von Justizbeamten und erwachsenen Mithäftlingen ausgeliefert. Bereits seit 2011 war den Behörden die Situation bekannt. Sie blieben jedoch untätig.

Trotz der Ankündigung Erdogans sich weiter intensiv für die Gleichberechtigung und den Schutz der Identität aller in der Türkei lebenden Volksgruppen einzusetzen, leiden muslimische und yezidische Kurden sowie christliche Assyro-Aramäer immer noch unter direkter und indirekter Diskriminierung, Verfolgung und Gewalt.

Ihr Preis soll herausragende Leistungen und Engagement auszeichnen. Er setzt Zeichen und verleiht Anerkennung. Ein Regierungschef, der schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch das Anti-Terrorgesetz legitimiert, darf nicht ermutigt werden, die grundlegenden Rechte seiner Bürger weiterhin mit Füßen zu treten.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker appelliert an Sie, unabhängig und kritisch die Nominierungsvoraussetzungen zu prüfen. Als Vorbild könnte Ihnen die Entscheidung des Quadriga-Kuratoriums von 2011 dienen, das die umstrittene Ehrung des nominierten russischen Regierungschefs Wladimir Putins zurückgezogen hat.


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Quelle:
Bochum/Göttingen, den 15. März 2012
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen
Tel.: 0551/49906-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. März 2012