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EUROPA/572: Versachlichung der Flüchtlingsdiskussion dringend notwendig


Presseerklärung vom 9. Oktober 2013

Versachlichung der Flüchtlingsdiskussion dringend notwendig

GfbV warnt Innenminister Friedrich vor Populismus



Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) fordert Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich auf, in der aktuellen Diskussion um die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland sachlich zu bleiben. "Die meisten Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl beantragen, stammen aus der Russischen Föderation. Allein seit Januar 2013 sind 13.492 russische Staatsbürger, zumeist aus der Teilrepublik Tschetschenien, in Deutschland angekommen. Das sind keine Armutsflüchtlinge, Herr Minister!", schreibt die Menschenrechtsorganisation in einem Brief an Friedrich am 9. Oktober 2013. Im Wahlkampf habe Friedrich Ängste geschürt, unter den tschetschenischen Flüchtlingen befänden sich Terroristen, anstatt sachlich die Ursachen des Anstiegs der Zahlen zu analysieren. Mit diesem Populismus leiste Friedrich der inhumanen Behandlung vieler Flüchtlinge Vorschub, warf die Menschenrechtsorganisation dem Bundesinnenminister vor.

Die GfbV kritisiert besonders das Dublin II-Verfahren, an dem Friedrich und andere EU-Innenminister trotz der Katastrophe von Lampedusa festhalten. Es sieht vor, dass alle Flüchtlinge im ersten Einreiseland in der EU ihren Asylantrag stellen müssen. Gerade in den letzten Monaten habe die GfbV mit vielen erschreckenden Fällen zu tun gehabt. Familien wurden auseinander gerissen, schwer kranken und traumatisierten Flüchtlingen eine angemessene Versorgung versagt. Die Flüchtlinge werden zwischen Polen, dem EU-Staat, über den die meisten von ihnen nach Deutschland einreisen, und Deutschland mehrmals hin und her geschoben.

In ihrem Brief stellt die Menschenrechtsorganisation beispielhaft den aktuellen Fall einer nach Deutschland aus Polen eingereisten Familie dar, die im September 2013 wieder zurück nach Polen geschoben wurde. Der Familienvater ist schwer an Hepatitis C erkrankt. Die deutschen Behörden argumentierten, er könne in Polen medizinisch versorgt werden, diese Versorgung werde sofort beginnen und setzten die Abschiebung durch. Nun wird die fünfköpfige Familie schon sechs Wochen lang in einer Zelle in einer geschlossenen Anstalt in Polen festgehalten. Die Ansteckungsgefahr für die Kinder ist hoch. Der Vater erhielt keinerlei medizinische Behandlung. Per Gericht muss nun erstritten werden, dass die Familie die geschlossene Einrichtung verlassen und die medizinische Behandlung beginnen kann. Menschenrechtsorganisationen in Polen setzten sich dafür ein, dass die Familie wieder zurück nach Deutschland kommen und dort ein Asylverfahren durchführen kann.

Die GfbV sieht mehrere Ursachen für den Anstieg der Flüchtlingszahlen aus Russland. "Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus und besonders in Tschetschenien bleibt katastrophal. Die Bundesregierung sollte sich in viel stärkerem Maß als bislang mit dieser Thematik befassen und sich offensiv für die Einhaltung der Menschenrechte und die konsequente Strafverfolgung der Täter einsetzen", fordert Sarah Reinke, die GfbV-Referentin für die GUS-Staaten.

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Anhang:

Ursachen für die hohe Zahl an Flüchtlingen aus der Russischen Föderation, insbesondere aus Tschetschenien:

1. Die Menschenrechtslage in Tschetschenien bleibt anhaltend schlecht und die Bevölkerung sieht keine Perspektive, die eine Verbesserung herbeiführen würde. In vielen Gesprächen und Interviews mit Flüchtlingen wurde deutlich, dass Verfolgung, Drangsalierung und Willkür oft schon Jahre anhalten. Zum Beispiel war jemand schon während des ersten Krieges (1994-1996) verhaftet, versuchte dann in der Zwischenkriegszeit (1996-1999), sich wieder ein normales, sicheres Leben aufzubauen. Dann kam der zweite Krieg (1999-2009). Hier wurde die Person zum Flüchtling oder verhaftet und vom Sicherheitsdienst des tschetschenischen Präsidenten Ramzan Kadyrow gefoltert. Häufig sehen die Menschen, gerade auch Familien mit Kindern, in dieser Situation außer der Flucht keinen anderen Ausweg mehr.

2. Auch die soziale und wirtschaftliche Situation in Tschetschenien lässt die Menschen nicht auf Verbesserung hoffen. Nach Aussagen von Ekaterina Sorjanskaja von der International Crisis Group ist gerade die medizinische Versorgung in den letzten Monaten schlechter geworden. Es fehlt akut an gut ausgebildetem medizinischem Personal. Die Arbeitslosigkeit soll entgegen offiziellen Angaben mit bis zu 80% sehr hoch sein. Nach dem Ende des ersten Baubooms, der zum Wiederaufbau auch der vollkommen zerstörten Hauptstadt Grosny geführt hat, finden immer weniger Personen hier Arbeit.

3. Im Februar 2014 werden die Olympischen Winterspiele in Sotschi eröffnet. Im Vorfeld gab es sowohl Terrordrohungen gegen die Spiele als auch einen erhöhten Druck auf die Zivilbevölkerung. Mit großer Brutalität gehen offizielle Sicherheitsorgane vor, um Proteste und mögliche Terrorangriffe zu verhindern.

4. Seit Anfang des Jahres kursiert in Tschetschenien ein Gerücht. Es besagt, dass Deutschland eine große Zahl (bis zu 40.000) Tschetschenen aufnehmen und diesen Geld und Land zur Verfügung stellen würde. Es ist unklar, wie wirkungsstark dieses Gerücht war und ist. Es muss angenommen werden, dass auch dieses Gerücht, Menschen angelockt hat. Als Konsequenz haben mehrere Menschenrechtsorganisationen und Einzelpersonen versucht, Informationen über die realen Verhältnisse in Deutschland in Tschetschenien zu verbreiten.

5. Nachdem der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew den Anti-Terror-Kampf in Tschetschenien für beendet erklärt hat, ist seit dem Jahr 2009 die Anerkennungsquote für tschetschenische Asylsuchende in einigen EU-Staaten zurückgegangen. Flüchtlinge werden teils auch in die Russische Föderation abgeschoben und es gibt z.B. in Österreich ein mit der IOM (International Organisation for Migration) organisiertes Rückkehrer-Programm. Aber auch aus Belgien, Norwegen und Frankreich wird in die Russische Föderation abgeschoben. Auch daher sehen die tschetschenischen Flüchtlinge in Deutschland eher Chancen auf eine Anerkennung ihres Asylgesuchs.

6. In einigen Fällen ist es gelungen, das Schicksal der abgeschobenen oder auch freiwillig zurückgekehrten Flüchtlinge in die Russische Föderation nach zu verfolgen und zu dokumentieren. Dabei wurden folgende schwerwiegende Probleme festgestellt:

  • Die Behörden und auch Nachbarn, Bekannte etc. gehen davon aus, dass ein Flüchtling, wenn er in Deutschland war, Geld hat bzw. Geld für die Rückkehr bekommen hat. Das führt dazu, dass die Betroffenen teils erpresst werden oder Opfer von Entführungen werden, um ein Lösegeld zu erpressen. Die Rückkehrer werden systematisch vom Geheimdienst verhört. Mit wem haben sie in Deutschland Kontakt gehabt? Weshalb sind sie geflohen? Hatten sie Kontakt zu politisch aktiven Tschetschenen? Was haben sie in Deutschland als Fluchtgründe angegeben? Oftmals versucht der Geheimdienst, sie zu einer Zusammenarbeit zu bewegen und Informationen über Angehörige und Bekannte mitzuteilen.
  • Dokumentiert wurden auch Fälle von Folter, Entführungen, wiederkehrenden Verhaftungen und Verhören auch von Familienmitgliedern.
  • Wenn die Tschetschenen nicht nach Tschetschenien zurückkehren, sondern versuchen, sich in anderen Teilen der Russischen Föderation eine Existenz aufzubauen, werden sie Opfer von massiver Fremdenfeindlichkeit. So werden sogar mit gefälschten Papieren Anklagen gegen sie konstruiert. Es gelingt ihnen häufig nicht, sich ordnungsgemäß registrieren zu lassen. Von Behörden, Vermietern und der Polizei werden die Kaukasier aufgrund ihrer ethnischen Abstammung diskriminiert.

7. Polen ist für die meisten tschetschenischen Flüchtlinge der erste EU-Staat, den sie betreten. Polen wird von den tschetschenischen Flüchtlingen jedoch als "Transitstaat" angesehen. Dafür gibt es mehrere Ursachen: Polen erscheint den Tschetschenen noch zu nah der Russischen Föderation. Es gibt Gerüchte über die Zusammenarbeit zwischen polnischem und russischem Geheimdienst. Die wirtschaftliche Situation in Polen und die Perspektive dort ein finanziell abgesichertes Leben aufbauen zu können, ist schlechter als in Deutschland.

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Quelle:
Presseerklärung Göttingen, den 9. Oktober 2013
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen
Telefon: 0551/499 06-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2013